Die Linke: Spaltung, Schuldfrage und Kandidatinnen-Casting

Sieht einen "heißen Herbst" kommen: Ulrike Guérot. Foto: Karl Gruber / CC-BY-SA-4.0

Offenbar laufen längst Vorbereitungen für eine Neugründung rund um Wagenknecht. Manche ihrer Anhänger scheinen davon nichts zu wissen. Eine Personalie könnte aber einen Nerv treffen.

Sahra Wagenknechts mutmaßliche Parteineugründung sorgt weiter für Gesprächsstoff. Verbündete in ihrer Noch-Partei Die Linke werfen den Kritikern der Ex-Fraktionschefin vor, treibende Kraft der offensichtlich bevorstehenden Spaltung zu sein – während Wagenknecht selbst nach Medienberichten schon Personal für eine Neugründung rekrutiert, um eine Kandidatenliste für die Europawahl zusammenzustellen.

Eine der möglichen Kandidatinnen ist die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die bis zur Corona-Krise vor allem als Gründerin und Direktorin des "European Democracy Lab" an der European School of Governance bekannt war. Demonstrationen mit EU-Fahnen unter dem Motto "Pulse of Europe" fand sie 2017 noch "großartig", wenn auch inhaltlich etwas undifferenziert.

Bei wem Guérot in Ungnade fiel und bei wem das gut ankommt

Was bei Wagenknechts Zielgruppe besser ankommen dürfte als Guérots Engagement "für Europa", ist, dass sie sich dann auch als Kritikerin der staatlichen Corona-Maßnahmen in Deutschland einen Namen gemacht hat. Für staatstragende Linksliberale ist sie seither so etwas wie ein gefallener Engel, an dem sie kein gutes Haar mehr lassen können. Insofern eignet sie sich perfekt als Kandidatin für eine Zielgruppe, die mit ihrer Wahlentscheidung Protest gegen die Regierung ausdrücken will, der aber die AfD zu rechts und Die Linke zu "woke" oder mutmaßlich zu nah an den staatstragenden Linksliberalen ist.

Laut einem Bericht des Magazins Cicero "verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Wagenknecht demnächst die Gründung ihrer Partei bekannt geben wird". Das wird unter anderem daran festgemacht, "dass bereits potenzielle Kandidaten für die Europawahl im Jahre 2024 gesammelt werden". Namentlich Ulrike Guérot soll gegenüber Cicero bestätigt haben, dass sie sich mit Wagenknecht seit geraumer Zeit in Gesprächen befinde - und von ihr und zuvor auch von anderen gefragt worden, ob sie für eine Kandidatur für das EU-Parlament bereit stünde.

Guérot selbst verlinkte den Artikel am Sonntag in ihrem Profil bei dem Kurzbotschaftendienst X (ehemals Twitter) und schrieb dazu:

Egal wie das Wetter wird – es steht ein "heißer Herbst" bevor…
Ulrike Guérot

Allzu gut koordiniert wirkt die Medienarbeit des "Wagenknecht-Lagers" allerdings nicht. Denn während schon mögliche Kandidatinnen einer neuen Partei in der Öffentlichkeit stehen, die schon vor "geraumer Zeit" angesprochen wurden, wollen sich andere Protagonisten dieses Lagers angeblich gar nicht von der Partei Die Linke trennen. Ihnen zufolge geht die Spaltung in allererster Linie von der anderen Seite aus.

Harte Vorwürfe gegen "Teile des Apparats"

Julian Eder, Sprecher der LAG "Linksrum" im hessischen Landesverband von Die Linke, verteidigte Wagenknecht gegenüber der Tageszeitung junge Welt (Wochenendausgabe). Die Zerstörung der Partei geht demnach auf das Konto ihrer Kritiker. "Teile des Apparats" beziehungsweise ein "Funktionärs- und Stiftungsmilieu" wollten sie loswerden, weil sie glaubten, "dass, wenn Wagenknecht weg ist, noch mehr Posten, Regierungsbeteiligungen und so weiter drin sind". Subtext: Die sind doch alle korrupt, wir sind der eigentlich linke Flügel.

Dazu gehört auch, dass nach Kräften versucht wird, den Vorwurf der vorsätzlichen Spaltung ausschließlich gegen das Wagenknecht-Lager zu richten. Aber diese Leute demaskieren sich mehr und mehr, weil sie jetzt alle Initiativen bekämpfen, die Partei doch noch zusammenzuhalten.


Julian Eder, Sprecher der LAG "Linksrum" im hessischen Landesverband von Die Linke

Wagenknecht sei mit ihrer Orientierung auf die sogenannten kleinen Leute in "diesem grün-alternativ-liberalen Milieu regelrecht verhasst", so Eder. Der maßgeblich durch sie repräsentierte Flügel sei auch außen- und friedenspolitisch "im Weg", weil das besagte Milieu kein grundsätzliches Problem mit der EU und mit der Nato, habe – im Gegenteil.

Dies dürfte aber höchstens auf einen Teil der bisherigen Linkspartei-Mitglieder zutreffen, für die es nicht in Frage kommt, sich an einer Neugründung von und mit Wagenknecht zu beteiligen. Andere haben sowohl mit Nato und EU ein grundsätzliches Problem, als auch mit dem Standort-Deutschland-Denken des Wagenknecht-Lagers.

Manche verteidigten zwar dessen antimilitaristische Positionen gegen den Vorwurf der "Putin-Versteherei", würden sich Wagenknecht und Co. aber niemals anschließen, wenn es um Klimaschutz oder Migrationspolitik geht. Mit der Klimakatastrophe will Wagenknecht ihrer Zielgruppe offensichtlich nicht auf den Wecker gehen. In ihrer "Vision für Deutschland", die sie in der konservativen Schweizer Weltwoche veröffentlichte, kommt das Problem als solches nicht vor – problematisiert werden eher radikale Protestmethoden der "Klimakleber" gegen den Bummelstreik der Regierenden in Sachen Klimaschutz.

Wagenknecht lässt keinen Zweifel daran, dass sie erst einmal auf der alten Grundlage fossiler Industrien den Wirtschaftsstandort Deutschland retten will – ökologischer Kollaps hin oder her. Die Zeit scheint diesbezüglich ihrer Meinung nach nicht zu drängen. Das sehen die Vereinten Nationen, der Weltklimarat und das Bundesverfassungsgericht bekanntlich anders; ebenso wie das Gros der jüngeren Linken.

Klimaschutz und Nato-Kritik: Bleibt diese Kombination im Angebot?

Die Verbindung von effektivem Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit ist die "Marktlücke", die der Parteivorstand der Linken besetzen will – dazu hat er vor einigen Tagen ein Sofortprogramm veröffentlicht.

Beim moralischen Dilemma der Waffenlieferungen an die Ukraine scheint sich der Vorstand aber nicht aus dem Fenster lehnen zu wollen. Das ist es, was ihm Teile des Wagenknecht-Lagers vorwerfen, neben der angeblichen Vernachlässigung der sozialen Frage. Die Ko-Parteichefin Janine Wissler spricht sich vorzugsweise "nur" gegen immer mehr und immer schwerere Waffen aus.

Das Netzwerk "Progressive Linke", zu dem einige der schärfsten Wagenknecht-Kritiker zählen, will diesbezüglich wohl sogar das Erfurter Grundsatzprogramm der Partei modifizieren und forderte in einer Resolution zum Ukraine-Krieg eine "streitbare Auseinandersetzung über die Frage... wie wir zu Waffenlieferungen stehen".

Einige, nicht nur ausgemachte Wagenknecht-Fans, befürchten wegen entsprechender Anträge einen Dammbruch und innerhalb weniger Jahre eine Entwicklung wie bei den Grünen, von deren friedenspolitischen Idealen heute nichts mehr übrig ist.

Sollten sich die Befürchtungen antimilitaristischer Kräfte in der Linkspartei bestätigen, droht all jenen die politische Heimatlosigkeit, die sowohl die Nato und ihre Aufrüstungsziele als auch den allgemeinen Raubkrieg des fossilen Kapitalismus gegen die Natur ablehnen. Letzteren nämlich nimmt eher Wagenknecht auf die leichte Schulter.