Die Lust am Wort

Monika Rinck und die Modernität der Dichtung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Deutschland sucht den Superstar, das ist bekannt, aber es sucht nicht nach den aktuellen Exponenten der Moderne in der Literatur. Das war mal anders; in den Sechzigern, in den Siebzigern, ja bis in die Achtziger hinein galt Modernität als Gütesiegel für Gestaltungsanstrengungen aller Art, auch in der Literatur. Die Frage nach der Moderne bedeutete etwas, vielleicht bedeutete sogar die Literatur etwas.

Man kann die Entwicklung in dieser Hinsicht als Stagnation, ja Regression deuten, aber ehrlich gesagt: Das rituelle Gestocher nach dem "Modernen" (als Fetisch verstanden) und manche Sackgassen der Modernität (zum Beispiel die Konkrete Poesie) waren auch ungeheuer nervig. Und manchmal wächst ja in aufgelassenen Gärten unversehens etwas, was die Gärtner dort gar nicht geplant hatten, sucht sich selbst sein Grundwasser, seinen Standort, seine Nährstoffe, sein Biotop. So ein Gewächs ist die Dichterin Monika Rinck.

Monika Rinck, 1969 in Zweibrücken geboren, Studium der Religionswissenschaft, der Geschichte und der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bochum, Berlin und Yale. Bisher hauptsächlich drei Bücher - zwei Gedichtbände und ein Monstrum, das sich "Ah, das Love-Ding!" nennt. Dazu später mehr. Dichterin? Muss man immer gleich in die Vollen greifen? Würde "Schriftstellerin" nicht reichen? Das Problem ist, dass Monika Rinck einen Umgang mit der Sprache pflegt, der eine andere Berufsbezeichnung unmöglich macht. Sie hat zu wenig Abstand zum Material der Sprache, um keine Dichterin zu sein; selbst wenn sie Prosa schreibt, ist sie Dichterin und keine Erzählerin.

Die Nichtsnutzigkeit der Wörter

Ernsthaft mit Sprache arbeiten viele; entgegen der ewigen Feuilleton-Klage vom Ende der Poesie ist die deutschsprachige Dichtung derzeit ziemlich lebendig, selbst wenn das Publikum so klein bleibt wie eh und je. Nun gut, aber was macht nun ihre Modernität aus? Monika Rinck setzt mit großer Konsequenz auf ein seltenes Pferd. Es ist nicht die Flucht in die Formstrenge, einen überzeitlichen Klassizismus, der heute so modern zu sein behauptet wie vor hundert Jahren.

Es sind keine Gefühlseruptionen, die früher oder später beim Expressionismus landen, es ist kein Dada, keine math poetry, es sind keine Spielereien nach Art der Konkreten (obwohl - Einflüsse werden immer gern genommen). Monika Rinck setzt erstens auf die Fehlbarkeit der Sprache, auf die quälende, nie vollkommene Nichtsnutzigkeit der Wörter, und sie besteht darauf, dass nur in der Erforschung genau dieses Mangels die richtige Gestalt der verfehlten menschlichen Existenz aufscheint.

Zudem sollte man ernst nehmen, dass sie einmal Religionswissenschaft studiert hat. Nicht nur ist der Titel ihres Gedichtbands "zum fernbleiben der umarmung", der wie aus den Siebzigern herkommt, in Wirklichkeit eine Bibelreferenz. Sie gehört auch insgesamt zu einer Klasse von Religionswissenschaftlern, die sich weder in der kleinteiligen Korinthenkackerei verlieren noch den Religionen auf den Leim gehen, aber auch nicht zu weit von ihnen entfernt sind, um zu begreifen, wie die Religionen das menschliche Begehren formulieren. ("Begehren", ohnehin eines der Stichwörter von Frau Rinck.)

Religionswissenschaftler tendieren zur Bildungsanstrengung. An der dauerhaften Beschäftigung mit dem Unverständlichen kann man dumm oder klug werden, Monika Rinck hat die zweite Option gewählt. Sie ist klug, aber nicht nach Art eines Bildungshubers, der das vor Publikum immer beweisen muss. Was sie mit leichter Hand an Spezialwissen in ihren Texten verteilt, hat nicht den Zweck, ihre Souveränität zu beweisen, sondern das Gegenteil.

Wie alle wirklichen Modernen ist sie auch nervös. Man muss nur hören, wie sie davon spricht, dass ihre beruflichen oder privaten Reisen sie gar allzu sehr auflockern können, dass die Welt sie zu sehr durchweht, wenn’s zu viel wird, und man sieht, dass hier jemand mit einem ungewöhnlich feinfühligen Sensorium unterwegs ist - mit solchen Nerven ausgestattet im emphatischen Sinn etwas über all die Disparatheiten zu sagen, die die Welt ausmachen, das ist nun einmal die Arbeit des Dichters. Klug, nervös, beweglich, nicht auf Souveränität aus - was noch?

Verbale Gerichtsmedizin

Hat Monika Rinck außer der poetischen ein Agenda, eine Ideologie gar? Wie steht’s denn mit der Gesellschaftskritik - war ja immerhin auch mal ein Merkmal von Modernität? Nun, da ist zunächst zu sagen, dass eine bestimmte Form von Gesellschaftskritik (Wallraff und der Böllgrass) erledigt war, als sie zum Schulthema wurde, und Monika Rinck hat nicht die geringste Lust, auf diese Art erledigt zu sein. Also Verweigerung, l’art pour l’art, Ästhetizismus? Von wegen.

Über Machtstrukturen weiß sie so gut Bescheid wie nur irgendeiner. Wenn ihr Gedicht "Der letzte Tag im Süden" anfängt mit "Wir werden dir ein Mittel spritzen", und wenn sie das auch noch auf eine unnachahmliche Art vorliest, die mit dem brutalen Geflöte von HAL in "2001 - Odyssee im Weltraum" jederzeit konkurrieren könnte, und wenn dieses Gedicht endet mit "und vor der Türe stehen sie schon, / die schuhe, die wir haben, / die säcke mit dem müll und der passat" - dann ist das Ende eines Urlaubs so deutlich als Zementierung des vergeigten Alltags hingestellt, wie das mithilfe einer Sozialstatistik zu Krankenständen, Überstunden und Urlaubszeiten kaum gelungen wäre.

Ein Name, der dann doch mehrfach fällt, ist der von Max Weber. Adornoanhänger, die sich dem sprachlichen Gestus des Vorbilds zu sehr annähern, hat sie gefressen, und man kann aus ihrem Gedicht "california dreaming" große Skepsis gegenüber der kritischen Theorie herauslesen. Eine moderne Liberale also, die per Gedicht endgültig Schluss machen möchte mit den Nachwehen des Neomarxismus? Ach nein, ach nein, so funktioniert das alles einfach nicht.

Schwer vorstellbar, dass Herr Westerwelle mit den Texten von Monika Rinck viel anfangen könnte - ein bis zum Anarchismus gesteigerter Liberalismus, der uns arme Menschen in ihrem Leid an Kultur und Natur so ernst nimmt, ist ganz sicher nicht sein Ding. Modernität: Da wären noch die ausgedehnten Internetaktivitäten von Monika Rinck. Seit 1996 betreibt sie schon ihr "Begriffsstudio" , ein Blog als verbale Gerichtsmedizin für alles, was der Sprachstrom und die Zuträger unter den Lesern so anschwemmen.

Wo es Rohmaterial gibt, Hobelspäne, Schlamm; eine Langzeit-Werkstatt ohne Werkintention - wenn auch 2001 die ersten 1000 Fundstücke zu einem Anti-Werk versammelt wurden. In der sich die Dichterin die Finger schmutzig macht, so dass Spuren davon in ihrem Werk auftauchen, aber nur Spuren (s. Einflüsse), keine Knetmännchen, die aus den besten Resten im Begriffsstudio zusammengehudelt wurden. Dieses Material - das Werk hat es in sich.

Was kommt heraus? Gedichte wie "Was der Hund sieht", die Analyse einer Mensch-Haustier-Beziehung, nach der man sich ganz gut vermöbelt vorkommen kann: "konvex und bedröppelt lahmt / der verprügelte hund zum ewigen frieden, oder wie / heißt das, wo haushaltsgeräte zum sterben hingehen." Oder geht es hier wirklich um Frauchen und Hund, oder nicht etwa um etwas ganz Anderes? Romantisch glotzen ist hier auf jeden Fall nur für komplett Merkbefreite möglich. Das gilt auch für verzweifelte Daseinsanpflaumungen wie "WAS MACHEN DIE FRAUEN AM SONNTAG?", die aus dem Off mit einer fast Brinkmannschen Härte aufwarten.

"Ah, das Love-Ding!"

Der Beat, der da geklopft wird, der einem da eingedengelt wird, ist so synkopiert, spielt mit so vielen Rhythmen, hat so viele Tricks drauf, dass man sich immer wieder fragt: "Wie macht sie das eigentlich?" Wie verspottet sie beispielsweise in "cowboyhandwerk" den Western und in "raumfahrt" die Science Fiction, ohne sich als Anwältin der Hochkultur aufzutakeln oder Popliteratur zu machen, Parodie oder Satire? Es ist etwas dazwischen, aber ohne Müllhalden-, Brachland-, oder Krautfeldcharakter; ein Ort, von dem die Dichterin mit jedem Text sagt, dass nur sie ihn wirklich kennt, diskret und charmant wie Emily Dickinson.

Ein großer Name und viele Unterschiede. So hatte es die Belle of Amherst zum Beispiel nicht so arg mit Beweglichkeit, und auch nicht mit Brutalität. Brutalität? Kommen wir zu "Ah, das Love-Ding!".

"Meine Fresse!" ist ein spontaner Ausruf, der einem zu diesem "Essay" als erstes einfallen mag, denn auf die Fresse gibt es in diesem Text reichlich, sowohl für die "Handelnden" als auch für den Leser. "Handelnde" in einem Essay? Doch, es könnte auch ein Roman sein. Nein, ein Protokoll. Nein, ein philosophisch-psychoanalytisches Traktat zum Stand der menschlichen Beziehungen in der Post-Postmoderne. Nein, ein Zyklus von Prosagedichten. Was auch immer, dieses Kontinuum zur Beschreibung eines multiplen Gruppen- und Liebesscheiterns sucht in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen.

In der emotionalen Färbung mal zart, mal brutal, intellektuell hoch anspruchsvoll und gleichzeitig immer bereit zu Kalauer und Slang, von einer herzabdrückenden Melancholie durchwirkt, aber an vielen Stellen zum Loslachen komisch, um Begriff und Kategorie bemüht, aber spielfreudig wie eine Katze, die immer noch eine bessere Maus erwartet - es gibt nur eine Handvoll Autoren und Autorinnen in Deutschland derzeit, die einen solchen Text schreiben können.

Oder geht es um das Ausflugs-Wir? Um das Vollglück in der Idylle, um bestickte Unterwäsche - ein Traum von Draußensein und reverie; etwas das leicht ist, weil es nicht notwendig ist. Eine Schmucknaht bestickt die Landschaft, und wir folgen ihrer grünen Schwingung, unter dem hochgereckten Blick des fluchtbereiten Rotwilds. Fragil. gehobene Stimmung, kühle Ferne, die sich ins Violette neigt, 'wo die Wünsche sich erfüllen, ohne das Herz weder zu leeren noch zu sprengen'. Dazu gehören einige, aber nicht viele, 'so dass nur ein umzäuntes Gartenleben für die Idyllen-Seligen passe, die sich aus dem Buche der Seligen ein Blatt gerissen'. Was aber machen wir mit dieser Putzigkeit, von der bekannt ist, dass sie nicht von Dauer ist - dieses herausgelöste Blatt, von der Sonne gewellt.

Ob Jean Paul, den sie hier zitiert, das "Love-Ding" gut ertragen hätte? Fasziniert wäre er gewesen, ganz sicher.

Jetzt guck nicht so entsetzt. Wie soll sie denn deiner Ansicht nach gucken, wo sie gerade herausgefunden hat, dass die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten der Sturz ist. Und die Vitalisten unter uns behaupten, dass mit jedem einzelnen Fall die Minusvarianten dominanter würden und sich im Abgrund träfen, um dort gelangweilt mit Lebensmitteln zu spielen. Das wird alles, alles sinnlos und erscheint notgedrungen als eine Einübung ins Nichtwollen. Veronika aber sagt: Abfuck - im Gegenteil.

Doch warum ist das so? Weil ein missglückender Versuch peinlich ist? Weil es peinlich ist, wenn andere wahrnehmen, wie die libidinöse Kutsche kippt? Und du herausrollst mit deinen Reifröcken, Gladiolen und Dekoelementen? Die Differenz zwischen dem, was man will, und dem, was man bekommt, ist ein prekärer Pfad, auf dem das jüngste Selbstbild immer wieder neu justiert werden muss.

Ja, das "Love-Ding" ist ein höchst kunstvoller Film in Worten über das Kippen der Kutsche, ob sie nun mit einem Paar oder mit einer Ausflugsgesellschaft besetzt war. Gedreht/geschrieben von einer Autorin, die dichterisch alles kann, und nur durch das Aufbieten ihres gesamten Könnens mit den Knochenbrüchen fertig wird, die so eine kippende Kutsche hervorruft.

Und die, nachdem sie alles zertanzt hat, was gemeinhin dem Trost dient, ihre Leser ungetröstet zu entlassen nicht bereit ist, und deswegen mit einem Happy End aufwartet, das nur auf genau dem emotionalen Ground Zero funktionieren kann, den sie vorher bereitet hat. Das muss man erst mal wagen. Das muss man erst mal bringen. Monika Rinck hat den Mut. Und das ist nun die letzte der Begründungen dafür, dass sie bei einem "Deutschland sucht die Modernsten" ganz vorne mit dabei wäre. Wenn’s das gäb. Und wenn das wichtig wär.