"Die Menschen suchen Halt und Orientierung im Islam"

Henner Fürtig, neuer Direktor des GIGA-Institut für Nahost-Studien, über das Scheitern importierter Gesellschaftsvorstellungen und den politischen Islam

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Das German Institute of Global and Areal Studies (GIGA) erforscht „politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika sowie Nahost“. 2007 wurde das GIGA-Institut für Nahost-Studien (IMES) gegründet, das im Oktober 2009 den Arabisten und Historiker Henner Fürtig als neuen Direktor berufen hat. Zugleich erhielt Fürtig den Lehrstuhl für Nahoststudien am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Ein Fokus seiner künftigen Forschung wird auf dem Politischen Islam liegen.

Welche Aufgaben hat das Institut für Nahost-Studien?

Henner Fürtig: Wie das GIGA insgesamt ist auch das IMES ist ein unabhängiges Forschungsinstitut. Wir stehen mit den anderen Regionalinstituten und den vor drei Jahren neu geschaffenen Forschungsschwerpunkten des GIGA in einem eng abgestimmten Forschungskontext, der – ein Novum zu früher – vor allem auch komparative Forschung erlaubt. Unsere Hauptaufgabe in der wissenschaftlichen Forschung ist das rechtzeitige Erkennen und die tiefgründige Analyse neuer politischer, sozialer sowie ökonomischer Probleme sowie die Bereitstellung unserer Ergebnisse für ein breites internationales Publikum. Dabei streben wir an, die Forschungsergebnisse möglichst zeitnah zu publizieren und sie in der internationalen Forschungsgemeinschaft dem höchsten Standard der wissenschaftlichen Beurteilung auszusetzen.

Der zweite wichtige Aspekt unserer Arbeit, eine intensive Politikberatung, ist in der Regel so gestaltet, dass wir aktuelle Themen in Workshops oder Einzelgesprächen diskutieren. Die Hauptgesprächspartner sind hierbei das Auswärtige Amt, das Bundesentwicklungsministerium, die Bundeszentrale für politische Bildung und Stiftungen. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Forschung und Beratung offensichtlich: Je solider unsere Forschung ist, desto besser ist unsere Beratung. In der Focus-Reihe veröffentlichen wir unsere Forschungsergebnisse in einer Form für die Öffentlichkeit, in der auf Fachchinesisch verzichtet wird.

Wie kann man sich Ihren Arbeitsalltag als Direktor von IMES vorstellen?

Henner Fürtig: Auch ich muss in meiner Arbeit eine Spagatleistung erbringen. Die Personaldecke ist unseren Aufgaben nicht angemessen, unsere Mitarbeiter müssen jeweils riesige Regionen abdecken. Ich selbst habe neben administrativen Aufgaben noch ein volles Forschungsdeputat und bin für Ägypten, die Arabische Halbinsel, den Irak und Iran zuständig.

Wieso ist die Situation im Nahen Osten so wichtig?

Henner Fürtig: Der Nahe Osten – das klingt vielleicht wie eine Platitude, entspricht aber den Tatsachen – ist eine der strategisch wichtigsten Regionen der Erde. Im Nahen Osten stoßen Asien, Afrika und Europa aufeinander, hier liegen überdies 60 Prozent der weltweiten Vorräte an Erdöl, dem seit fast einhundert Jahren wichtigsten Einzelrohstoff der Welt. Wir müssen daher alles dafür tun, dass wir kooperative Beziehungen zu den Staaten der Region aufbauen, die auch über den wirtschaftlichen Aspekt hinaus gehen.

Wie würden Sie die gegenwärtige Lage im Nahen Osten beschreiben?

Henner Fürtig: Die Lage ist bekanntlich nach wie vor angespannt. Wir stehen vor einer Reihe von ungelösten Konflikten, mit dem Nahostkonflikt im Zentrum. Insbesondere dieser Konflikt bewegt seit 1948 auch die Wahrnehmung der Menschen vor Ort. Ihre Hoffnungen auf eine Konfliktlösung sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder enttäuscht worden, so zum Beispiel beim gescheiterten Oslo-Friedensprozess. Frustration und Wut entfachen bekanntlich Widerstand. Unterschiedliche politische Gruppen in der Region nehmen häufig Bezug auf den Nahostkonflikt, auch wenn sie für eigene bzw. partikulare Anliegen kämpfen. Regierungen in der Region haben den Nahostkonflikt nicht selten für selbstsüchtige Machtsicherungsinteressen instrumentalisiert.

In Afghanistan wurde Hamid Karsai ohne Stichwahl als Präsident wiedergewählt, weil Abdullah Abdullah seine Teilnahme am zweiten Wahlgang zurückzog, da er ebenso massive Wahlfälschungen befürchtete wie im ersten. Beschädigt eine derartige Wahlveranstaltung den Glauben an eine demokratische Regierungsform nicht eher, als für sie zu werben?

Henner Fürtig: Die Wahlen in Afghanistan sind durch den nachgewiesenen massiven Betrug zu einer Farce geworden. Wenn man das berücksichtigt, sieht man, wie schwach die Legitimation Karsais als Präsident damit geworden ist. Damit muss der Westen erst einmal umzugehen lernen. Aber die Idee des Demokratieexports ist viel stärker im Irak beschädigt worden, als in Afghanistan.

Ihr besonderes Forschungsfeld ist der „Politische Islam“. Welcher Forschungsbedarf besteht noch, was dieses Thema angeht?

Henner Fürtig: Ab 2010 wird der Politische Islam ein Forschungsschwerpunkt am IMES werden. Dabei ist es wichtig, Politischen Islam und Terrorismus zu trennen, was leider auch bei uns in der breiten Öffentlichkeit nicht die Regel ist. Der politische Islam ist im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Nordafrika unterdessen zu einer Massenerscheinung geworden. Er stellt gegenwärtig in einigen Ländern (Iran, z.T. Türkei) und Regionen (Gaza) des Vorderen Orients die Machthaber, in vielen anderen (z.B. Ägypten) die mächtigste Oppositionskraft. Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung setzte die Iranische Revolution von 1979. Das gegenwärtige Konfliktpotential in dieser Richtung erklärt sich auch daraus, dass importierte Gesellschaftsvorstellungen seit dem Ende der Kolonialzeit gescheitert sind. Deshalb suchen immer mehr Menschen Halt und Orientierung im Islam und einer aus ihm abgeleiteten Weltanschauung als etwas Eigenem und Authentischem.

Wie eng ist denn das Verhältnis von Politischem Islam mit dem Terrorismus?

Henner Fürtig: Der islamistische Terrorismus hat seine organisatorischen und ideologischen Wurzeln zweifellos im politischen Islam, ist aber mitnichten deckungsgleich. Der politische Islam oder Islamismus entstand in den 1920er Jahren aus dem Reformislam. Er setzt nicht primär auf Gewalt, sondern auf Bildung und Erziehung. Gewaltbereite Kräfte, die diese Prämisse nicht mittragen wollten, spalteten sich ab Mitte der 1960er Jahre ab und bildeten den Nukleus des bis in die Gegenwart wirkenden islamistischen Terrorismus'. Die prominenteste Organisation des traditionellen, des ursprünglichen politischen Islam, die ägyptische Muslimbruderschaft, hat dagegen schon 1981 der Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele abgeschworen.