"Die NATO darf den Bogen nicht überspannen"
- "Die NATO darf den Bogen nicht überspannen"
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Russland und die NATO müssen jetzt lernen, den Status Quo zu managen, damit es keine militärischen Zwischenfälle mit unvorhersehbaren Folgen gibt, sagt Rüstungsexperte Ulrich Kühn
Ulrich Kühn ist Mitarbeiter am Institut für Friedenforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist Koordinator des Projekts "Deep Cuts". Dort beraten Sicherheits- und Rüstungsexperten aus den NATO-Ländern und Russland, wie die Konfrontation NATO-Russland wieder abgebaut werden kann. Der neue Deep-Cuts-Report heißt programmatisch: "Back from the Brink" (Weg vom Abgrund).
Die NATO trifft sich demnächst zu ihrem Gipfel in Warschau. Dort soll die schon verabredete Verlegung von vier multinationalen Bataillonen nach Osteuropa formal beschlossen werden, über die schon im Vorfeld eine Einigung erzielt wurde. Lässt sich so das Verhältnis zwischen der NATO und Russland wieder verbessern?
Ulrich Kühn: Nein, aber der innere Zusammenhalt der Allianz verbessert sich dadurch. Man rückversichert die drei baltischen Bündnismitglieder Estland, Lettland und Polen, die sich gegenüber Russland unsicher fühlen. Und das ist durchaus sinnvoll. Russland hat sich in den letzten zwei Jahren als extrem unberechenbar und aggressiv gezeigt. Und eine Militärallianz taugt nur dann, wenn sie die Sicherheitsbedenken ihrer Mitglieder ernst nimmt. Vom rein militärischen Standpunkt ist diese Verlegung nichts anderes als Kosmetik, denn vier Bataillone reichen nicht aus zur Verteidigung. Als Signal für die eigenen Mitglieder ist sie richtig. Aber danach muss die NATO extrem aufpassen, dass sie nicht noch weiter geht. Denn irgendwann ist der Punkt erreicht, wo die Russen sagen, dass ist nicht mehr defensiv, sondern offensiv.
Wann wäre dieser Punkt genau erreicht?
Ulrich Kühn: Die Pentagon-nahe RAND-Corporation hat das mal durchgespielt. Um das Baltikum wirklich sichern zu können, bräuchte es sieben Brigaden, das sind 37.000 Mann, gut ausgerüstet mit Panzern und Transportfahrzeugen. Die Amerikaner verlegen ja zusätzlich eine dauerhaft rotierende Brigade nach Osteuropa. Im Grunde ist jetzt der Punkt erreicht, über den man nicht hinausgehen sollte. Das würde auf Seiten Russlands doch als eine sehr starke Reizung wahrgenommen werden.
Gibt es Wege, wie sich die Beziehungen wieder verbessern lassen?
Ulrich Kühn: Es gibt momentan so ein Zauberwort, das auch Außenminister Steinmeier immer wieder verwendet: Dialog. Ich bin da skeptisch, denn die Frage ist, was für ein Dialog und mit welchem Ziel. Das muss mit konkreter Politik gefüllt werden, und da habe ich bisher wenig gehört.
Das grundsätzliche Problem ist: Die NATO möchte reden über die Vermeidung von militärischen Zwischenfällen etwa über der Ostsee, über die Involvierung Russlands in der Ostukraine, über die Annexion der Krim, über die Verletzung diverser Sicherheitsverträge durch Russland. Darüber will Russland aber nicht sprechen, sondern über die NATO-Osterweiterung und über das Raketenabwehrsystem in Rumänien und Polen. Darüber will aber die NATO nicht reden. Wir haben hier also einen Dialog unter Tauben.
Also gibt es keine Lösung des Konflikts?
Ulrich Kühn: Im Moment ist keine Seite bereit, sich auf einen Dialog ohne Voraussetzungen einzulassen. Die Russen wollen das im Grunde zwar, aber die NATO und vor allem die USA wollen die Russen nicht belohnen, indem sie einen solchen Dialog anbieten. Solange es da keine Bewegung gibt, passiert auch nichts. Der Westen meint, der Ball liegt im Feld der Russen, aber da spielt ihn keiner. Dabei gäbe es Konzepte, um diese gegenseitigen Sicherheitsspannungen aufzuheben.
"Eigentlich ist die NATO-Osterweiterung am Ende"
Welche Konzepte wären das?
Ulrich Kühn: Die Zeit der Kooperation mit Russland ist vorbei. Die letzten Jahre sind gekennzeichnet von einem kompetitiven Verhältnis, von einem Wettstreit. Deswegen geht es letztlich darum, die nächsten Jahre gut zu managen, damit es keine gefährlichen Zwischenfälle gibt.
Zunächst braucht es einen Dialog der Militärs, zuerst der hochrangigen, dann der mittleren. Generäle und Offiziere müssen miteinander sprechen, wie sie militärische Zwischenfälle verhindern, etwa durch Hotlines oder gemeinsame Zentren, so dass man im Krisenfall schnell kommunizieren kann. Zweitens muss man über die Zeit nach Warschau nachdenken. Dort wird es Aufrüstungsbeschlüsse geben - das muss man so nennen, auch wenn sie nicht signifikant sind. Russland hat nun gesagt, dass es mit der Umstrukturierung zweier Divisionen im Westen des Landes reagiert. Sollten diese Truppen in der Nähe des Baltikums stationiert werden, dann bin ich überzeugt, dass wir im nächsten halben Jahr eine Forderung nach mehr NATO-Soldaten aus dem Baltikum und Polen bekommen. Und um zu verhindern, dass sich beide Seiten gegenseitig hochschaukeln, muss man von westlicher Seite den Russen etwas anbieten.
Nämlich?
Ulrich Kühn: Man muss sagen: Wir werden nachrüsten, da wir uns unsicher fühlen. Aber vorhe bieten wir Euch Verhandlungen an mit dem Ziel, ein gegenseitiges regionales Begrenzungsregime einzuführen. Das heißt, Begrenzungen von Truppen und Gerät auf russischer Seite und im Baltikum und Polen. Das muss überprüfbar sein durch gegenseitige Inspektoren. Das sind Mechanismen aus dem Kalten Krieg. Aber die Situation ist so gefährlich und festgefahren, dass das das Einzige ist, was man machen kann.
Sie sprachen davon, dass Russland und der Westen im Wettbewerb stehen. Worum?
Ulrich Kühn: Letztlich fechten Russland und der Westen einen Kampf aus um den postsowjetischen Zwischenraum. Bei Ländern wie der Ukraine, Georgien und Aserbaidschan nimmt Russland für sich in Anspruch, als Regionalmacht das Sagen zu haben. Russland gesteht ihnen nur eine begrenzte Souveränität zu. Die NATO argumentiert dagegen, dass solche Einflusssphären Modelle des 19. Jahrhunderts sind. Heute seien diese Länder frei und wenn sie in die NATO wollten, sei die Tür offen.
Diese beiden Interessen kollidieren miteinander. Das hat man in der Ukraine gesehen: Als es die Aussicht auf EU- und NATO-Mitgliedschaft gab, war für Russland die rote Linie überschritten. Es hat reagiert, sich die Krim gesichert und in der Ostukraine eine Art Stellvertreterkrieg angefangen. Das ist für die Ukraine extrem schädlich, und deswegen müssen sich die NATO und Russland darauf verständigen, wie es weitergehen soll. Eigentlich ist die NATO-Osterweiterung am Ende, und das muss die NATO auch mal einsehen.