"Die NATO darf den Bogen nicht überspannen"

Seite 2: "Wir stehen da einfach vor einem Trümmerfeld"

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Wie müsste denn eine Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen, die stabil ist?

Ulrich Kühn: Die hatten wir mal, aber dann sind viele Elemente weggebrochen. Beispielsweise der Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, den die USA gekündigt haben, aber auch andere Rüstungskontrollverträge, die veraltet sind, nicht mehr funktionieren oder außer Kraft gesetzt wurden.

Wir stehen da einfach vor einem Trümmerfeld, einem Politikversagen auf beiden Seiten, und müssen nun sehen, wie wir damit umgehen. Eigentlich bräuchten wir etwas wie die KSZE-Konferenz von 1975. Damals hat man sich auf zehn Prinzipien verständigt, aber der Kreml hat sie 2014 durch den Einmarsch auf der Krim mit Füßen getreten. Somit ist jetzt die Frage, wie wir uns wieder auf gemeinsame Prinzipen verständigen. Das geht nur durch langfristige Gespräche mit langen Vorverhandlungen. Aber leider ergreift keiner im Westen die Initiative. Prädestiniert wäre Deutschland, aber entweder ist die deutsche Außenpolitik nicht mutig und kreativ genug. Oder es gibt zu viele Leute, die das als Belohnung für Russland ablehnen.

Aber Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat ja neulich lautstark die NATO kritisiert und gemahnt, "lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul" zu unterlassen. Warum plötzlich solche Töne?

Ulrich Kühn: Prinzipiell hat Steinmeier recht, denn er hat auch gesagt, dass es richtig ist, dass die NATO die östlichen Bündnismitglieder unterstützt. Wir können Balten und Polen nicht einfach allein lassen, und deswegen ist es richtig, dass Deutschland sich militärisch beteiligt. Aber: Man darf den Bogen nicht überspannen, und das ist es, was Steinmeier sagte. Wenn bei einem Manöver wie Anakonda ein offensives Szenario geprobt wird - Landnahme durch Fallschirmjäger - und das mit Nicht-NATO-Mitgliedern wie der Ukraine und Georgien, dann sind das Provokationen am laufenden Band, die vor allem von der polnischen Regierung ausgehen. Und da hat Steinmeier richtig darauf hingewiesen, dass die NATO langsam den Bogen überspannt.

Altkanzler Gerhard Schröder meint dagegen, deutsche Truppen sollten schon aus historischen Gründen nicht so nah an die russische Grenze.

Ulrich Kühn: Das historische Argument kann ich nachvollziehen. Aber die baltischen Staaten sind Mitglieder der NATO. Während des Kalten Krieges, als Gerhard Schröder in Westdeutschland in Sicherheit aufgewachsen ist, waren es amerikanische Soldaten, die die Bundesrepublik beschützt haben. Heute sind es deutsche Soldaten, die wiederum die Balten beschützen. Es ist doch klar, dass sich die Balten nach der Annexion der Krim nicht sicher fühlen. Als Mitglieder der Allianz wollen sie natürlich die Solidarität der Partner. Aussagen wie die von Schröder unterminieren diese Solidarität.

"Außenpolitisch zieht Russland Sicherheit aus Unsicherheit"

Ist die russische Politik wirklich so aggressiv wie in westlichen Medien dargestellt?

Ulrich Kühn: In den letzten zwei Jahren war sie extrem aggressiv. Die Annexion eines Teils eines anderen Landes, die heimliche Beteiligung an einem Bürgerkrieg, das Überfliegen von NATO-Schiffen in ganz geringem Abstand, rhetorisches Drohen mit Nuklearwaffen - das sind Zeichen einer extrem verantwortungslosen Großmacht. Da muss sich Russland nicht wundern, dass der Westen so reagiert. Eigentlich war die NATO politisch fast schon tot, erst durch die Bluttransfusion durch Putin ist sie wieder geeint.

Warum fährt Putin dann diesen Kurs, der die NATO stärkt?

Ulrich Kühn: Außenpolitisch zieht Russland Sicherheit aus Unsicherheit. Russland hatte schon immer ein massives Problem mit der Osterweiterung der NATO. Alle Versuche, sie zu verhindern, sind aber gescheitert. Putin hat dann eine neue Strategie erfunden: Er kreiert Unsicherheit. In Ländern, die in die NATO wollen, werden lokale Konflikte geschürt. Das hat er 2008 in Georgien gemacht, 2014 in der Ukraine. Damit schlägt er diesen Ländern die Tür zur NATO zu, denn Länder mit Bürgerkriegen werden dort nicht aufgenommen. Außerdem schafft Russland damit ein Klima der Unsicherheit: Man weiß nie, was der russische Bär als nächstes macht.

Was muss Russland tun, um die angespannte Lage zu deeskalieren?

Ulrich Kühn: Dieses Klima der Unsicherheit ist natürlich kein Dauerzustand, das weiß Putin auch. Deshalb müssen beide Seiten in einen Dialog über des Pudels Kern eintreten, und das ist die NATO-Osterweiterung. Es braucht einen Modus Vivendi, der für beide gesichtswahrend ist. Man muss für die Länder zwischen beiden Seiten eine Lösung finden, sonst hat man permanent solche instabilen Staaten.

Aber zurücknehmen lässt sich die Osterweiterung ja schlecht, oder?

Ulrich Kühn: Nein, die Russen haben das akzeptiert, wenn auch zähneknirschend. Was sie nicht akzeptieren, ist eine weitere Ausdehnung in den postsowjetischen Raum. Weißrussland, Moldau, Ukraine, Georgien, Armenien, Aserbaidschan sowie die zentralasiatischen Länder sind aus russischer Sicht für die NATO tabu. Und jeder Schritt, der auch nur ansatzweise in diese Richtung geht, wird eine äußerst aggressive Reaktion hervorrufen. Wir müssen uns jetzt mit den Russen verständigen, wie wir ihnen klar machen können, dass wir keine Osterweiterung anstreben, ohne dass wir es aussprechen. Denn eines steht fest: Die USA werden niemals offiziell sagen, dass die Osterweiterung vorbei ist.

Warum?

Ulrich Kühn: Weil die USA sich als Führungsmacht Nummer 1 der Welt verstehen und sich nicht von anderen zu Aussagen zwingen lassen. Hier geht es um psychologische Faktoren - Respekt, Stolz, Statusdenken. Dementsprechend wird ein Ausgleich sehr, sehr schwierig werden. Deswegen ist es wichtig, dass Länder wie Deutschland mit gutem Draht nach Washington und Moskau auch mal mit guten Initiativen voranschreiten.