Die Nation in der Krise

Seite 3: Die Zukunft der Nation

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Will man der Zukunft der Nation ansichtig werden, so reicht hierfür ein Blick gen Süden. In die durch separatistische Bewegungen zerrütteten Staaten Südeuropas, oder weiter in die Zusammenbruchsregionen des globalen Südens. Die historische Zeit des Nationalstaates, dem die krisenhafte Globalisierung das ökonomische Fundament entzogen hat, ist somit tatsächlich abgelaufen. Bei den Nationen handelt es sich ohnehin um ein relativ junges und offensichtlich vergängliches Phänomen, das sich erst im 19. Jahrhundert ausformte (zusammen mit den Landessprachen).

Die offenen, evidenten nationalstaatlichen Zerfallsprozesse in der Peripherie oder Semiperipherie (jüngst Syrien, Irak, Jemen, Ukraine) des kapitalistischen Weltsystems wirken auch in dessen Zentren - nur sich sie dort noch nicht so weit vorangeschritten. Das Fundament der imperialistischen Interventionsmächte ist ebenfalls in Auflösung begriffen.

Wie hohl das nationalstaatliche Gerüst in den USA ist, machte die brutale und hilflose Reaktion der Staatsmacht auf die Naturkatastrophe in New Orleans deutlich, als der Hurrikan Katharina diese Region für Wochen in ein diktatorisches Dritte-Welt-Land verwandelte. Auch Russland Staatsapparat, der sich nun in Syrien engagiert, gilt als einer der korruptesten der Welt.

Es ist somit evident, dass die Zeit der Nation abgelaufen ist und die Nationalstaaten in Auflösung übergehen. Offensichtlich wird dies in der derzeitigen Flüchtlingskrise, die ja gerade durch die ökonomischen und staatlichen Zerfallsprozesse in der Peripherie und Semiperipherie ausgelöst wurde.

Die Fluchtbewegungen sind Folge des um sich greifenden Weltbürgerkrieges der dem Kollaps der Märkte und Staaten in immer größeren Zusammenbruchsregionen folgt (auch hier gibt es Versuche, diesen "systemischen" Krisenprozess zu instrumentalisieren).

Flüchtlinge: Die kollabierende Peripherie

Die ökonomisch "überflüssigen" Menschen fliehen folglich aus diesen Regionen in die verbliebenen, beständig schrumpfenden Inseln der scheinbaren Stabilität, die aber den Anschein einer funktionierenden nationalen Arbeitsgesellschaft nur noch auf Kosten der kollabierenden Peripherie aufrechterhalten können - auch wenn in den Zentren die Fassaden ebenfalls zunehmend bröckeln.

Dies gilt nicht nur für die USA mit dem US-Dollar als Weltleitwährung, die gerade die Krise der Schwellenländer befeuert, sondern auch und vor allem für die BRD, die mittels neo-merkantilistischer Politik und ungeheurer Handelsüberschüsse nicht nur Schulden exportiert, sondern auch Arbeitslosigkeit. Insofern ist es nur konsequent, dass die Massen der ökonomisch "Überflüssigen" sich gerade den Exportüberschussweltmeister BRD als Zufluchtsort aussuchen.

Eine "Rückkehr" in frühere - heute gern idealisierte - kapitalistische Formationen, wie den Sozialstaat der 70er oder die Wirtschaftswunderwelt der 50er ist selbstverständlich angesichts der dargelegten historischen und irreversiblen Krisendynamik absolut illusionär.

Jeder Appell, der eine Rückkehr zur Nation als Krisenantwort propagiert, führt ins sozioökonomische wie politische Desaster und kann nur als erzreaktionär bezeichnet werden. Die auch von Teilen einer konservativen Linken propagierte Rückkehr zur Nation kann angesichts der Krisenreife nur einen weiteren Schritt in die Barbarei gleichkommen.

Hieraus, aus eben diesem systemischen, systemimmanent unkontrollierbaren Krisenprozess, resultieren die von Müller eingangs beklagten widersprüchlichen Erscheinungen, wo eine ökonomisch ohnmächtige nationalistische Politik massenhaften Zulauf und Aufwind erhält, während die globale ökonomische Verflechtung den Nationalstaat eigentlich obsolet macht. Doch zugleich kann der Kapitalismus nicht aus seiner nationalstaatlichen Hülle heraus, da die politische Konkurrenz der Staatsapparate nur die Fortsetzung der allgemeinen ökonomischen Konkurrenz darstellt, die ja konstitutiv für den Kapitalismus ist.

Deswegen klagt ja Müller, dass die "europäische Integration" auf "halbem Wege stecken geblieben" sei, da es tatsächlich keine nennenswerten europäischen Machtzentren gibt, die als trans- oder postnational bezeichnet werden könnten. Brüssel ist kein europäischer Machtfaktor, die Entscheidungen fallen seit Krisenausbruch explizit in den Hauptstädten - insbesondere in Berlin.

Die EU war schon immer eine durch den Krisenprozess befeuerte Kampfarena, auf der wechselnde europäische Nationalkoalitionen ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Solange die europäische Verschuldungsdynamik aufrechterhalten werden konnte, deren Dynamisierung erst die Eurozone ermöglichte, fiel dies nur der breiten Öffentlichkeit nicht auf, weil die entsprechenden Defizitkonjunkturen allen Beteiligten das Gefühl verschafften, an einem allgemein vorteilhaften "Integrationsprozess" beteiligt zu sein.

Die nationalen Machtkämpfe, die vor dem Ausbruch der Eurokrise hinter geschlossenen Brüsseler Türen abliefen, traten mit der Eskalation der Krisenkonkurrenz nach Ausbruch der Eurokrise mit voller Wucht an Tageslicht.

Eine Überwindung der kollabierenden Nationalstaaten, die in ihrer Agonie sich wechselseitig an die Gurgel zu gehen versuchen, ist aber nur jenseits des Kapitalismus, jenseits der kollabierenden Kapitalvergesellschaftung mit all ihren Vermittlungsebenen möglich. Es mag illusionär erscheinen, die Nation, den Markt, das Geld, den Staat überwinden zu wollen, aber rein negativ ist dies längst der Fall.

Die Krise des Kapitals lässt all diese durch das Kapital hervorgebrachten Formen der negativen Vergesellschaftung zerfallen. Wiederum hilft hier ein Blick gen Süden. Die Staaten, die nationalen "Volkswirtschaften" und Märkte sind in den Failed States der Periphere längst in Geschichte übergegangen. In Zimbabwe wurde Geld zum Drucken von Zeitungswerbung benutzt.

Der Leviathan und das Racket bilden die beiden Mahlsteine, die im kapitalistischen Barbarisierungsprozess die zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 10.000 Jahre zu zermahlen drohen. Die - bisherigen - Endpunkte dieser Entwicklung sind in Nordkorea und Somalia zu finden. 1984 oder Mad Max? Dies ist die Wahl, die der Krisenprozess systemimmanent den Insassen der zusammenbrechenden kapitalistischen Tretmühle lässt.

Das historische Ende der - von der herrschenden Ideologie für Naturgesetzte gehaltenen - anachronistischen formen kapitalistischer Vergesellschaftung ist somit unvermeidlich, da es aus den inneren Widersprüchen des Kapitals resultiert; es stellt sich nur die Frage, ob dies auch in den Zentren in der Form eines barbarischen Zusammenbruchs sich vollziehen wird, oder vermittels emanzipatorischer Aufhebung und Transformation in eine postnationale und postkapitalistische Gesellschaftsformation - was nur durch eine breite antikapitalistische Bewegung möglich wäre, die den kategorialen und praktischen Bruch mit der Kapitalvergesellschaftung wagen würde.