Die Nation in der Krise

Foto: Cezary Piwowarski/CC BY-SA 3.0

Die eskalierende Krisendynamik hinterlässt bösartige ideologische Verfallsformen von Nationalismus und Rechtsextremismus

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Die endlich als solche verwirklichte und anerkannte Eine Welt, gebannt in die krisenhaft sich auflösende Fetischform des warenproduzierenden Systems, enthüllt sich als Horror- und Terrorvision eines beginnenden Weltbürgerkrieges, in dem es keine festen Fronten mehr gibt, sondern nur noch blinde Gewaltausbrüche auf allen Ebenen.

Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung, 1991

Auch ein blindes Wirtschaftshuhn findet mal ein Körnchen Wahrheit. Henrik Müller, Spiegel-Online Wirtschaftskolumnist und ehemaliger Chefredakteur des Manager Magazin, setzte sich anlässlich der Neuwahl in Griechenland mit einer Illusion auseinander: mit der Illusion nationaler Souveränität.

"Die einzelnen Nationen können kaum noch etwas gestalten"

Die nationale Politik benehme sich überall auf der Welt so, "als ob sie ihre Geschicke selbst bestimmen" könne, was sich angesichts der jüngsten Ereignisse in Griechenland und auch in den USA als Illusion erweise. Müller nennt in diesem Zusammenhang nicht nur das Berliner Krisendiktat gegenüber Athen, sondern auch das Zurückschrecken der US-Notenbank vor einer Leitzinserhöhung.

Griechenland hätte sich den "Vorgaben der Gläubiger" ebenso beugen müssen wie die Fed der angespannten Wirtschaftslage in China, um so "eine weltweite Kettenreaktion" zu verhindern. Man könne kaum noch von nationaler Souveränität sprechen, wenn die "Notenbanker der größten Volkswirtschaft der Erde" nicht mehr "souverän über ihre Währung zu gebieten," so Müller.

Die "wechselseitigen Einflüsse" seien im Rahmen der Globalisierung inzwischen derartig angewachsen, dass eine nationale Regierung "kaum noch irgendetwas entscheiden kann, ohne andere Länder damit zu beeinträchtigen". Überall, wo Nationen es dennoch versuchten, "richten sie großen Schaden an". Und dennoch scheine das Denken in nationalen Kategorien wieder eine Renaissance zu erleben, wunderte sich Müller:

Die einzelnen Nationen können kaum noch etwas gestalten. Trotzdem bestimmt das überkommene Prinzip nationaler Souveränität nach wie vor die Politik. Ja, es ist sogar seit einigen Jahren wieder im Aufwind...

Und tatsächlich findet eine krisenhafte Zuspitzung dieser beiden gegenläufigen Tendenzen statt. Die Nationen, das nationale Prinzip scheint auf dem Vormarsch in einer krisengeschüttelten Zeit, in der der Prozess der kapitalistischen, negativen Globalisierung auf die Spitze getrieben scheint. Niemals zuvor in der Geschichte des Kapitalismus war die transnationale wirtschaftliche Verflechtung so eng wie derzeit. Das gilt vor allem für die Bundesrepublik, die alljährlich extreme Handelsüberschüsse erwirtschaftet.

Doch zugleich nehmen die nationalen und geopolitischen Spannungen weltweit zu, gewinnen nationalistische und rechtsextreme Bewegungen rasant an Zulauf. Es scheint als ob der Drang zu einer globalen Vergesellschaftung, der der negativen, rein konkurrenz- und marktvermittelten Globalisierung innewohnt, zugleich all die Zentrifugalkräfte hervorbringen würde, die dieser Globalisierungstendenz entgegenwirken.

Während die globalen Handelsströme - und die globalen Ungleichgewichte - zunehmen, gewinnen nationalistische und separatistische Bewegungen an Zulauf. Auch und gerade beim Exportweltmeister Deutschland, im Land von Pegida und der AfD. Zudem nehmen ja die nationalen Auseinandersetzungen tatsächlich zu, wie es ja während der letzten Griechenlandkrise offensichtlich wurde (Deutschlands Wirtschaftskrieg).

Auch die widerlichen und menschenverachtenden geopolitischen Machtspiele um die Ukraine (Geopolitisches Déjà-vu), das nicht enden wollende Gemetzel im arabischen Raum (Mad Max im Zweistromland) oder das "Great Game" in Ostasien belegen die zunehmende geopolitische Instabilität des wirtschaftlichen Globalisierungsprozesses.

Der fehlende nationale ökonomische Bezugsrahmen

Je stärker die wirtschaftliche Verflechtung, desto stärker die nationale Konkurrenz. Dieser Eindruck stellt sich deswegen ein, weil beide gegenläufigen Tendenzen Teil der krisenbedingt zunehmenden Widerspruchsentfaltung im Spätkapitalismus sind. Alles im Spätkapitalismus drängt zur regelrechten Flucht in die Globalisierung, doch zugleich lässt das sich immer deutlicher abzeichnende Scheitern dieser krisenhaften kapitalistischen Globalisierung all die ideologisch absolut dysfunktionalen neo-nationalistischen Ideologien aufkommen, denen die ökonomische Basis - die nationale Volkswirtschaft - längst abhandengekommen ist.

Die nationale Politik ist machtlos, weil sie keinen einigermaßen geschlossenen nationalen ökonomischen Bezugsrahmen mehr vorfindet: Stattdessen agieren die Staaten - und auch viele Regionen innerhalb der Nationalstaaten - als bloße Wirtschaftsstandorte im globalen Wettbewerb, wobei die alten nationalen sozioökonomischen Verflechtungen zusehends durch globale Fertigungsketten und Absatzmöglichkeiten zersetzt werden.

Für die avancierte Industrie in Bayern ist China wichtiger als Mecklenburg-Vorpommern. Die nationale "Volkswirtschaft" ist in Auflösung begriffen, die Nation stellt nur noch einen Hohlkörper dar, an den sich brandgefährliche Krisenideologien klammern.

Die Globalisierung selbst stellt ein Krisenphänomen dar, sie ist Ausfluss der Tendenz des Kapitals, vor seinen inneren Widersprüchen in eine - äußere - Expansion zu flüchten. Konfrontiert mit der sich immer stärker abzeichnenden Krise der - nationalen - Arbeitsgesellschaft (Die Krise kurz erklärt) nahm die internationale wirtschaftliche Verflechtung des Kapitals ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität an.

Im Rahmen der sich verschärfenden Krisenkonkurrenz gingen Unternehmen und Konzerne dazu über, unter Ausnutzung neuer technologischer und logistischer Möglichkeiten globale Fertigungsketten aufzubauen und immer neue arbeitsintensive Fertigungsschritte in Billiglohnländer auszulagern, um von dem enormen globalen Lohngefälle zu profitieren.

Krisenfolgen auf andere abwälzen

Der rasche Aufstieg der Schwellenländer - hier insbesondere Chinas - ist gerade Folge dieses ungeheuren Schubs globaler ökonomischer Verflechtung, in dessen Gefolge die Illusion einer nachholenden Industrialisierung in der Semiperipherie des kapitalistischen Systems aufkam. Die Schwellenländer - die sich nun zumeist schweren wirtschaftlichen Verwerfungen ausgesetzt sehen -, galten ja der brüderlichen Wirtschaftswissenschaft lange Jahre als künftige Lokomotiven der Weltwirtschaft, die eine neue Ära der Prosperität einleiten würden. Die Lohnabhängigen in den Zentren des Weltsystems, in den USA wie in Westeuropa, konnten so trotz eines stagnierenden Lohnniveaus mit billigen Warenströmen versorgt werden.

Dennoch handelte es sich beim Boom der Schwellenländer um eine Illusion, die nun offensichtlich zerplatzt. Die Globalisierung wurde maßgeblich durch die sich intensivierende Konkurrenz befeuert, doch ihre jahrzehntelange Dynamik ist nur unter Berücksichtigung der zunehmenden globalen Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen zu verstehen.

Die diesen Ungleichgewichten zugrunde liegende Verschuldungsdynamik ermöglichte erst die lang anhaltende Globalisierungsperiode, bei der exportorientierte Volkswirtschaften (etwa die BRD, früher auch China) ihre Handelsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer (hier vor allem die USA, aber auch eine Zeit lang Europa) ausführten.

Die Globalisierung mit ihrer Tendenz zur Schaffung größerer einheitlicher Wirtschaftsräume und Freihandelszonen ermöglichte gerade diese ungeheure Dynamisierung der krisenbedingten Verschuldungsprozesse des spätkapitalistischen Weltsystems.

Unterm Brennglas ist dies in der Eurozone nachzuvollziehen, wo die Einführung des Euro der südlichen Peripherie die Kreditkonditionen des nördlichen Zentrums gewährte - und bis zum Platzen der hiernach einsetzenden europäischen Schuldenblasen allen Beteiligen eine gute Defizitkonjunktur verschaffte. Das brutale Machtspiel um die Macht in der erodierenden Eurozone setzte erst nach dem Krisenausbruch ein.

Die Auflösung der alten nationalen "Volkswirtschaften" wurde durch die zunehmende Krisendynamik vorangetrieben, durch die Tendenz des Kapitals, vermittels permanenter Produktivitätsfortschritte sich seiner eigenen Substanz - der wertschaffenden Lohnarbeit - zu entledigen und somit die kapitalistische Arbeitsgesellschaft in eine systemische Überproduktionskrise zu führen, die nur durch fortlaufende Ausweitung des Kredits, durch Verschuldungsprozesse noch kreditgenerierte Nachfrage schaffen konnte.

Die zunehmende Verdrängungskonkurrenz auf den "enger" werdenden Märkten trieb die Konzerne in die Globalisierung, die zudem die Kreditausweitung auf den Finanzmärkten zusätzlich befeuerte. Einige Zahlen mögen dies illustrieren:

Die Unternehmensberatung McKinsey gab jüngst an, dass die globale Gesamtverschuldung zwischen 2007 und 2014 von 269 auf 289 Prozent der Weltwirtschaftsleistung angeschwollen ist. Der Geneva Report herausgegeben von dem "International Centre for Monetary and Banking Studies", gab im September 2014 die langfristige Zunahme der Weltschulden (unter Ausschluss des Finanzsektors) an: Diese seien von 160 Prozent der Weltwirtschaftsleistung in 2001, über 200 Prozent in 2009, auf 215 Prozent in 2013 geklettert.

Der Report warnte vor einer "giftigen Kombination" aus hohen und weiterhin steigenden Schulden und erlahmendem Wirtschaftswachstum. Das geringfügig sinkende Schuldenniveau in dem Finanz- und Privatsektor der entwickelten Ökonomien sei durch den Anstieg ihrer "öffentlichen Verschuldung" und ein rasches Anschwellen der Verschuldung in den Schwellenländern überkompensiert worden.

Entgegen der allgemeinen Überzeugung hat die Welt nicht angefangen, sich zu entschulden, und das Größenverhältnis zwischen Schulden und BIP steigt weiter an, indem es immer neue Rekorde bricht.

Nachdem die Zentren des Weltsystems 2008 ihre großen Schuldenkrisen durchlebten, verlagerte sich die Verschuldungsdynamik in die Schwellenländer, die derzeit in den entsprechenden Krisenschüben an ihre Grenzen stoßen. Ein Paradebeispiel hierfür ist ja gerade China, dass bis zur Weltwirtschaftskrise 2008 gigantische Handelsüberschüsse mit den - sich immer weiter verschuldenden - USA und Europa erwirtschaftete, um hiernach, ab 2009, selber die Defizitkonjunktur auszubilden, die derzeit kollabiert.

Der globalisierte Verschuldungsprozess stößt somit immer deutlicher an seine Grenzen. Und es ist gerade diese sich immer deutlicher Abzeichnende "innere Schranke" (Robert Kurz) des Kapitals, die all die von Henrik Müller beklagten Tendenzen überhandnehmen lässt: die zunehmenden nationalen Auseinandersetzungen und nationalistischen Absonderungen, wie die Einsicht in die Ohnmacht der nationalen Politik. Müller klagt:

So wirbt in der EU kaum noch ein Politiker für die Überwindung nationaler Strukturen. Stattdessen herrscht ein großes, hässliches Gerangel nationaler Interessen.

Das Gefühl der Heteronomie, des Ausgeliefertseins an übermächtige Sachzwänge und Verwerfungen einer amoklaufenden Ökonomie, die einer Naturgewalt gleich ganze Regionen und Länder sozioökonomisch verwüstet, geht mit der Tendenz einher, die Krisenfolgen auf andere abwälzen zu wollen.

Krisenkonkurrenz: "Wer steigt ab?"

Die sich allgemein verschärfende Krisenkonkurrenz tobt auch unter den zu "Wirtschaftsstandorten" zugerichteten Nationalstaaten, wie auch unter den einzelnen Regionen.

Deshalb nimmt in Europa der Separatismus gerade in der Krise überhand (Konjunktur für Separatismus), da hier zumeist ökonomisch avancierte Regionen innerhalb von Krisenstaaten (Spanien, Italien, Belgien) bemüht sind, durch eine Sezession sich ökonomische Vorteile zu verschaffen - zumal die Nationalökonomien ja bereits in Auflösung übergegangen sind. Die Katalanen wollen Andalusien loswerden, Flandern die Wallonen, Norditalien die Elendsgebiete im Süden Italiens.

Der sich verschärfende "objektive" Zerfall des kapitalistischen Weltsystems, der immer größere sozioökonomische Zusammenbruchsregionen hinterlässt und letztendlich zum Staatszerfall führt, wird gerade in Form der zunehmenden "subjektiven" Auseinandersetzungen zwischen Nationen oder Regionen ausgetragen. "Wer steigt ab?" ist der Kern dieser negativen Krisenkonkurrenz, bei der ganze Regionen und Länder im Elend und Zerfall versinken.

Ein gutes Beispiel hierfür bietet gerade die Eurokrise mit den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Athen. Auf der geopolitischen Oberfläche erscheint diese "subjektive" Auseinandersetzung als ein wirtschaftlicher und letztendlich geopolitischer Machtkampf, bei dem Berlin seine ökonomische Dominanz ausspielte, ein abschreckendes Exempel statuierte und hierdurch seine Hegemonie in der Eurozone festigte (Willkommen in der Postdemokratie).

Doch objektiv betrachtet wurde auf der systemischen Ebene durch diese Auseinandersetzung - wie durch das gesamte verheerende deutsche Spardiktat in der Eurozone - die Krisendynamik exekutiert, bei der weite Teile der südlichen Peripherie der Eurozone auf den Status von Dritte-Welt-Ländern absanken.

Die durch ausartende Handelsüberschüsse aufrecht erhaltene Illusion einer heilen Arbeitsgesellschaft in der BRD konnte nur durch die Deindustrialisierung, Verelendung und Marginalisierung der Peripherie aufrecht erhalten werden (Der Aufstieg des deutschen Europa).

Die deutsche Beggar-thy-neighbor-Politik, die auf möglichst hohe Außenhandelsüberschüsse abzielt, stellt einen Moment der ausartenden globalen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen dar, die durch die Globalisierungsschübe ermöglicht wurden.

Währungskriege statt nationale Wirtschaftskriege

Hierbei können selbstverständlich Parallelen zu der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre gezogen werden (Damals wurde der Begriff Beggar-thy-neighbor geprägt), die ebenfalls mit einer Zunahme nationaler Spannungen und nationalistischer und faschistischer Bewegungen einhergingen.

Der große Unterschied zwischen den nationalen Wirtschaftskriegen der 1930er Jahre und der heutigen Lage besteht aber darin, dass die Globalisierung eine derartig enge globale Wirtschaftsverflechtung hervorbrachte, so dass eine Schließung der Grenzen für die Warenströme und die Einführung von Schutzzöllen - wie in den 30ern üblich - nicht zur Debatte stehen können. Stattdessen werden die nationalen Wirtschaftskriege in Form von Währungskriegen ausgetreten, bei denen Währungsabwertungen den Exportindustrien Vorteile auf den Weltmarkt verschaffen sollen.

Diese nationale Krisenkonkurrenz zwischen den längst von Zerfallserscheinungen (etwa zunehmender Korruption) ergriffenen Staatsapparaten vollzieht sich nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern auch auf geopolitischer oder militärischer Ebene. Dies gilt vor allem für die Ukraine (Der gescheiterte Staat von nebenan), die ja nur deswegen Objekt des neoimperialen Great Game zwischen Ost und West wurde, weil sich Kiew einer eskalierenden Wirtschaftskrise gegenüber sah.

Die Ukraine war als ein eigenständiger Staat schlicht nicht mehr ökonomisch überlebensfähig, weswegen sich die ostukrainische Oligarchie, deren politischer Vertreter Janukowitsch war, zwischen der Einbindung in eins der um die Ukraine konkurrierenden Machtzentren entscheiden musste. Janukowitsch entschied sich für Moskau, was die vom Westen massiv unterstützte Protestbewegung erst initiierte.

Imperiale Interventionen

Auch in den Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts, im arabischen Raum und im subsaharischen Afrika, sind imperiale Interventionen an der Tagesordnung, die den besagten objektiven - hinter dem Rücken der Akteure ablaufenden - Krisenprozess exekutieren. Der Krisenimperialismus beschleunigt den Zerfall der Nationalstaaten der Peripherie. Um den Leichnam Syriens oder des Irak raufen sich gleich reihenweise die regionalen und globalen "Mächte", wie die Türkei, die arabischen Golfdespotien, die USA oder Russland, die jeweils ihre Fraktionen im nicht enden wollenden Gemetzel unterstützen.

Dennoch ist es ein immer wieder - auch in der Linken - begangener Fehler, die militärischen Interventionen des Westens für den offenen Zerfall der Nationalstaaten verantwortlich zu machen.

Die imperialen Großmächte tun gewissermaßen genau dass, was sie seit der Etablierung und Expansion des kapitalistischen Weltsystems schon immer machten, sie verhalfen der "unsichtbaren Hand" des Weltmarktes notfalls mit dem eisernen Handschuh ihrer Militärmaschinerie zur Geltung - etwa bei den Opiumkriegen des britischen Empire gegen China.

Doch inzwischen funktioniert dieser Krisenimperialismus nicht mehr. Der Westen kann die Kriege gegen die morschen Staatsapparate der Periphere gewinnen, doch er verliert immer wieder den Frieden. Die nationalen Staatsapparate zerfallen und die ehemaligen Nationalstaaten lösen sich in Chaos und Anomie auf, ohne dass es den Interventionsmächten noch gelingt, ein höriges Marionettenregime zu installieren.

Alle militärischen Interventionen der vergangenen zwei Dekaden haben sich trotz militärischer Erfolge als kolossale Fehlschläge erwiesen, die Billionen von US-Dollar verschlangen, ohne die angepeilten Ziele auch nur ansatzweise zu erreichen: von Afghanistan, über den Irak, bis hin zu Libyen. Ein Desaster folgt dem nächsten.

Und wieder: die "subjektive", von einem imperialistischen Interessenskalkül geleitete, Intervention beschleunigt nur den systemischen Zerfalls- und Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems, der sich in einem dekadenlangen Prozess schubweise von der Peripherie in die Zentren frisst. Es wird nur das umgestürzt, was ohnehin im Fallen begriffen ist.

Es gibt keinen Irak, kein Syrien oder Libyen mehr. Diese Länder stellten schon vor den Interventionen bloße Modernisierungsruinen dar, in denen keine Kapitalverwertung im ausreichenden Ausmaß stattfand, um eine funktionsfähige "Volkswirtschaft" aufzubauen.

Die Zukunft der Nation

Will man der Zukunft der Nation ansichtig werden, so reicht hierfür ein Blick gen Süden. In die durch separatistische Bewegungen zerrütteten Staaten Südeuropas, oder weiter in die Zusammenbruchsregionen des globalen Südens. Die historische Zeit des Nationalstaates, dem die krisenhafte Globalisierung das ökonomische Fundament entzogen hat, ist somit tatsächlich abgelaufen. Bei den Nationen handelt es sich ohnehin um ein relativ junges und offensichtlich vergängliches Phänomen, das sich erst im 19. Jahrhundert ausformte (zusammen mit den Landessprachen).

Die offenen, evidenten nationalstaatlichen Zerfallsprozesse in der Peripherie oder Semiperipherie (jüngst Syrien, Irak, Jemen, Ukraine) des kapitalistischen Weltsystems wirken auch in dessen Zentren - nur sich sie dort noch nicht so weit vorangeschritten. Das Fundament der imperialistischen Interventionsmächte ist ebenfalls in Auflösung begriffen.

Wie hohl das nationalstaatliche Gerüst in den USA ist, machte die brutale und hilflose Reaktion der Staatsmacht auf die Naturkatastrophe in New Orleans deutlich, als der Hurrikan Katharina diese Region für Wochen in ein diktatorisches Dritte-Welt-Land verwandelte. Auch Russland Staatsapparat, der sich nun in Syrien engagiert, gilt als einer der korruptesten der Welt.

Es ist somit evident, dass die Zeit der Nation abgelaufen ist und die Nationalstaaten in Auflösung übergehen. Offensichtlich wird dies in der derzeitigen Flüchtlingskrise, die ja gerade durch die ökonomischen und staatlichen Zerfallsprozesse in der Peripherie und Semiperipherie ausgelöst wurde.

Die Fluchtbewegungen sind Folge des um sich greifenden Weltbürgerkrieges der dem Kollaps der Märkte und Staaten in immer größeren Zusammenbruchsregionen folgt (auch hier gibt es Versuche, diesen "systemischen" Krisenprozess zu instrumentalisieren).

Flüchtlinge: Die kollabierende Peripherie

Die ökonomisch "überflüssigen" Menschen fliehen folglich aus diesen Regionen in die verbliebenen, beständig schrumpfenden Inseln der scheinbaren Stabilität, die aber den Anschein einer funktionierenden nationalen Arbeitsgesellschaft nur noch auf Kosten der kollabierenden Peripherie aufrechterhalten können - auch wenn in den Zentren die Fassaden ebenfalls zunehmend bröckeln.

Dies gilt nicht nur für die USA mit dem US-Dollar als Weltleitwährung, die gerade die Krise der Schwellenländer befeuert, sondern auch und vor allem für die BRD, die mittels neo-merkantilistischer Politik und ungeheurer Handelsüberschüsse nicht nur Schulden exportiert, sondern auch Arbeitslosigkeit. Insofern ist es nur konsequent, dass die Massen der ökonomisch "Überflüssigen" sich gerade den Exportüberschussweltmeister BRD als Zufluchtsort aussuchen.

Eine "Rückkehr" in frühere - heute gern idealisierte - kapitalistische Formationen, wie den Sozialstaat der 70er oder die Wirtschaftswunderwelt der 50er ist selbstverständlich angesichts der dargelegten historischen und irreversiblen Krisendynamik absolut illusionär.

Jeder Appell, der eine Rückkehr zur Nation als Krisenantwort propagiert, führt ins sozioökonomische wie politische Desaster und kann nur als erzreaktionär bezeichnet werden. Die auch von Teilen einer konservativen Linken propagierte Rückkehr zur Nation kann angesichts der Krisenreife nur einen weiteren Schritt in die Barbarei gleichkommen.

Hieraus, aus eben diesem systemischen, systemimmanent unkontrollierbaren Krisenprozess, resultieren die von Müller eingangs beklagten widersprüchlichen Erscheinungen, wo eine ökonomisch ohnmächtige nationalistische Politik massenhaften Zulauf und Aufwind erhält, während die globale ökonomische Verflechtung den Nationalstaat eigentlich obsolet macht. Doch zugleich kann der Kapitalismus nicht aus seiner nationalstaatlichen Hülle heraus, da die politische Konkurrenz der Staatsapparate nur die Fortsetzung der allgemeinen ökonomischen Konkurrenz darstellt, die ja konstitutiv für den Kapitalismus ist.

Deswegen klagt ja Müller, dass die "europäische Integration" auf "halbem Wege stecken geblieben" sei, da es tatsächlich keine nennenswerten europäischen Machtzentren gibt, die als trans- oder postnational bezeichnet werden könnten. Brüssel ist kein europäischer Machtfaktor, die Entscheidungen fallen seit Krisenausbruch explizit in den Hauptstädten - insbesondere in Berlin.

Die EU war schon immer eine durch den Krisenprozess befeuerte Kampfarena, auf der wechselnde europäische Nationalkoalitionen ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Solange die europäische Verschuldungsdynamik aufrechterhalten werden konnte, deren Dynamisierung erst die Eurozone ermöglichte, fiel dies nur der breiten Öffentlichkeit nicht auf, weil die entsprechenden Defizitkonjunkturen allen Beteiligten das Gefühl verschafften, an einem allgemein vorteilhaften "Integrationsprozess" beteiligt zu sein.

Die nationalen Machtkämpfe, die vor dem Ausbruch der Eurokrise hinter geschlossenen Brüsseler Türen abliefen, traten mit der Eskalation der Krisenkonkurrenz nach Ausbruch der Eurokrise mit voller Wucht an Tageslicht.

Eine Überwindung der kollabierenden Nationalstaaten, die in ihrer Agonie sich wechselseitig an die Gurgel zu gehen versuchen, ist aber nur jenseits des Kapitalismus, jenseits der kollabierenden Kapitalvergesellschaftung mit all ihren Vermittlungsebenen möglich. Es mag illusionär erscheinen, die Nation, den Markt, das Geld, den Staat überwinden zu wollen, aber rein negativ ist dies längst der Fall.

Die Krise des Kapitals lässt all diese durch das Kapital hervorgebrachten Formen der negativen Vergesellschaftung zerfallen. Wiederum hilft hier ein Blick gen Süden. Die Staaten, die nationalen "Volkswirtschaften" und Märkte sind in den Failed States der Periphere längst in Geschichte übergegangen. In Zimbabwe wurde Geld zum Drucken von Zeitungswerbung benutzt.

Der Leviathan und das Racket bilden die beiden Mahlsteine, die im kapitalistischen Barbarisierungsprozess die zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 10.000 Jahre zu zermahlen drohen. Die - bisherigen - Endpunkte dieser Entwicklung sind in Nordkorea und Somalia zu finden. 1984 oder Mad Max? Dies ist die Wahl, die der Krisenprozess systemimmanent den Insassen der zusammenbrechenden kapitalistischen Tretmühle lässt.

Das historische Ende der - von der herrschenden Ideologie für Naturgesetzte gehaltenen - anachronistischen formen kapitalistischer Vergesellschaftung ist somit unvermeidlich, da es aus den inneren Widersprüchen des Kapitals resultiert; es stellt sich nur die Frage, ob dies auch in den Zentren in der Form eines barbarischen Zusammenbruchs sich vollziehen wird, oder vermittels emanzipatorischer Aufhebung und Transformation in eine postnationale und postkapitalistische Gesellschaftsformation - was nur durch eine breite antikapitalistische Bewegung möglich wäre, die den kategorialen und praktischen Bruch mit der Kapitalvergesellschaftung wagen würde.

Drohender Eintritt in den "Weltbürgerkrieg"

Es sieht nun wirklich nicht gut aus: Die Ahnung vom nahenden Ende der Nation löst massenhaft eine reaktionäre Rückbesinnung auf die als Kampfgemeinschaft verstandene Nation hervor. Die bösartige Panik in den Foren, die überschäumende Wut, die all die Gossen des Internets überflutet und sich immer öfter in pogromartigen Aufmärschen oder Brandanschlägen manifestiert - sie sind Vorboten der kommenden Barbarei. Selbst der gemeine und grenzdebile Forentroll ahnt, dass eine gewaltige Erschütterung auf ihn zukommt.

Die abgetakelte Idee der Nation fungiert hier nur noch als oberflächliches Legitimationsmuster im drohenden Eintritt Europas in den Weltbürgerkrieg, der in der Peripherie des kapitalisierten Weltsystems längst schon tobt - und der die Nationen in Anomie versinken lässt. Der kaum noch einzudämmende Hass im Netz, die zur mörderischen Tat drängende Wut der ohnmächtigen spätkapitalistischen Subjekthüllen, sie könnten nur Vorstufen des drohenden Gemetzels darstellen:

Die Menschen bemächtigen sich zunächst der Sprache der Gewalt, bevor sie zu Akten der Gewalt übergehen.

Diese während des Jugoslawienkrieges gemachte Beobachtung des US-Journalisten Chris Hedges, sie gilt nun auch für das im nationalistischen Delirium versinkende Europa.

Die größte Tragik der historischen Widerspruchsentfaltung des kapitalistischen Sysems bestehe lauf dem Krisentheoretiker Robert Kurz darin, "dass sich die menschlichen Individuen nach mehr als 400 Jahren Marktwirtschaft inzwischen selber als diese wahnsinnigen Raubaffen unterstellen, zu denen man sie ideologisch deklariert hat, obwohl sie in ihrer Mehrheit tatsächlich bloß das lebende Futter für den Verwertungsprozess des Kapitals sind".

Wie sehr diese absurde kapitalistische Zurichtung zum "wahnsinnigen Raubaffen" den spätkapitalistischen Subjekthülsen ins Blut übergegangen ist, enthüllt ein kurzer Blick in all die Internetforen, die nicht Penibel zensiert und gesäubert werden.

Der wichtigste Hort des spätkapitalistischen "wahnsinnigen Raubaffen" ist die Mittelklasse, jene prekäre Schicht, die sich nach Oben orientiert und nach Unten abzudriften droht. Hier ist die Produktion von Panik am Ausgeprägtesten, die Mentalität des "Rette sich, wer kann" am Stärksten verbreitet. Die Nation gilt hier inzwischen als Trutzburg, in der man sich abschotten könne.

Mittels eines verstärkten Grenzregimes, durch den Ausschluss der Flüchtlinge, der Krisenverlierer (durch deren inzwischen offen diskutierte Konzentrierung in Lagern in Nahost), hofft man auch, die Krise draußen halten zu können. Es würde reichen, die Grenzen tatsächlich mal drei Wochen für deutsches Kapital und deutsche Waren zu schließen, um dieses Wahngebilde zu entkräften.

Und selbstverständlich stellt dieser neue alte Nationalismus nur ein Übergangs- und Verfallsphänomen dar, das den voranschreitenden Barbarisierungsprozess begleitet. Die Angst vor islamistischen Banden instrumentalisierend, formieren sich nun rechtsextreme Banden (Von grünen und braunen Faschisten).

Es ist gerade diese im Namen der Nation drohende Bandenherrschaft, die den Zerfall der Nation beschleunigt, wie etwa das Beispiel der Ukraine illustriert, wo die unzähligen faschistischen Banden und Milizen für eine Großukraine kämpfend den Zerfall des Landes forcieren. Inzwischen kämpfen die Milizen des Rechten Sektors nicht mehr gegen das "russische Imperium", sondern - ganz wie ihre Vorbilder aus den Elendsregionen der Peripherie - um die Kontrolle von Schmuggelrouten und Schwarzmärkten.

Alle wollen Irgendwen hängen sehen. Die Wut fordert Opfer, damit alles wieder gut werden kann. Die Naturalisierung des Kapitalismus geht mit einer Personifizierung der unverstandenen systemischen Krisenursachen einher, sodass die Suche nach Sündenböcken für den sich immer deutlicher Abzeichnenden Kollaps des Kapitals inzwischen manische Züge erreicht hat.

Die Feindbilder des im Internet grassierenden Raubaffen wechseln - oftmals noch durch die unter zunehmenden Kontrollverlust leidenden Massenmeiden angefacht - fast im Tagesrhythmus. Gestern war es noch der Grieche, vorgestern der Russe, heute ist es der Araber, übermorgen eventuell wieder der Jude. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit den Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit, die ja ebenfalls durch eine mörderische Personifizierung von unverstandenen gesellschaftlichen Umbrüchen befördert wurden.

Das andere Extrem zu diesen manischen Sündenbocksuchen stellt ein ohnmächtiges Systemdenken dar, bei dem die gegenwärtigen Akteure in Wirtschaft und Politik exkulpiert werden. Bei dieser Sichtweise scheint es so, als ob die Verantwortlichen vor lauter Systemzwängen und objektiven Strukturgesetzten nicht mehr auszumachen wären.

Die konkreten Täter verschwinden hinter dem zerstörerischen Walten des automatischen Subjekts der kollabierenden Verwertungsdynamik des Kapitals. Insbesondere während der letzten Griechenlandkrise - des brutalen Exempels, das Deutschland an Griechenland exekutiere - hat sich ein guter Teil der deutschen Linken auf diese bequeme Position zurückgezogen. Dass der Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft, wo die marktvermittelten Handlungen der Marktsubjekte diesen als eine fremde, quasi-objektive Kraft entgegentreten, keineswegs zu einer Exkulpierung der Taten der Täter führt, hat der Krisentheoretiker Robert Kurz schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts dargelegt:

Wenn nun der gemeinsame Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, Warenform, Staatsbürgerlichkeit usw. ins Blickfeld der Kritik rückt, wo bleibt da die Verantwortlichkeit? Kann man einen blinden Strukturzusammenhang, kann man das automatische Subjekt für irgend etwas verantwortlich machen, und sei es das größte Verbrechen? Und umgekehrt: Wenn die kapitalistische Barbarei letzten Endes in den stummen Zwängen der Konkurrenz usw. angelegt ist, sind dann nicht die barbarischen Taten der hässlichen Manager, der schmutzigen Politiker, der bürokratischen Krisenverwalter, der blutigen Schlächter des Ausnahmezustands irgendwie entschuldigt, weil immer bedingt und eigentlich durch die subjektlosen Strukturgesetze der "zweiten Natur" verursacht?

Eine solche Argumentation vergisst, dass der Begriff des automatischen Subjekts eine paradoxe Metapher für ein paradoxes gesellschaftliches Verhältnis ist. Das automatische Subjekt ist keine aparte Wesenheit, die für sich irgendwo dort draußen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.

Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muss diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewusstsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der hässliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter.

Das ungeheuere Angst- und Drohpotential dieser Gesellschaft muss tagtäglich verarbeitet werden, und jeden Moment treffen die Individuen dabei Entscheidungen, die niemals völlig alternativlos sind - weder im alltäglichen kleinen noch im gesellschaftlich-historischen großen Maßstab. Niemand ist einfach nur eine willenlose Marionette, sondern alle müssen die haarsträubenden Widersprüche, die Ängste und Leiden dieses Banns selber ausagieren.

Deshalb ist es kein Widersinn, die notwendige Gesellschaftskritik auf die Ebene der sozial übergreifenden Strukturen, auf die abstrakte Arbeit und das automatische Subjekt zu richten, gleichwohl aber die handelnden Individuen für ihr Tun verantwortlich zu machen, auch wenn ihre gesellschaftliche Charaktermaske ihnen den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nahelegt.

Marx Lesen, Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert., 2000

Eine Angela Merkel und ein Wolfgang Schäuble sind genauso für all das voll verantwortlich, was sie Griechenland und Südeuropa angetan haben, wie der gemeine Forentroll für all die Hetze verantwortlich ist, die er im Netz absondert - auch wenn vermittels dieser Handlungen nur die systemische Krisendynamik exekutiert wird.