Die Nation in der Krise

Seite 4: Drohender Eintritt in den "Weltbürgerkrieg"

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Es sieht nun wirklich nicht gut aus: Die Ahnung vom nahenden Ende der Nation löst massenhaft eine reaktionäre Rückbesinnung auf die als Kampfgemeinschaft verstandene Nation hervor. Die bösartige Panik in den Foren, die überschäumende Wut, die all die Gossen des Internets überflutet und sich immer öfter in pogromartigen Aufmärschen oder Brandanschlägen manifestiert - sie sind Vorboten der kommenden Barbarei. Selbst der gemeine und grenzdebile Forentroll ahnt, dass eine gewaltige Erschütterung auf ihn zukommt.

Die abgetakelte Idee der Nation fungiert hier nur noch als oberflächliches Legitimationsmuster im drohenden Eintritt Europas in den Weltbürgerkrieg, der in der Peripherie des kapitalisierten Weltsystems längst schon tobt - und der die Nationen in Anomie versinken lässt. Der kaum noch einzudämmende Hass im Netz, die zur mörderischen Tat drängende Wut der ohnmächtigen spätkapitalistischen Subjekthüllen, sie könnten nur Vorstufen des drohenden Gemetzels darstellen:

Die Menschen bemächtigen sich zunächst der Sprache der Gewalt, bevor sie zu Akten der Gewalt übergehen.

Diese während des Jugoslawienkrieges gemachte Beobachtung des US-Journalisten Chris Hedges, sie gilt nun auch für das im nationalistischen Delirium versinkende Europa.

Die größte Tragik der historischen Widerspruchsentfaltung des kapitalistischen Sysems bestehe lauf dem Krisentheoretiker Robert Kurz darin, "dass sich die menschlichen Individuen nach mehr als 400 Jahren Marktwirtschaft inzwischen selber als diese wahnsinnigen Raubaffen unterstellen, zu denen man sie ideologisch deklariert hat, obwohl sie in ihrer Mehrheit tatsächlich bloß das lebende Futter für den Verwertungsprozess des Kapitals sind".

Wie sehr diese absurde kapitalistische Zurichtung zum "wahnsinnigen Raubaffen" den spätkapitalistischen Subjekthülsen ins Blut übergegangen ist, enthüllt ein kurzer Blick in all die Internetforen, die nicht Penibel zensiert und gesäubert werden.

Der wichtigste Hort des spätkapitalistischen "wahnsinnigen Raubaffen" ist die Mittelklasse, jene prekäre Schicht, die sich nach Oben orientiert und nach Unten abzudriften droht. Hier ist die Produktion von Panik am Ausgeprägtesten, die Mentalität des "Rette sich, wer kann" am Stärksten verbreitet. Die Nation gilt hier inzwischen als Trutzburg, in der man sich abschotten könne.

Mittels eines verstärkten Grenzregimes, durch den Ausschluss der Flüchtlinge, der Krisenverlierer (durch deren inzwischen offen diskutierte Konzentrierung in Lagern in Nahost), hofft man auch, die Krise draußen halten zu können. Es würde reichen, die Grenzen tatsächlich mal drei Wochen für deutsches Kapital und deutsche Waren zu schließen, um dieses Wahngebilde zu entkräften.

Und selbstverständlich stellt dieser neue alte Nationalismus nur ein Übergangs- und Verfallsphänomen dar, das den voranschreitenden Barbarisierungsprozess begleitet. Die Angst vor islamistischen Banden instrumentalisierend, formieren sich nun rechtsextreme Banden (Von grünen und braunen Faschisten).

Es ist gerade diese im Namen der Nation drohende Bandenherrschaft, die den Zerfall der Nation beschleunigt, wie etwa das Beispiel der Ukraine illustriert, wo die unzähligen faschistischen Banden und Milizen für eine Großukraine kämpfend den Zerfall des Landes forcieren. Inzwischen kämpfen die Milizen des Rechten Sektors nicht mehr gegen das "russische Imperium", sondern - ganz wie ihre Vorbilder aus den Elendsregionen der Peripherie - um die Kontrolle von Schmuggelrouten und Schwarzmärkten.

Alle wollen Irgendwen hängen sehen. Die Wut fordert Opfer, damit alles wieder gut werden kann. Die Naturalisierung des Kapitalismus geht mit einer Personifizierung der unverstandenen systemischen Krisenursachen einher, sodass die Suche nach Sündenböcken für den sich immer deutlicher Abzeichnenden Kollaps des Kapitals inzwischen manische Züge erreicht hat.

Die Feindbilder des im Internet grassierenden Raubaffen wechseln - oftmals noch durch die unter zunehmenden Kontrollverlust leidenden Massenmeiden angefacht - fast im Tagesrhythmus. Gestern war es noch der Grieche, vorgestern der Russe, heute ist es der Araber, übermorgen eventuell wieder der Jude. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit den Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit, die ja ebenfalls durch eine mörderische Personifizierung von unverstandenen gesellschaftlichen Umbrüchen befördert wurden.

Das andere Extrem zu diesen manischen Sündenbocksuchen stellt ein ohnmächtiges Systemdenken dar, bei dem die gegenwärtigen Akteure in Wirtschaft und Politik exkulpiert werden. Bei dieser Sichtweise scheint es so, als ob die Verantwortlichen vor lauter Systemzwängen und objektiven Strukturgesetzten nicht mehr auszumachen wären.

Die konkreten Täter verschwinden hinter dem zerstörerischen Walten des automatischen Subjekts der kollabierenden Verwertungsdynamik des Kapitals. Insbesondere während der letzten Griechenlandkrise - des brutalen Exempels, das Deutschland an Griechenland exekutiere - hat sich ein guter Teil der deutschen Linken auf diese bequeme Position zurückgezogen. Dass der Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft, wo die marktvermittelten Handlungen der Marktsubjekte diesen als eine fremde, quasi-objektive Kraft entgegentreten, keineswegs zu einer Exkulpierung der Taten der Täter führt, hat der Krisentheoretiker Robert Kurz schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts dargelegt:

Wenn nun der gemeinsame Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, Warenform, Staatsbürgerlichkeit usw. ins Blickfeld der Kritik rückt, wo bleibt da die Verantwortlichkeit? Kann man einen blinden Strukturzusammenhang, kann man das automatische Subjekt für irgend etwas verantwortlich machen, und sei es das größte Verbrechen? Und umgekehrt: Wenn die kapitalistische Barbarei letzten Endes in den stummen Zwängen der Konkurrenz usw. angelegt ist, sind dann nicht die barbarischen Taten der hässlichen Manager, der schmutzigen Politiker, der bürokratischen Krisenverwalter, der blutigen Schlächter des Ausnahmezustands irgendwie entschuldigt, weil immer bedingt und eigentlich durch die subjektlosen Strukturgesetze der "zweiten Natur" verursacht?

Eine solche Argumentation vergisst, dass der Begriff des automatischen Subjekts eine paradoxe Metapher für ein paradoxes gesellschaftliches Verhältnis ist. Das automatische Subjekt ist keine aparte Wesenheit, die für sich irgendwo dort draußen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.

Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muss diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewusstsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der hässliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter.

Das ungeheuere Angst- und Drohpotential dieser Gesellschaft muss tagtäglich verarbeitet werden, und jeden Moment treffen die Individuen dabei Entscheidungen, die niemals völlig alternativlos sind - weder im alltäglichen kleinen noch im gesellschaftlich-historischen großen Maßstab. Niemand ist einfach nur eine willenlose Marionette, sondern alle müssen die haarsträubenden Widersprüche, die Ängste und Leiden dieses Banns selber ausagieren.

Deshalb ist es kein Widersinn, die notwendige Gesellschaftskritik auf die Ebene der sozial übergreifenden Strukturen, auf die abstrakte Arbeit und das automatische Subjekt zu richten, gleichwohl aber die handelnden Individuen für ihr Tun verantwortlich zu machen, auch wenn ihre gesellschaftliche Charaktermaske ihnen den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nahelegt.

Marx Lesen, Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert., 2000

Eine Angela Merkel und ein Wolfgang Schäuble sind genauso für all das voll verantwortlich, was sie Griechenland und Südeuropa angetan haben, wie der gemeine Forentroll für all die Hetze verantwortlich ist, die er im Netz absondert - auch wenn vermittels dieser Handlungen nur die systemische Krisendynamik exekutiert wird.