Die Niederlage: Wähler bestrafen Macron

Marine Le Pen. Archivfoto (2007): Antoine Bayet/CC BY-SA 2.0

Rechtsextreme verbuchen historischen Erfolg bei Parlamentswahl in Frankreich. Driftet das Land weiter nach rechts oder eröffnen sich neue Chancen für Klimaschutz und Sozialismus? Update

Die Regierungsbildung in Frankreich wird schwierig. Das Parteienbündnis von Präsident Macron, Ensemble, hat bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen gestern die absolute Mehrheit verloren, aber eine relative Mehrheit mit 246 Sitzen von insgesamt 577 (38,63 Prozent) erreicht. Mit wem will sie zusammenarbeiten und wie?

Stärkste Oppositionsfraktion ist das Bündnis Nupes (Nouvelle Union populaire écologique et sociale) unter Führung von Jean-Luc Mélanchon. Die links-ökologische Parteienkoalition unter politischer Federführung der Partei La France Insoumise hat nach aktuellen Angaben des Innenministeriums, wie sie Le Monde heute Vormittag übermittelt, 142 Sitze (32,6 Prozent) gewonnen.

Deutlich hinzugewonnen, man spricht von einem "historischen" Erfolg, hat die Partei am äußersten rechten Rand, Rassemblement national unter Führung von Marine Le Pen. Sie bekommt in der neuen Nationalversammlung (Assemblée national) 89 Sitze. Das übertrifft sämtliche Wahlergebnisse der Vorgängerpartei, der rechtsextremen Front National.

Angesichts ihres Wahlerfolgs bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen kann man diesen Erfolg für Le Pen und ihre Partei als folgerichtig begreifen. Eine echte Überraschung ist das nicht: Die Partei hat aufgeholt, was ihre Frontfrau vorgemacht und vorgelegt hat.

Niedergang der traditionellen bürgerlichen Rechten ...

Die Partei der konservativen, bürgerlichen Rechten, die in Frankreich als "Droite" (die Rechte) bezeichnet wird, was angesichts der Veränderungen der politischen Landschaft im Nachbarland in der deutschen Leserschaft ab und an für Verwirrung sorgt, Les Républicains (LR), kam zusammen mit ihrem Partner, der liberal-konservativen UDI, auf lediglich 64 Sitze.

Das ist eine weitere Bestätigung dafür, wie sehr sich die politischen Verhältnisse verändert haben. Die französischen Republikaner sind eine Nachfolge-Partei der UMP und RPR, die in den Nachkriegsjahrzehnten mit den Sozialdemokraten (PS) die Besetzung der mächtigsten Positionen, Präsidentschaft und Regierung, unter sich ausmachten.

Ob sich Macrons Partei nun mit diesem bürgerlich rechten Lager zusammentut, um eine Regierung zu bilden oder ob Ensemble versucht, mit einer Minderheitsregierung und dem Instrument des Verfassungsartikels 49-3 Gesetze von Fall zu Fall ohne parlamentarische Mehrheit durchzusetzen, ist eine der Fragen, die die politische Öffentlichkeit in Frankreich heute und die kommenden Tage beschäftigen wird.

Wie bereits angedeutet, kommen noch andere sehr wichtige Fragen hinzu: Wie konnte die äußerste parlamentarische Rechte, die RN von Le Pen, so viel hinzugewinnen? Wie kam es, dass das extrem rechte Lager noch weiter gestärkt wird?

Berichte deuten darauf hin, dass die traditionelle Abwehr gegen Le Pens Partei, in Frankreich "barrage" genannt, nicht mehr funktioniert hat. Während man früher darauf zählen konnte, dass sich die bürgerliche Rechte bei Wahlentscheidungen, die erwartungsgemäß knapp ausfallen, bei ihrer Wählerschaft dafür plädierte, für den oder die Gegenkandidaten/in zu stimmen – aus einer Verpflichtung zum republikanischen Geist heraus –, war das diesmal in wichtigen Wahlbezirken anders.

Die bürgerliche Rechte half stattdessen der extremeren Rechten. Das spricht für eine nachhaltige Rechtsdrift in Frankreich.

... und ihr Sieg

Dieser Verlagerung nach rechts hat Macron in manchen Punkten stark nachgeholfen, etwa bei der Frage der Grenzziehung zwischen "Islam und Islamismus", um es grobkörnig zu formulieren; bei der Verschärfung von Gesetzen zur Migration, bei der Inneren Sicherheit, exemplarisch abzulesen an der Härte der Polizei bei Demonstrationen, und in der Trendwende bei der Sozialpolitik zugunsten einer unternehmerfreundlichen Politik, um es sachte auszudrücken. Neoliberalismus und "Präsident der Reichen" sind Schlagwörter für diesen Kurs.

Hier gibt es größere Schnittmengen der Partei Macrons (Renaissance, früher La République en Marche) mit den französischen Republikanern, die aber freilich, ähnlich wie die FDP hierzulande (und auch die Union ist vor diesen Ängsten nicht gefeit), darauf achten müssen, in einer Koalition nicht weiter ihr Profil zu verlieren. Das ist, wie zuletzt das Abschneiden der LR-Spitzenkandidatin bei Präsidentschaftswahl gezeigt hat, eine existenzielle Angelegenheit für die Partei geworden.

Dass Sarkozy, der frühere Präsident aus der Vorgängerpartei UMP, hinter der letzten Regierungsbildung von Macron stand, dort "seine" Leute unterbrachte und sich zuletzt auch für Macron und seine Partei aussprach, markiert eine Verschiebung und steht für einen Machtverlust der Republikaner in einem wichtigen Teil der Eliten.

Ergänzung: Doch trotz alledem: Nicht zu übersehen ist, dass die Republikaner durch das Wahlergebnis die Rolle des Königsmachers bekommen haben.

Eine Koalition aus Ensemble und LR wird, wie sich in Medienberichten andeutet, wahrscheinlich die Regierung stellen. Das ist einerseits eine seltsame Cohabitation, nicht "rechts-links" oder "links-rechts", wie man das aus der Vergangenheit kennt, sondern mit zwei Machtpolen, Präsident und Regierungsparteien, die man beide als rechte Mitte bezeichnen kann.

Sie sind sich, wie schon angesprochen, in vielen Fragen sehr nah, z.B. in der Sozialpolitik und in der Rentenfrage und nicht zuletzt in ihrer Haltung zur EU.

"Genug von der Politik, die sich immer nur wiederholt"

Was aber ist mit dem großen Teil der Bevölkerung, wie sehen da die Orientierungen aus? Dazu liefert die Parlamentswahl ein sehr deutliches Signal, das immer wieder verdrängt wird, wenn es um ernsthafte Politik geht, also um Entscheidungen und nicht um schöne Reden: die Abkehr vieler Französinnen und Franzosen von Wahlen, die ja stets als großer, wichtiger Ausweis einer Demokratie herausgestellt werden.

Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten enthielten sich einer gültigen Stimmabgabe. Die Wahlbeteiligung lag bei 46,2 Prozent; 5,5 Prozent gaben leere Stimmzettel ab, 2,1 Prozent ungültige Stimmzettel. Dokumentiert wird damit das Gefühl, dass man sich von einem Politikwechsel bzw. den angebotenen Alternativen nichts verspricht. Es ist eine Abkehr, die sich schon seit längerem zeigt.

Analysen gibt es seit mehreren Jahren, ein Rezept dagegen wurde noch nicht gefunden oder überhaupt nicht angegangen, weil die etablierten Parteien und ihre politischen Vertreter keine Macht abgeben wollen. Man muss sich dazu nur die Diskussionen über Instrumente der direkten Demokratie anschauen.

Mélenchon beschwört das Ende der Ära der maroden Politik

Wie sich das Wahlergebnis für das Bündnis von Mélenchon auswirken wird, inwieweit es sich in eine konkrete politische Hebelwirkung übersetzen lässt, dazu werden sich die ersten Konturen im Entwicklerbad der nächsten Tage abzeichnen. Macron muss, das wird ihn auch nicht überraschen, mit einer neuen starken Fraktion im Parlament rechnen, die über eine substantielle Unterstützung auf den Straßen, in den Medien und in der Bevölkerung verfügt.

Dass sich solche Bündnisse leicht zerstreiten, wird er sich zunutze machen. Eine Vorlage dafür gibt ihm die polemische Moräne, die die konservative bürgerliche Rechte schon länger in die Landschaft geschoben hat, in dem sie die Politik, die Mélenchon vertritt, mit "linksextrem" oder "popularistisch" etikettiert. Das lässt sich in der Öffentlichkeit opportun verwenden.

Wer sich das genauer anschaut und die politischen Ziele der Nupes mit dem Programm des 1981 gewählten Präsidenten Mitterand vergleicht, der oder die wird schnell darüber staunen, was heute als "linksextrem" bezeichnet wird. Mitterand, damals Kandidat der sozialdemokratischen Linken (PS), war da sehr viel radikaler in seinen politischen Forderungen, wie etwa bei den - erfolglosen -Verstaatlichungen großer Unternehmen zu sehen.

Die Gleichsetzung mit "rechtsextrem", wie sie in der Polemik häufig auftaucht, ist allein schon mit dem Blick auf den Umgang mit Menschenrechten, wie er von Marine Le Pen vertreten wird, nicht zu halten. Auch die "Deutschfeindlichkeit", die Mélenchon hierzulande kampagnenhaft vorgehalten wird, ist ein Kostüm, das man ihm gerne umhängt, wenn es darum geht, seine Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik und ihre Rolle in der EU weg von den Inhalten, über die zu sprechen nötig ist, zu ziehen.

Mélenchon selbst hofft in ersten Reaktionen auf einen neuen politischen Kurs in Frankreich:

Je schwerer es die marode alte Welt, in der wir leben, damit hat, sich politisch zu halten, desto größer ist die Möglichkeit für uns. Je schwerer es der Kapitalismus hat, Schaden anzurichten, desto größer ist die Möglichkeit für den Solidarismus (solidarisme).

Jean-Luc Mélenchon

Auch hier fehlen noch die Inhalte.