Die "Nose-to-Tail"-Bewegung hat die Vegetarier erreicht

Holunderblüten. Bild: JeLuF / CC-BY-1.0

Alte Sorten und "Unkräuter" sorgten für neue Geschmackserlebnisse - Impressionen aus dem eigenen Garten

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Wenn die Salbeiernte hereingeholt wird, sind meine Haare voller kleiner gelber Blüten, ich sehe aus wie eine Braut. Unser Holunder oder Holler, wie er hier genannt wird, hat seine weißgelben Tropfen auf mich regnen lassen. Ab April wird aus dem kargen, zurechtgestutzten Zwerg ein Riese, der erst mit weißen kleinen Blüten, dann mit grünen, roten und zuletzt schwarzen Beeren zwischen seinen grünen Blättern immer einen neuen Look anbietet. Sein gigantischer Schirm sorgt für Schatten und beschützt derzeit auch noch unsere Ente Duck, die sich entschlossen hat, auf dem Hochbeet zu brüten und mittlerweile sieben kleine Flauschbällchen der Familie zugeführt hat.

Das Hochbeet ist die Renaissance unseres Metallbettes, das nicht mehr benötigt wurde. Umrahmt von Backsteinen und gefüllt mit Stroh, Erde, Kompost und Biomüll wurde es zum so zum Bett oder Beet und lockt zeitgleich viele Insekten und auch Eidechsen an, die blau- und grünschillernd zwischen den Backsteinen ihr Reich gegründet haben. Auch wenn Banjo, einer unserer Kater, zu seinen Lebzeiten als "Lizzard Killer" bekannt, die Population dezimierte, scheinen sie doch große Kolonien zu haben, denn immer und immer wieder wieseln die kleinen Gesellen durch die Gegend Ebenso wie ihre Freunde, die Nashorn- und Hirschgeweihkäfer, die hier wie auch die Weinbergschnecken ihre Zelte aufgeschlagen haben.

Doch unser Freund Holl(g)er, wie ich ihn gerne nenne, ist nicht nur eine optische Augenweide, er sorgt auch kulinarisch für Arbeit und Genuss. Schon bevor die Blüten die Umgebung in einen weißen Schleier tauchen, können die Blätter für Tee getrocknet (oder als Jauche angesetzt werden, die, in die Gänge eines Maulwurfes gegeben, diesen abschrecken). Und Holger produziert Unmengen an Blättern, so dass der Vorrat nicht abreißt. Doch am meisten liebe ich seine Blüten, gelbweiße Sternchen, die bei jeder Bewegung, jedem Lüftchen aus die Erde unter ihm herabrieseln.

Und was sich alles aus ihnen machen lässt! In großen Mengen wandern sie in Eimer, in denen sie mit Zitronen, Wasser und Zucker je nach Mischverhältnis zu Sirup, Holundersekt oder -essig mutieren. Ein lautes Klirren kündigt dem Hobby"sektierer" an, dass er zu dünnwandige Flaschen genutzt oder zu wenig Platz für die Nachgärung des Hollersekts berücksichtigt hat, dann heißt es aufräumen und das nächste Mal doch entweder auf PET-Flaschen oder aber Sektflaschen setzen, denn nur so hält das Glas die stattfindende Gärung aus. Hollger könnte für ein ganzes Menü sorgen, angefangen von Holunderblüten in Ausbackteig, Holunderbowle, Holundereis bis hin zu einem Salat aus Wildkräutern und Holunderblüten.

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Holunderbeeren. Bild: H. Zell - Aischenes Weag. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Erst im Herbst wird die Zeit der Hollerbeeren anbrechen, doch schon jetzt wandern Blüten in Netze, um, getrocknet, später zusammen mit den Beeren und klarem Korn zu einem Holunderlikör zu werden, sorgen bei Zucker, Salz oder in Teemischungen für Vielfalt. Und der Geruch eines Holunderbeersuppe, die mit Schneeklößchen und Zimt serviert wird, sorgt for nostalgische Erinnerungen.

Doch auch in der Zeit, in der die Blüten nicht mehr und die schwarzen Beeren noch nicht verfügbar sind, hat Hollger etwas zu bieten, was vielen eher unbekannt ist: Hollerkapern. Wie auch die Knospen von Löwenzahn, Gänseblümchen und Kapuzinerkresse, lassen sich die grünen Beeren, ein paar Tage in Salzwasser angesetzt, abgespült und schließlich in Essig eingelegt, wie Kapern konservieren und sind dabei weitaus aromatischer als jene, die es zu kaufen gibt. Und auch hier gilt: mit dem eigenen Garten sind der Kreavität wenig Grenzen gesagt - ein Hauch bitterer Giersch da, etwas Weinlaub dort oder darf es vielleicht doch eher Kapern in Rosenessig mit Ingwer sein? Bis zum 24. Juni finden auch die grünen Walnüsse Abnehmer - mit Gewürzen, Rotwein, Korn oder Wodka gemischt dürfen sie bis Weihnachten durchziehen um einen exquisiten Likör abzugeben oder sie landen (in Scheiben geschnitten) in Zuckersirup, um im nächsten Jahr im Sommer zu Vanilleeis gereicht zu werden.

(Un)kraut und Rübent

Genauso wie Holger Holler beginnt schon früh das "Unkraut" unserem Garten seinen ganz eigenen Touch zu verpassen. Hirtentäschel, Giersch, Vogelmiere, Brenn- und Taubnesseln geben sich ein Stelldichein. Was tun? Hacken? Zupfen? Unkrautvernichter? Für mich heißt es: Salatschüsseln raus und los geht es.

Gerade der Giersch, für viele schlichtweg ein Albtraum, hat es in den letzten Jahren geschafft, sein schlechtes Image abzuschütteln und landet nun in Suppen, Salaten oder als Gemüsebeleilage auf dem Tisch. Vorbei die Zeit, in der Hobbygärtner jahrelang ihr Gierschbeet mit Zeitungen abdeckten und hackten und jäteten, bis es endlich, frei vom lästigen "G.", für den vitaminreichen und arbeitsintensiven Spinat oder Feldsalat zur Verfügung stand. Dass der wuchernde Giersch auch seine nicht geringe Menge an Mineralstoffen, Vitamin C und Eisen mit sich bringt, ist nun kein Geheimnis mehr und daher darf er sich, wie auch hier, wieder ausbreiten, muss dafür allerdings ein paar Blätter und Stiele lassen; ein Schicksal, das er mit den Brennesseln teilt.

Bei ihr landen allerdings auch die Samen im Trocknungsbeutel, auf dass sie demnächst über Früchte oder Müsli gestreut werden können, die Blüten dürfen allerdings die Schmetterlinge und Falter anlocken, die uns im Sommer mit ihrer Pracht erfreuen. Selbst ein Admiral hat sich im letzten Jahr zu meiner Freude im Garten sein Plätzchen gesucht. Der Sommerflieder zieht, gemeinsam mit Ananassalbei, auch viele dieser liebreizenden flatternden Freunde an, so dass sich, sehr zur Faszination der Katzen, ein buntes Gewimmel über den Sträuchern und Kräutern erhebt.

Kater Maxwell Sheffield erlebt dieses Jahr seine erste Sommersaison und für ihn ist der Garten ein einziges Wunderland. Herabrieselnde Rosenblätter, schattenspendender Holunder, aus dem Nichts erwachsende Grashalme und ein Heer verschiedenster Flügelwesen reizen ihn zu immer neuen Bocksprüngen und Jagdversuchen.

Auch wenn den meisten die Brennessel eher wegen ihrer lästigen Haare bekannt ist, so ist sie doch kulinarisch durchaus einen Blick wert. Beherzt zugreifen und die "Rheumakur" in Kauf nehmen oder Handschuhe tragen ist natürlich angesagt, wenn die großen Büsche bei uns geerntet werden, doch spätestens, wenn das Marmornudelholz einmal über die Pflanzen fährt, ist die Haargefahr gebannt. Der Geschmack der Brennessel ist eher mild, fast subtil, aber im Zusammenspiel mit anderen (Wildkräutern) ergibt sich eine pikante Note in einer Kräuterbutter oder auch in einer einfachen Wildkräutersuppe.

Der vorgenannte Giersch landet einfach zusammen mit Brennesseln, Hirtentäschelkraut, Melde und Vogelmiere im Topf, Zwiebeln, Wasser und ein wenig gekörnte Brühe kommen hinzu, ggf. wird mit Sahne abgeschmeckt - fertig. In den Sommermonaten bilden die Blüten der Kapuzinerkresse hübsche Farbtupfer. Und zusammen mit Hasel- oder Walnüssen, Öl und geriebenem Käse wird aus all dem "Unkraut" ein Pesto, dass es ohne weiteres mit Gekauftem aufnehmen kann.

Das Praktische an unseren Wilden ist, dass sie oft genug gleich das Ökosystem bereichern und anders als die "Kultivierten" mit wenig Hege und Pflege auskommen. Da viele Pflanzen und Gemüsesorten das Jahr über Arbeit bedeuten, ist es willkommen, dass zwischen ihnen jene wuchern, die uns ganz ohne Düngen, Hacken… mit ihren guten Eigenschaften erfreuen. Und was zuviel ist, landet in Eimern und darf als Jauche dann die anderen unterstützen in ihrem Wachstum.

Ist das Abfall oder essen wir das heute?

Obwohl viele die Wildkräuter und den Spaß auch an alten Sorten (wieder)entdeckt haben, gibt es erst in jüngster Zeit eine sogenannte "Essbewegung", die sich an der Idee des "Nose to Tail" orientiert. "Nose to Tail" ist ein Titel eines Rezeptebuches, das aufzeigt, wie ein Tier (in dem Fall ein Schwein), wenn es schon geschlachtet wird, fast gänzlich verwertet wird - samt Blut, Innereien, Schwanz, Rüssel und Klauen. Das planzliche Gegenstück heißt "Leaf to Root" und findet momentan etliche begeisterte Gastronomen, die sich dieser Idee verschreiben.

Für die zuliefernden Bauern eine günstige Situation, da sie nunmehr auf das bisherige Vorputzen des Gemüses verzichten können, Radieschen, Karotten, Rüben oder Zwiebeln wandern mit Grün und Wurzel in die Lieferboxen und werden auch entsprechend verwertet. Dabei experimentierten die Köche, so dass auch für den Privathaushalt interessante Ideen herauskommen. Ein Beispiel hierfür ist ein Johannisbeereis, das mit den gerösteten Johannisbeerhölzern, die sowieso beim Schnitt anfallen, aromatisiert wird.

Auch wenn wir keinen Gemüseabfall im herkömmlichen Sinne haben, da alles zu Enten- und Gänsefutter avanciert, so ist es doch auch ein Erlebnis herauszufinden, was wie verwertet werden kann, ohne dass dies in eine Menge Arbeit mündet. Vielen ist ja die Idee des Gärtnerns eher suspekt weil sie befürchten, dass sie dann gar keine Freizeit mehr haben und es wäre gelogen zu sagen, dass ein Garten keinerlei Arbeit bedeutet, aber neben Sinnstiftung ist es gerade auch die Vielfalt, die mich erfreut. Und die Möglichkeiten, die es gibt, möglichst vieles, was beim Kochen oder Backen … normalerweise als "Abfall" in die Biotonne oder in den Enteneimer wandern würde, noch einem praktischen Zweck zuzuführen. Der beim Entsaften entstandene Trester kann so z.B. gleich als Suppe, Sauce oder, eingesalzen und ggf. getrocknet, als Brühenextrakt dienen, je nach Entsaftetem ist er auch als Brotzusatz geeignet, z.B. wenn Fenchel entsaftet wird.

Die "Leaf to Root"-Köche verwerten fast alles, Wurzeln, Blätter, Zweige werden geschreddert, erhitzt, feingemahlen, in Traubenkernöl ziehen gelassen oder als Salat genutzt. Das eröffnet nicht zuletzt auch neue geschmackliche Horizonte und lässt mich den Blick auf manches, was im Garten wächst, verändern.

War früher somit noch das Holz vom Johannisbeerstrauch schlichtweg etwas, was entweder im Müll oder, gehäckselt, auf den Wegen landete, ist es jetzt Eiszutat. Schweift der Blick nun über Bäume, Sträucher und Pflanzen, so entstehen schon gedanklich neue Küchenwelten - Topinamburchips mit Brennesselsalz, Lachs mit Zitronenmelisse und Rosenblütenessig, samt Stengeln süßsauer eingelegte Kirschen, in Meerettichblättern eingewickelte Salzgurken, Radieschenblättersalat mit Sojasauce und Sesamöl, dazu frischer Pfefferminztee und vielleicht noch ein Huhn, mariniert in einer Beize aus Rotwein, Traubenblättern, Holunderblüten, mit Holunderbeerholz geräuchertes Lamm…

Etwas Salbei für den Hals

Den Bereich der Heilkräuter anzusprechen ist oft etwas heikel, zu schnell wird er in die gleiche Schublade gesteckt wie die Homöopathie. Doch mir geht es nicht um irgendwelche Globuli, vielmehr sind etliche der "Heilkräuter" bzw. die Wirkungen von Gewürzen ja mehr als nur ein Mythos - die Wirkung des Salbeis bei Halsschmerzen wird genauso anerkannt wie die schweißtreibende von Cayenne oder Chili. Daher bietet der Naturgarten natürlich auch diesbezüglich eine reiche Palette und, ggf. in Alkohol, Öl oder mit Fett konserviert, entstehen so Salben, Tees und Tinkturen für die Behandlung von kleinen Wehwehchen.

Für mich steht allerdings die kulinarische Vielfalt im Vordergrund, wobei sich manche Idee bezüglich Müllvermeidung bzw. "Abfall"vermeidung, Sortenvielfalt … von selbst ergibt.