Die Ohnmacht der schweigenden Masse

Junge Menschen von Extinction Rebellion und Fahrradfahrer besetzen den Großen Stern in Berlin. Foto: Gilbert Kolonko

Eine Fahrradtour durch die neuen Bundesländer und Besuche bei Critical Mass in Berlin geben Hinweise auf den mühsamen Weg hin zum Systemwechsel

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Ein Dorf, 30 Kilometer vor Leipzig. Renovierte Häuser, vor jedem steht ein Auto. Ein ähnliches Bild auf 400 Fahrradkilometern durch Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zerfallene Gebäude wie vor 30 Jahren sind die Ausnahme, an sichtbarem Wohlstand fehlt es nicht. Dafür an etwas anderem: Selbst in Kreisstädten wie Bad Belzig ist einer der wenigen Orte, der an einem Feiertag etwas zu bieten hat, ein Dönerladen namens Ali Baba.

Abends in der Lutherstadt Wittenberg gibt es zwar zahlreiche Touristen-Restaurants und den halben Liter Bier für 4,40 Euro, aber die Jugend der Stadt steht im Nieselregen auf dem Marktplatz und redet darüber, wie sie am schnellsten von hier wegkommt. Zum Beispiel nach Leipzig, wo ich am nächsten Abend in einer Kneipe im Stadtteil Lindenau sitze. Die Halbe vom Fass hier für 2,30 Euro. An den Wänden alte Ausgaben der Leipziger Volkszeitung. An den Tischen junge Menschen aus ganz Sachsen und Sachsenanhalt, die miteinander diskutieren.

Große Illusionen gibt es in der Kneipe in Leipzig kaum zu hören. Einigen der jungen Gäste ist sogar schon bewusst, dass ihrem Stadtteil das gleiche Schicksal erwartet wie dem Prenzlauer Berg in Berlin. Es wird zugehört, wenn ich von den Umweltzerstörungen Indiens oder Bangladesch erzähle. Ich höre zu, warum die jungen Leute keine Lust haben, in ihre Dörfer und Kleinstädte zurückzukehren: Die Rechten werden immer mehr. Tristesse kommt dazu. Als ich von meinen positiven Eindrücken der Universitätsstadt Halle erzähle, sagt ein junger Mann ärgerlich: "Du musst da nicht leben. Jeder Tag als offensichtlich Linker war für mich gefährlich."

In Brandenburg sah es Anfang der 1990er fast überall ähnlich aus. Selbst in touristischen Orten wie der Klosterstadt Lehnin waren Gruppen von Sieg Heil gröhlenden Jugendlichen normal. Doch mittlerweile ist in Brandenburg neben dem offensichtlichen "Speckgürtel" unbemerkt viel passiert. Immer mehr junge Menschen haben dort Höfe gekauft, die sie wieder hergerichtet haben und teilweise der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Andere junge Menschen forsten ihr Stück Land wieder auf. Es gibt sogar ganze Dörfer, die ein nachhaltiges Sein vorleben.

Kein Gerede, keine Aufrufe wirken so stark gegen geistige Inzucht, die es nicht nur im ländlichen Ostdeutschland gibt, sondern auch in Berlin, wie Alternativen, die an Ort und Stelle geschaffen werden.

Im Dorf, 30 Kilometer vor Leipzig, habe ich mich verfahren, doch es geht auch ohne Smartphone und Google-Map: Ein alter Mann kommt vorbei und keine 10 Sekunden nach meiner Frage ist er Feuer und Flamme. Am Ende komme ich kaum los, mein Gegenüber will reden, reden, reden. Ähnliches passiert auf der Reise durch Sachsen und Sachsen-Anhalt etliche Male, weil es außer der Freiwilligen-Feuerwehr und dem Fußballverein nicht viele Orte gibt, an denen Menschen zusammen kommen können.

Solche Orte zu schaffen, dafür ist nicht die Bundesregierung verantwortlich, sondern die Menschen, die dort leben. Aber die Regierung Kohl hat die jetzigen Zustände mit ihrer Scheckbuch-Politik gefördert: Neue Straßen für neue Autos auf Pump waren wichtig. Kaum ein Gedanke daran, junge Menschen zum Bleiben zu animieren.

Jugendclubs und Sozialarbeiter sind im Osten bis heute rar und das durch die Weggezogenen entstandene Vakuum haben die körperlich Starken übernommen, die erst später rechtsradikal wurden, weil nichts anderes angeboten wurde, außer Wald- und Wiesen-Schlägerclubs, die neben ihrer sportlichen Betätigung importiertes rechtes Gedankengut inhalierten.

Nun sind diese Menschen auch in Sachsen nicht die Mehrheit, doch, wer die Menschen halbwegs kennt, weiß, wie 20 entschlossene (rechte) Schläger ein ganzes Dorf von 500 Menschen terrorisieren können. Die meisten Bürger schauen weg oder arrangieren sich. Sich selbst einzugestehen, dass man feige ist, ist schwer. Da ist es einfacher zu sagen: Recht haben die Rechten schon ein wenig. Berlin ist doch Sodom und Gomorra, mit diesen vielen Ausländern und Linken.

Ein Blick in abgehängte Gegenden des Ruhrpotts verrät, dass es keine ausgiebigen Studien über die Psyche der Ostdeutschen braucht, um zu verstehen: Wenn plötzlich das Alte wegbricht und kaum etwas anderes als Fußball und die Lust auf Konsum angeboten wird, sind der starke Arm und geistige Inzucht die Folgen.

Die Masse lebt auch im Westen keine Demokratie

Ein aufgemotzter Wagen am Weddinger Gesundbrunnen steht an einer roten Ampel. Es dröhnt Hip Hop aus dem Auto. 10 Fahrräder rollen vorbei. 20. 30. 100. Dann wird es Grün und zwei Fahrradfahrer stellen sich gelassen vor die Autos: "Ich töte dich. Ich f… deine Mutter" und ähnliches schreien die vier "coolen" türkischen Rapper. Doch als das 1000ste Fahrrad vorbeifährt, steigen sie wieder in ihr Auto ein und einer fragt kleinlaut: "Ei Mann, wie lange dauerten das noch… ." Als das gefühlte 3000ste Fahrrad vorbei rollt, ruft einer der türkischen Rapper beinahe weinerlich zu mir: "Ei Opa. Wie lange dauert das denn noch?" Auf die Antwort: "10 Minuten", sagt er völlig resigniert, aber irgendwie schon freundlich: "Das hat dein Kollege vor 10 Minuten auch schon gesagt."

Es ist eine Veranstaltung von Critical Mass, der knapp 7000 Fahrradfahrer gefolgt sind. Es ist ein lauer, warmer Sommerabend und Ja: Es hat etwas von Event, doch Coca Cola, Red Bull oder Nike sind hier nicht präsent, dafür die alte Berliner Mode: Mann und Frau hat angezogen, was trocken auf der "Leine" hängt.

Aber ein wenig Event braucht es heute wohl, um Menschen auf die Straße zu bekommen: Vor 30 Jahren sorgten Demonstranten und Polizei selbst dafür, dass jeder nach Hause ging und etwas zu erzählen hatte - Verletzte auf beiden Seiten gehörten einem ungeschriebenen Gesetz folgend dazu. Bei der Fahrraddemo das Gegenteil: Beschimpfungen werden gelassen hingenommen, es herrscht unausgesprochene Übereinkunft, die Autofahrer nicht noch zusätzlich zu provozieren.

Einen Monat später am letzten Freitag im September sind nur knapp 1.500 Fahrradfahrer dem Aufruf von Critical Mass gefolgt. Es ist kalt und feucht. Auch rollt der Konvoi dieses Mal nicht in einem Fluss über jede rote Ampel und es wird klar, dass es auch nicht darum geht. Es gibt keinen Führer und jeder darf mal die Spitze übernehmen: Die einen tun das zögernd, andere forsch. Am Hauptbahnhof preschen zwei der Unternehmungslustigeren auf die Kreuzung, springen ab und stellen sich mit ihren quergestellten Rädern vor die Autos, damit der Rest ungefährdet hinterherrollen kann.

Doch der Rest steht an der roten Ampel und wartet auf Grün: Die beiden Forschen wirken wie zwei höfliche Irre, die an einem normalen Freitagabend die Kreuzung vor dem Hauptbahnhof sperren. Aber auch ohne Fahrraddemo stand jeder Berliner Autofahrer im letzten Jahr 154 Stunden im Stau, dabei wird jeden Tag in Deutschland die Fläche von 70 Fußballfeldern für den Verkehr vernichtet.

Die Polizei? Sie begleitet den Tross. Ab und zu sperrt sie selber die eine oder andere Kreuzung ab, aber in der Regel schreitet sie nur in Notfällen ein wie an einer kleinen Kreuzung in Charlottenburg, als eine Autofahrerin mit Gewalt in die Fahrradkolone drängt. Mit quietschenden Reifen kommt ein Polizeiwagen angerast und stellt sich vor das Auto. Der Blick der Fahrerin zeigt Verwirrung an, als wolle sie sagen: "Die Polizei hilft diesen Kommunisten."

Jedenfalls vermitteln die bürgerlichen Medien ihren Lesern oft das Bild, dass Menschen, die sich aktiv für eine nachhaltigere und sozialere Erde einsetzen, nur Kommunisten sein können, die die Demokratie der "anständigen" Masse gefährden.

Steigende Mieten, steigende soziale Ungerechtigkeit, die Armen werden ärmer, die Reichen reicher, werden tatenlos zur Kenntnis genommen. Seltsamerweise glauben laut einer Studie 86 Prozent der Deutschen daran, dass der Klimawandel menschengemacht ist und trotzdem tendiert ihr Aufbegehren gegen Null. Sie vertrauen weiter auf technische Innovationen und auf das System, deren mediale Helfer verbreiten: Überlasst das mal den Profis, die machen das schon.

Das Wachstum behindern?

Wer die aufstrebende Mittelklasse in Ländern wie Indien oder Bangladesch betrachtet, kann sehen, dass sie ihr Verhalten vom Westen übernommen haben. Die Menschen, die sich dort für mehr Bürgerrechte und gegen die Umweltzerstörungen einsetzen, werden von der Mittelklasse im Regen stehen gelassen, weil deren Aktivitäten das Wachstum des Landes behindern, wird ihnen vom Hindu-Kapitalisten Narendra Modi erzählt oder von der Autokratin Hasina Wajed.

"Du musst mehr Verständnis für die Masse der Menschen dieser Stadt haben. Sie haben Verpflichtungen. Kinder und ein geregeltes Arbeitsverhältnis", sagt der Sprachlehrer Andreas. Wie meistens ist er auch heute auf dem letzten Drücker zur abendlichen Fahrraddemo angerauscht gekommen: Arbeit an der Universität. Dann den Sohn vom Kindergarten abgeholt. Anschließend Arbeiten korrigiert, dann zu einer Bezirksversammlung geradelt: "In Mitte wollen sie so schnell wie möglich die Fahrradwege ausbauen. Aber die deutsche Bürokratie wie auch die AfD und CDU machen jeden Meter Fahrradweg zur Geduldsprobe."

Natürlich hat er Recht: Es gibt in Deutschland viel mehr Menschen, die versuchen, Demokratie zu leben, als man sehen kann. Doch auch sie werden nicht vorrankommen, wenn die schweigende Masse sie im Regen stehen lässt. Einfacher ist es da, sich über die Ostdeutschen auszulassen und ihnen mangelndes Demokratieverständnis vorzuwerfen, weil im Westen immerhin verstärkt Grün gewählt wird. Die Grünen in der jetzigen Form sind jedoch nichts anderes als der kleinste Schritt in die richtige Richtung. In ihrem Buch Die Grüne Lüge legt Kathrin Hartmann dar, dass ein grünes Wirtschaftswachstum nicht die Lösung sein kann, diesen Planeten zu retten.

Bei Extinction Rebellion, Fridays for Future oder Critical Mass mögen die meisten nicht wissen, dass Karl Marx im Kapital vorausgesagt hat, das die Endstufe des Kapitalismus die Bildung der riesen Konzerne sein wird (die Konzentration des Kapitals). Aber fast alle engagierten jungen Menschen nehmen wahr, dass dies so ist. Zudem wird die Übernahme der Wirtschaft durch immer größere Konzerne durch Studien belegt.

Eine Fahrraddemo von Critical Mass dreht ein paar Runden um den großen Stern in Berlin. Foto: Gilbert Kolonko

Auch ohne Marx wissen sie, dass die Konzentration des Kapitals und die Dynamik der Globalisierung die Kluft zwischen Arm und Reich unaufhaltsam wachsen lässt. Dazu sehen sie, dass dieser ungezügelte Raubbau an der Natur ihre Zukunft versaut, weil ihnen die Daten der Wissenschaft es sagen.

Die Utopie der engagierten Jungen: eine Welt eines nachhaltigen Wirtschaftssystems, ohne Ausbeutung und mit Chancengleichheit. Als jemand, der seit 20 Jahren den Anstieg der science-fiction-artigen Umweltzerstörungen in Südostasien verfolgt, kann ich gar nicht anders, als zu zustimmen: Es sieht katastrophal aus.

Die "schweigende Masse" tut dann immer erwachsen demokratisch und wirft den engagierten jungen Menschen vor, dass die ganze Wirtschaft zusammenbricht, wenn die Jungen so weiter machen: Genau die gleiche Vorwürfe, wie sie die Springer Presse in den 1980ern für die aktiven Grünen benutzt haben. Heute tun selbst Axel-Springer-Medien, ihre Leser und die neoliberale Wirtschaftsexperten so, als wären sie schon immer vorbildliche Umweltschützer im eigenen Land gewesen und schimpfen auf die Inder, die jetzt mit Kohle ihre Wirtschaft anheizen. Die Leitmedien und Neoliberalen Indiens verweisen auf die eigene Wirtschaft und beschimpfen die Umweltschützer, engagierte Studenten und Aktivisten.

Dabei zeigen die jungen Menschen von Fridays for Future über die Teilnehmer von Extension Rebellion und die Wissenschaftler doch die Lösung auf: Nachhaltigkeit. Das Problem ist der Lösungsweg: Alles muss sich ändern - die Wirtschaft, die Politik, das Bewusstsein und so das Handeln der schweigenden Masse. Das stellte auch Professor Ludwig Ellenberg bei seinem Vortrag in der Urania-Berlin fest: Wie viele Menschen haben Platz auf dieser Erde. Die Auflistung der erforderlichen Taten war so lang, dass die Mehrheit der Hörer sie lieber überhörte und stattdessen ihre Hoffnungslosigkeit kundtat.

Dabei stellt sich bei der näheren Betrachtung heraus, dass alle Forderungen eins gemein haben: Sich selbst bewusst zu machen, dass ihr oder sein Handeln Folgen hat und für den Einzelnen bleiben die Taten überschaubar. Zu diesem Schluss kam auch ein Berliner Polizist aus dem gehobenen Dienst. Er bestätigte mir gegenüber, dass die junge Generation von Kollegen angewiesen wird, so viele Strafzettel zu schreiben wie möglich, um mit dieser Art von Aktivität den Personalmangel zu kaschieren.

"Wenn sie zu mir kommen, frage ich die jungen Kollegen, ob sie schon einmal die Aussage gehört haben, "der Polizist dein Freund und Helfer". Ich versuche den jungen Kollegen klar zu machen, dass oft ein Gespräch mehr Positives bewirkt als ein Strafzettel. Am Ende wird jeder Verwarnte mit anderen Menschen über sein Erlebnis sprechen und wir entscheiden mit unseren Verhalten, ob es eine Wutrede über die Polizei sein wird, oder ob der Bürger eine Geschichte von einem Freund und Helfer weitererzählt."

So ist auch jeder Mensch, der versucht, mit Geduld mit anderen ins Gespräch zu kommen, ein Aktivist, der ein kleines Stück verändert, denn der Kapitalismus will, dass wir miteinander konkurrieren und wenn wir miteinander reden, soll es über Fußball, die neue Kamera oder das Auto sein. Dazu sollen wir uns auf die Lohnarbeit konzentrieren, also den entfremdeten Teilbereich, in dem die meisten tätig sind, ohne dass sie wissen, was ihre Tätigkeit fürs Ganze bedeutet. Die deutsche Autoindustrie wird nicht wegen der Aktivisten bis zu eine Million Arbeitsplätze verlieren, sondern weil Industriebosse und Bundesregierung die nächste industrielle Revolution verschlafen haben.

Extension Rebellion, Critical Mass oder Fridays for Future sind nicht die Lösung, doch sie sind wichtige und unterstützenswerte Bewegungen und Teil der Lösung: Nur Druck von der Straße kann die Politik zum Umdenken zwingen, denn auch mehr Fahrradwege und der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel fallen nicht vom Himmel. Genauso wichtig sind Menschen, die den Mut und die Kraft haben, im ländlichen Raum Alternativen aufzubauen.

Ebenso wichtig sind aktive und engagierte Kommunalpolitiker, die in zermürbender Arbeit kleinste Fortschritte zustande bringen. Auch die Vernetzer, die Aktivisten in verschiedenen Ländern miteinander in Kontakt bringen. Wichtig sind auch die Mahner die stets darauf hinweisen, dass dies nur kleine Stücke auf dem Weg zu einem Systemwechsel sind: Hin zu einem nachhaltigem Wirtschaften. Aber auch für sie gilt: Die eigene Wichtigkeit nicht über die der anderen stellen - jeder ist nur ein kleiner Teil der Lösung.

Noch trauen sich die Befürworter der einfachen, national geprägten Lösungen zumindest in Deutschland nicht in Massen auf die Straße. Das liegt auch daran, dass sie bequem sind, deswegen wollen sie ja starke Führer, die ihnen alles abnehmen.

Nur eigenes, bewusstes Handeln, ohne Führeranspruch hilft und diejenigen, die glauben, mehr zu wissen, können es unter Beweis stellen, indem sie mehr aushalten und Schutz und Unterstützung für die Zögernden bieten. Die anderen, die Nationalisten, Hindufanatiker oder die Islamisten können sich nicht vereinen, weil sie den Hass auf die anderen brauchen. Dazu haben sie keine Antwort auf die Zerstörungen des globalen Kapitalismus.

Im Gegenteil: Sie fördern die bittere Konkurrenz und Ausgrenzung unter den Menschen, die das jetzige System braucht.