Die Opferzahlen des deutschen Klassismus

Seite 3: Globaler Klassismus – noch weit verheerender

Doch die Betrachtung der Opfer des in Deutschland und von Deutschland praktizierten Klassismus ist noch nicht vollständig.

Ebenso wie in Deutschland und vergleichbaren Staaten die Kluft zwischen Arm und Reich besteht weltweit eine Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Es ist eine Analogie, die nicht zufällig ist, und auch wenn man das Gegenteil beschwört, sie wird, hier wie dort, durch gezielte Unterlassung aufrechterhalten.

Die Gründe für beide Zustände sind ebenfalls ähnlich: Die Reichen brauchen die Armen, um ihnen eventuell verwertbares Eigentum zu rauben, um ihre Arbeitskraft in ihren Dienst zu stellen, als Absatzmarkt für ihre Produkte, als Schuldner, die dauerhaft Zinszahlungen leisten, als dumm gehaltene Wähler, die nützliche Marionetten in Regierungsämter legitimieren und ihren Lebensraum oder sie selbst als Deponie aller Abfälle im weitesten, auch konsumistischen Sinne.

Im Grunde ist der westliche materielle Lebensstandard ausschließlich deshalb möglich, weil die Ausbeutung ärmerer Länder, neben der Ausbeutung der Zukunft, auf vielfältigste Art und Weise legal und systematisch von bestimmten Institutionen und Leuten betrieben wird.

Nahezu alle Ursachen für körperliches und seelisches Leid der Menschen dort resultieren mindestens mittelbar aus genau jenen Strukturen und Verhältnissen vor Ort und aus jener ganzen Palette von Abhängigkeiten, die den westlichen Industriestaaten finanzielle und rohstoffpolitische Vorteile bringen.

Und so ist auch das reiche Deutschland, ob direkt oder indirekt, für den vorzeitigen Tod von etlichen Millionen Menschen in anderen Regionen der Welt mitverantwortlich.

Die immer wieder vorgetragene Entschuldigung unserer Politiker, daran könne ein Land wie Deutschland alleine nichts ändern, ist und bleibt eine große Lüge und wird immer nur von jenen Politikern in den Mund genommen, deren Klientel von diesem Missstand am meisten profitiert.

Mit entsprechenden Maßnahmen ließe sich unsere gesamte gesellschaftliche Routine in Deutschland auch völlig ohne die Diskriminierung ärmerer Länder organisieren. Unsere Konsumpalette würde sich dadurch nur neu orientieren. Viele Produkte würden sich verändern, etliche würden teurer oder verschwänden ganz von der Bildfläche.

Leider jedoch hat auch in diesem Zusammenhang das Messen mit zweierlei Maß und das Abstreiten jeder Verantwortlichkeit, in Deutschland, wie auch in jedem anderen westlichen Land, große Tradition.

Ob beim nationalen oder internationalen Klassismus, ob in armen Bevölkerungsschichten in Deutschland oder in armen Ländern der Welt: Das Sterben wird geduldet, weil letztendlich jemand an mittelbaren Effekten der Vorgeschichte verdient, bzw. weil Maßnahmen gegen das Sterben die Profit-Erwartungen von jemand anderem schmälern würden.

Wie man in Deutschland an seiner Armut stirbt, ist bekannt. In den armen Staaten der Welt stirbt man noch wegen anderer Kriterien, wie allgemeinem Mangel an sauberem Trinkwasser und Nahrungsmitteln, an katastrophalen Wohn- und Lebensbedingungen, zerstörten und vergifteten Lebensgrundlagen, fehlender medizinischer Grundversorgung, prekären Erwerbs- und Selbsthilfemöglichkeiten und an von oben und außen gesteuerter Gewalt und Repression.

Aber verzichten wir an dieser Stelle auf die Schilderung der genauen Zusammenhänge und versuchen wir, auch hier einige Zahlen zu nennen.

Leider fand ich keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, wie genau neokolonialistische Zustände in den ausgebeuteten Ländern der Erde zu vorzeitigen Todesfällen führen, welche Opferzahlen zu beklagen sind und inwieweit viele Millionen tragische Einzelschicksale innerhalb einer auf Solidarität, statt auf Profit, bedachten Staatengemeinschaft vermieden werden könnten.

Was aber den weltweiten Hunger als den folgenreichsten aller schlimmen neokolonialistischen Zustände angeht, so ist man sich bei Hilfsorganisationen und bei global forschenden Wissenschaftlern weitgehend einig: Man könnte ihn recht einfach dadurch eindämmen, dass man die Menschen in Frieden leben ließe, ihnen erlaubte, ihre Regierung frei und unbeeinflusst zu wählen, ihnen Zugang zu alltagstauglicher Bildung ermöglichte, ihnen faire Preise für ihre Produkte zahlte und dafür sorgte, dass dieses Geld nicht in üblichen Kanälen versickert, ihnen die höchste Veredlung ihrer Produkte für den internationalen Handel ermöglichte, sie ihre Belange selbst in die Hand nehmen ließe und ihnen die dazu anfänglich notwendigen Dinge und Mittel zur Verfügung stellte.

Über eine Million Todesopfer jährlich

Doch die Realität sieht anders aus. Allein 5,6 Millionen Kinder unter fünf Jahren verhungerten laut Unicef im Jahr 2006 weltweit.

Der Soziologe Jean Ziegler, ehemals Sonderberichterstatter des Welternährungsprogramms für das Recht auf Nahrung, und derzeit Mitglied des 18-köpfigen Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats, sagte, es gebe keinen objektiven Mangel an Nahrungsmitteln auf der Welt.

Das Problem sei in Wahrheit nicht die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang zu den Lebensmitteln und die fehlende Kaufkraft der Ärmsten. Eine Milliarde Menschen, so Ziegler, seien auf der Welt auf das Schwerste unterernährt. "Diese Menschen sind verzweifelt, sie haben Angst vor dem nächsten Tag."

Zur offensichtlichen kommt die verborgene Unterernährung noch hinzu. Sie resultiert aus permanentem Nährstoffmangel trotz vorhandener Mindestmengen an Kalorien. Laut Welthungerhilfe führt sie zu millionenfachen schweren Krankheiten: "Insbesondere Kinder können sich geistig und körperlich nicht richtig entwickeln.

Das Risiko, durch Hunger zu sterben, ist hoch. Weltweit leiden zwei Milliarden Menschen an chronischem Nährstoffmangel, auch in den Industrieländern. Verborgener Hunger schadet nicht nur den einzelnen Menschen, sondern kann die gesamte Entwicklung in den betroffenen Regionen hemmen, weil die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Menschen abnehmen."

Auch andere Gründe und andere Missstände führen zum Tod sehr vieler Menschen in armen Ländern. Infolge von Trinkwasserverschmutzung beispielsweise sterben jedes Jahr 829.000 Menschen an Durchfall.

Wie hoch die Gesamtdimension vorzeitiger Todesfälle allein durch den globalen Hunger ist, ist nicht eindeutig definiert. Jean Ziegler aber spricht von 30 bis 40 Millionen Hungertoten pro Jahr (Stand 2007). Die Zahl scheint gegenüber anderen Quellen recht hoch zu sein, beinhaltet aber wohl, über die unmittelbaren Hungertoten hinaus, auch die vorzeitigen Todesfälle durch Mangelerkrankungen und andere Folgen von Hunger.

Zur Berechnung der globalen Dimension der Verantwortlichkeit von Deutschland habe ich folgende Parameter aufgestellt:

1. Um dem Vorwurf sicher zu entgehen, ich würde übertreiben, nehme ich die niedrigste Zahl aus Jean Zieglers Schätzung und reduziere sie auf die Hälfte. Demnach sterben in jedem Jahr weltweit 15 Millionen Menschen an Unterernährung.

2. Die Verantwortung dafür liegt bei allen anderen Erdenbürgern, deren Lebensstandard direkt oder indirekt von der Aufrechterhaltung des globalen Klassismus profitiert. Hier sind zunächst alle Länder mit vollständiger Bevölkerungszahl zu nennen, die man zur westlichen Welt mit kapitalistischem Wirtschaftssystem zählt.

Dazu kommen Länder, die erst seit wenigen Jahren einen steigenden Lebensstandard verzeichnen (Schwellenländer, osteuropäische Länder). Weil diese Länder bis vor wenigen Jahren aber ebenfalls als arm galten, und sie am Aufbau globaler, neokolonialistischer Strukturen wenig Anteil haben, und natürlich auch weil der Wohlstand dort nur einer recht kleinen Oberschicht zugutekommt, sollte man nur jeweils diese reiche Bevölkerungsgruppe in die Rechnung mit einbeziehen. Die Armen dort profitieren kaum von neokolonialistischen Wohlstandseffekten, und oftmals zählen sie sogar selbst zu den Hungernden.

Addieren wir die Bevölkerungszahlen der 33 reichsten Ländern der Erde, kommen wir auf gut 950 Millionen Menschen.

Die reicheren Schichten der Schwellenländer und osteuropäischer Staaten lassen sich auf 250 Millionen schätzen. Damit kämen wir auf die Gesamtzahl von 1.200 Millionen Menschen, die von weltweiter Armut profitieren.

Wenn nun 1.200 Millionen Menschen für den Hungertod von 15 Millionen Menschen pro Jahr verantwortlich sind, fällt auf Deutschland, (Rechnung: 15 geteilt durch 1.200, multipliziert mit 83), der Anteil in Höhe von 1,0375 Millionen Menschen.

Diese Zahl ist, wie zuvor besprochen, eine absolute Untergrenze und bezieht sich lediglich auf die Hungertoten unserer Gegenwart. Zusätzlich müssten noch eine ganze Reihe anderer Auswirkungen mit Todesfolge berücksichtigt werden, die ebenfalls aus der neokolonialistischen Beeinflussung und Schädigung ärmerer Staaten resultieren, wie Vergiftungen von Böden und natürlichen Wasservorräten infolge von Agrarchemikalien, Rohstoffabbau, Müllverklappung etc., Nichtbehandlung beherrschbarer Krankheiten, gesundheitsgefährdende Produktionsbedingungen für den Export, Katastrophen und Landverluste durch Klimawandel usw. Hierzu gibt es aber keine Zahlen, ja es existiert im öffentlichen Bewusstsein nicht mal die Notwendigkeit, solche Zahlen einmal wissenschaftlich zu ermitteln.

Wie die Kriegsopfer in meinem letzten Artikel sind auch die hier aufgezeigten vorzeitigen Todesfälle das Ergebnis vorsätzlich verweigerter Solidarität aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Auch hier ist die erschütternde Dimension an Verantwortungslosigkeit letztlich relevant für den Fortbestand des Wirtschaftssystems.

Mit den in Kriegen getöteten und schwer, das heißt lebensverkürzend verletzten Menschen (vorsichtig geschätzt 200.000 pro Jahr in der Verantwortlichkeit Deutschlands) und den hier bezifferten Hungertoten, kommen wir also jetzt schon auf annähernd 1,4 Millionen Menschen, welche Deutschland in jedem Jahr durch Handlungsverzicht sterben lässt, und denen gegenüber keinerlei Absichten bestehen, Solidarität zu üben.

Doch damit ist die Gesamtsumme der jährlichen Todesopfer in der Verantwortung Deutschlands, ja um es abschließend nochmal zu wiederholen, die Summe der aus kalkulierter Solidaritätsverweigerung heraus verursachten vorzeitigen Todesfälle unter "Risikogruppen" und Bevölkerungsgruppen ohne Lobby, noch nicht erreicht.

Dieser Text ist die Zusammenfassung einiger Passagen aus dem kürzlich erschienen Buch "Hinter der Solidaritäts-Fassade - Fatale Corona- und verweigerte Zukunftspolitik - Anmerkungen zur systemrelevanten Verantwortungslosigkeit". Ein Essay von Carl Christian Rheinländer sen. (2021, Books on Demand, 460 Seiten, 20 Euro).

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