Die Prophezeiung

Seite 2: Schuld und Schulden

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Das zunehmende Scheitern der Menschen an diesem eskalierenden Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise - der eine überflüssige Menschheit produziert -, erzeugt wachsende Schuldenberge und ein "ungeheures Schuldbewusstsein", das verstärkt zum Kultus greift, um "diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen". Der Kapitalismus stelle keine Befreiungsreligion dar, so Benjamin, er biete keine Erlösung von der Schuld und den buchstäblichen Schulden, sondern produziere deren Universalisierung:

Dieser Kultus ist zum Dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müsste halten können, noch in der Absage an sie.

Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei.

Beim Kapitalismus handelt es sich somit laut Benjamin tatsächlich um eine Religion des Todes, die eine "Zertrümmerung" des gesellschaftlichen Seins betreibt, um hierdurch, aus der "Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand", eine wie auch immer geartete "Heilung" zu erwarten. Der aus dem Kult entspringenden Verschuldung - die der "bösartigen", jüdisch konnotierten Finanzsphäre angelastet wird - wird mit der Produktion von Schuldbewusstsein begegnet. Dieses Schuldbewusstsein bildet die Grundlage, auf der Opfer gefordert werden können.

Der Kapitalismus entpuppt sich somit letztendlich als der bislang wohl blutrünstigste Opferkult der Menschheitsgeschichte, vor dem sogar die Opferrituale der Azteken oder Inka verblassen. Ganze Regionen und Volkswirtschaften sind in der gegenwärtigen Krise in den sozioökonomischen Zusammenbruch und die massenhafte Verarmung getrieben worden, um Sühne zu leisten für die Schuld, die aus dem besagten zunehmenden Selbstwiderspruch des Kapitalkultes erwächst. Millionen wurden ins Elend getrieben, Hunderttausende haben ihr Obdach verloren, Tausende ihr Leben, um hier Buße zu tun für die "Verfehlungen" der Vergangenheit, ohne die der Kult aber nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Griechenland und Spanien büßen nun für ihre Sünden wider das Kapital. Das Schuldbewusstsein, dessen Entstehung das Christentum mit dem Sündenfall im Jenseits ansiedelte, erfährt hier ebenfalls einen Prozess der Säkularisierung.

Der europaweit grassierende deutsche Sparsadismus bildet wohl das perfekte Beispiel für den Kapitalismus als "verschuldenden Kultus". Durch das "Aushalten bis zum Ende", durch Sparmaßnehmen und ein "Ins-Extrem-Treiben" der kultischen Handlungen eines immer effizienter und brutaler organisierten Arbeitsregimes hofft man, die Krise zu überwinden und eine "Heilung" zu erwirken. Stattdessen steigen die Schuldenberge der Krisenstaaten immer weiter an, während die systemimmanenten Widersprüche weiter eskalieren: Je effizienter und härter die Lohnarbeit in der gegenwärtigen Krise organisiert wird, desto stärker greifen in der Warenproduktion Rationalisierungstendenzen um sich, die die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft weiter zuspitzen - und weitere Schuldenmacherei zur Aufrechterhaltung der Verwertungsbewegung des automatischen Subjekts unabdingbar machen.

Die Lohnabhängigen erarbeiten sich ihre Krise buchstäblich - je härter und rücksichtsloser diese kultische Handlung der wertbildenden Lohnarbeit praktiziert wird, desto stärker zieht sich die Schlinge der systemischen Widersprüche um die Hälse der Kapitalgläubigen. Der "Weltzustand der Verzweiflung" ist erreicht, und mit dem sich abzeichnenden massiven Entwertungsschub, der letztendlich auch das Geld erfassen muss, wird "Gott selbst in diese Schuld" einbegriffen.

Jetzt erst kann der Kapitalgott als solcher überhaupt erkannt werden. Ein weiteres Charakteristikum des Kapitalkultes besteht laut Benjamin nämlich darin, dass dessen "Gott verheimlicht werden muss, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife."

Gott ist nicht tot, er wandelt unter uns

Nichts sei letztendlich verkehrter, als der vielfach postulierte "Tod Gottes", so Benjamin: "Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen." Die historische Durchsetzung der säkularisierten Religion des Kapitalismus hat einen Wechsel Gottes von der Transzendenz zur Immanenz mit sich gebracht. Die gesamtgesellschaftliche Selbstzweckbewegung des Kapitals fungiert nun als ein rachsüchtiger, launischer und bösartiger Gott, der den antiken Sagen vorchristlicher Zeit oder dem alten Testament entsprungen zu sein scheint.

Ganze Kontinente kann dieses über die Menschen herrschende Automatische Subjekt verheeren, wenn der Kapitalkult nicht mit der notwendigen Effizienz praktiziert wird. Die sozialen Zusammenbrüche, die durch die alttestamentarische Wut der "Märkte" in den betroffenen Ländern ausgelöst werden, nehmen dabei die Dimensionen biblischer Plagen an. In der Krise scheint die Götter- und Sagenwelt der Antike zum Leben erwacht zu sein.

Der Lohnabhängigen stehen somit diesem an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehenden Götzen ohnmächtig gegenüber. Der Grundwiderspruch des Kapitalverhältnisses besteht laut dem Krisentheoretiker Robert Kurz darin, "einerseits die Verausgabung menschlicher Energie als Selbstzweck zu setzen und andererseits durch die Vermittlung der anonymen Konkurrenz auf wachsender Stufenleiter Arbeit im Produktionsprozess des Kapitals vermittels Anwendung der Wissenschaft überflüssig zu machen".1

Die kultische Handlung - die "Verausgabung menschlicher Energie als Selbstzweck" - erweckt den Kapitalgötzen somit erst zu Leben. Die Kulthandlung dieser säkularisierten Kapitalreligion vermag somit etwas, wovon alle Religionsanhänger Jahrtausende lang träumten: die durch kultische Handlungen vollführte Erweckung ihrer Götter zum Leben. Doch zugleich führt das immer weiter utilitaristisch perfektionierte Arbeitsregime den Tod auch dieses unter uns wandelnden und die Welt verheerenden Gottes herbei.

Diese fremde, überwältigende Macht, die in ihrer Agonie wild um sich schlägt, scheint göttlich-unüberwindbar. Doch zugleich stellt sie eine fetischistische Herrschaftsform dar, sie wird - unbewusst - von den Menschen hervorgebracht. Alltäglich. Die gesellschaftliche Herrschaft im Kapitalismus besteht im Kern nicht in der Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern in der Beherrschung von Menschen durch abstrakte gesellschaftliche Strukturen, die von den Menschen selbst konstituiert werden. Wir machen uns unsere Götter - und folglich können wir sie auch stürzen.

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