"Die SZ folgt dem technokratischen Herangehen der politischen Akteure"

Margarete Jäger und Regina Wamper über die Kommentare der SZ zu Griechenland

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Über einen Zeitraum von sechs Monaten haben die Wissenschaftlerinnen Margarete Jäger und Regina Wamper die Kommentare der Süddeutschen Zeitung (SZ) zu Griechenland untersucht und dabei festgestellt: Die darin vertretenen Meinungen orientieren sich stark an den vorherrschenden Sichtweisen, wie sie von tonangebenden Persönlichkeiten aus dem Lager der Politik in Deutschland vertreten werden.

Die Analysen von Margarete Jäger, Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und der Germanistin und Politikwissenschaftlerin Regina Wamper (ebenfalls vom DISS) haben außerdem ergeben, dass sich die SZ-Kommentatoren einer bestimmten "Hintergrundfolie" bedienen, wenn sie sich mit Griechenland befassen. Die Kommentare sind von neoliberaler Ideologie geprägt, dem Begriff Reformen kommt eine ganz eigene Bedeutung zu. Im Telepolis-Interview stellen sie die Ergebnisse ihrer Analyse detailliert vor und mahnen die Medien an, die Positionen der Herrschenden kritischer zu hinterfragen.

Sie haben die Kommentare, die von Januar bis Juni in der Süddeutschen Zeitung zu Griechenland erschienen sind, analysiert. Was haben Sie herausgefunden?
Margarete Jäger: Im Großen und Ganzen haben wir durch die Analyse feststellen müssen, dass in der Süddeutschen Zeitung eine grundsätzliche Zustimmung zu der strikten Sparpolitik, die von Griechenland und seiner Bevölkerung durch Europa und hier insbesondere durch die deutsche Bundesregierung gefordert wird, formuliert wird. Insofern folgt die Süddeutsche Zeitung dem technokratischen Herangehen der politischen Akteure, mit denen sie die Krise bewältigen wollen.
Zwar werden hin und wieder auch die damit verbundenen sozialen Verwerfungen angesprochen. Diese werden jedoch als bedauerliche, aber notwendige Konsequenz einer insgesamt als vernünftig angesehenen Politik bewertet. Die Krise wird als eine "griechische Krise" bewertet, die allerdings für den gesamten Euro-Raum gefährlich ist, weil etwa durch einen Grexit die restlichen Euro-Länder in einen Krisenstrudel hineingezogen werden können.
Die Perspektive, die auf die neue griechische Regierung eingenommen wird, ist stark von patriarchalischen Zügen durchsetzt. Die Sprecherpositionen gleichen denen eines Vaters, der seinem unerfahrenen und teilweise ungehorsamen Kind sagt, was zu tun und zu lassen ist.
In Ihrer Analyse ist davon die Rede, dass in den SZ-Kommentare stark mit "Auf- und Abwertungen" gearbeitet wird. Wer wird auf- bzw. abgewertet und: Wie sieht diese Auf- und Abwertung aus?
Regina Wamper: Bei der Problembeschreibung der Krise von der SZ ist uns aufgefallen, dass verschiedene Dichotomien bedient werden, mit denen die von Ihnen erwähnten Auf- und Abwertungen stattfinden.
Zum Beispiel wird Griechenland den anderen Euro-Staaten entgegengestellt und damit nahegelegt, dass dieses Land nicht selbst Teil der Euro-Staaten sei. Auch werden die konservativ und sozialdemokratisch geführten Regierungen der Euro-Länder der linken griechischen Regierung gegenübergestellt. Das ist umso erstaunlicher, weil die politischen und ökonomischen Positionen, die von Tsipras formuliert wurden, selbst als sozialdemokratische Urgesteine verstanden werden können.
In diesem Zusammenhang wird dann eine weitere Dichotomie aufgerufen: Der Syriza-Regierung wird unterstellt, dass sie ihre Politik vor allem auf die Gefühlslage der griechischen Bevölkerung aufbaue - mitunter wird ihr auch Populismus vorgeworfen -, während ihre Euro-Partner ein rationales Handeln und Vorgehen praktizierten.
Margarete Jäger: Wir haben noch weitere Auf- und Abwertungen herausgefiltert. Die Euro-Partner-Länder, allen voran die deutsche Bundesregierung in Gestalt von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble werden in den Kommentaren positiv beschrieben, wobei durchaus in einigen Kommentaren auch Kritik an ihnen geübt wird. Doch wird die Führungsrolle, die Deutschland bei der Bewältigung der Krise eingenommen hat als notwendig angesehen.
In einem Kommentar, der am 21.3.2015 unter der Überschrift "Führung aus der Not" erschien, schreibt Daniel Brössler: "Die Kanzlerin hat die Verhandlungen nicht an sich gerissen, sondern sich der Verantwortung ergeben." Und weiter heißt es dann: "Die Frage, warum es die deutsche Kanzlerin sein muss, lässt sich daher mit der Gegenfrage beantworten: Wenn nicht sie, wer dann?"
Gehen wir Ihre Analyse der Reihe nach durch: Bereits bei der Beschreibung des Problems gibt die SZ eine bestimmte Richtung vor. Wie sieht diese aus?
Margarete Jäger: Wie gesagt, die SZ schließt sich in ihren Bewertungen der in Europa und Deutschland dominanten Auffassung an, nach der eine Austeritätspolitik alternativlos sei. Das bedeutet nicht, dass keine Kritik an den politischen Akteuren geäußert wird. Doch es ist eher eine Kritik im Detail. Man solle es halt mit dem Sparen auch nicht übertreiben. Oder es wird auch darauf hingewiesen, dass die früheren griechischen Regierungen von den europäischen Institutionen nicht gründlich genug kontrolliert worden seien, weshalb ihnen für die derzeitige Situation auch eine Mitverantwortung zugeschrieben werden müsse. Im Fokus der Kritik steht jedoch die derzeitige griechische Regierung, deren Wahl aus dieser Perspektive nicht als ein "normales" Wahlereignis wahrgenommen wird, sondern als ein Resultat von Fehlern der Vergangenheit.
Regina Wamper: Außerdem vollzieht sich die Diskreditierung der Syriza-Regierung teilweise über extremismustheoretische Argumente, wenn die "bedrückende[n] Schnittmengen zwischen links und rechts" angesprochen werden - wie dies z.B. in einem Kommentar von Constanze von Bullion geschieht. Ironisierend konstatiert sie: "Der selbsternannte Robin Hood der Schuldenkrise, regiert jetzt mit der nationalistischen Anel." (30.1.2015) Eine ähnliche Argumentation vertritt Claus Hulverscheidt am 28.1.2015, wenn er von der "zwielichtigen Koalition aus Links- und Rechtspopulisten" schreibt.
Eine weitere Diskursstrategie verortet Syriza in den Bereich der linken Ideologie, womit gleichfalls eine Abwertung verbunden ist. Die Rede ist dann etwa von "ideologischen Banner- und Bedenkenträgern"; Syriza wird als eine Partei beschrieben, die "sich erst vor sehr kurzer Zeit von der politischen Sekte zur Volkspartei gemausert" habe. (30.4.2015)
Solche Bewertungen schließen nicht aus, dass die Wahl von Syriza auch als Chance für einen Neuanfang wahrgenommen wird. Allerdings schleicht sich dann ein doch sehr patriarchaler Ton in die Kommentierung ein. So wird die Regierung von Tsipras als eine "Truppe" bezeichnet, die von "Regierungsdingen nur wenig Ahnung" habe. Vor allem der damalige Finanzminister Varoufakis wird als "unverschämt" und "unerfahren" disqualifiziert. Er sei kein erfahrener Politiker, doch "offenbar so an sich selbst orientiert, als wäre er einer". (16.3.2015)
Margarete Jäger: Anzumerken ist allerdings, dass trotz solcher persönlichen und politischen Diskreditierungen in der SZ die "Ressentiments des Boulevards" (16.3.2015) kritisiert werden und sie sich tatsächlich an der Debatte um Varoufakis Mittelfinger nicht beteiligt.

Sozialpolitik gilt als wirtschaftsschädlich

Sie erwähnen die Formulierung "extremismustheoretische Argumenten". Was genau meinen Sie damit?
Regina Wamper: Darunter verstehen wir Argumentationen, bei denen sogenannte "rechte" und "linke" Positionen, parallelisiert werden und als Extreme auf eine Stufe gestellt werden. Ausgehend davon kann dann die sogenannte politische "Mitte" als die richtige und vernünftige Position markiert werden, die frei sei von als extremistisch eingestuften Positionen, etwa Rassismus und Nationalismus. Dabei fällt völlig aus dem Blick, dass es sich bei alldem nur um symbolische Zuweisungen handelt, hinter denen unterschiedliche politische Konzepte stehen.
In Ihrer Analyse taucht immer wieder der Begriff Neoliberalismus auf.
Regina Wamper: Das neoliberale Konzept, nach dem vor allem die sogenannten marktwirtschaftlichen Kräfte das ökonomische und politische Leben in Gesellschaften regulieren und sich staatliche Institutionen weitgehend heraushalten sollten, kann als Hintergrundfolie der Bewertungen der Krise in und um Griechenland angesehen werden.
Dass so eine neoliberale Hintergrundfolie verwendet wird, erstaunt nicht wirklich.
Regina Wamper: Das mag nicht wirklich erstaunen, aber dennoch hat unsere Analyse herausgearbeitet, dass ein solches neoliberales Konzept in der SZ stillschweigend vorausgesetzt wird, was sich sehr gut nachverfolgen lässt, wenn man den Begriff der Reformen in der SZ semantisch entschlüsselt.
Wie verwendet die SZ den Begriff denn?
Regina Wamper: Wir müssen uns fragen: Was gilt in der SZ als Reform? Und was gilt der SZ als der Reform abträglich?
Als "Reformen" in Sachen Griechenland gelten sowohl die Bekämpfung von Korruption als auch strukturelle Veränderungen im Staatsapparat wie Privatisierungen und Sozialabbau. "Reformen" dienen dann zum einen dem "Ausmisten des klientelistischen Augiasstalles" (26.1.2015), zum anderen dem wirtschaftspolitischen Aufschwung, auch wenn dies zu Lasten der sozialen Situation geht: Gemeint sind für die Bevölkerung "[s]chmerzhafte Reformen" - so formuliert es Guido Bohsem am 30.5.2015. Und Alexander Kritikos schreibt in einem Kommentar am 28.03.2015 "Es ist die private Wirtschaft in Griechenland, die Luft zum Atmen benötigt, damit dieser permanente Exodus der Top-Forscher und herausragenden Unternehmer aus Griechenland endet. Die griechische Regierung hat es selbst in der Hand, ihren privaten Kräften durch Wirtschaftsreformen die Luft zum Atmen zu geben."
Nicht als "Reformen" gelten dagegen nach Alexander Hagelüken eine "Ausweitung des Streikrechts, Wiedereinstellung von Beamten, Neuauflage der 13. Rentenzahlung oder Stopp von Privatisierungen". (5.2.2015)
Margarete Jäger: Die Vorstellungen davon, was aus der Sicht der SZ Reformen für Griechenland sind bzw. was sie nicht sind, bringt außerdem ein Kommentar von Marc Beise exemplarisch auf den Punkt: "Zentral verantwortlich für die Misere sind aber nicht die mit Reformauflagen versehenen Rettungsprogramme, sondern tiefer liegende wirtschaftspolitische Fehler. Man muss sie klar benennen: Ein starres Arbeitssystem mit hohem Kündigungsschutz hält die Alten im Job und lässt die Jungen nicht rein, Mindestlöhne verschärfen die Lage." (28.5.2015)
In Ihrer Analyse führen Sie noch einen anderen Kommentar an. In ihm wird behauptet, dass "die Griechen die meisten ihrer Probleme selber verursacht" haben. Außerdem sei es absurd "im Ernst [zu] behaupten, an den Problemen in Griechenland seien andere schuld als die Griechen. Etwa Merkel. Die Banken. Die böse Troika." Wird hier Komplexität reduziert?
Margarete Jäger: Ja, dieser Kommentar findet sich auch in unserem Untersuchungsdossier. Hier werden in der Tat die Ursachen für die komplexe Situation, wie sie in Griechenland vorliegt, ausschließlich auf interne Gründe reduziert. Man kann auch sagen, dass Klientilismus und Staatsdirigismus so zur unhinterfragbaren Ursache der europäischen Krise stilisiert werden.
Interessant ist, dass auf dieser Folie dann durchaus auch in der SZ Kritik v.a. am Sparkurs formuliert und die Frage aufgeworfen wird, ob "Angela Merkel in Griechenland zu viel in zu kurzer Zeit wollte und die sozialen Folgen ihres Kurses zu wenig bedacht hat". (20.4.2015).
Kritik findet sich also schon in den Kommentaren?
Margarete Jäger: Sicher, das haben wir ja bereits erwähnt, es gibt Kritik - aber nur in einem sehr engen Rahmen. Die Kritik überschreitet nämlich nicht die Feststellung der Notwendigkeit von "Reformen" im Sinne der Sparpolitik und des Umbaus der griechischen Wirtschaft.
Was bedeutet das?
Margarete Jäger: Das bedeutet, dass über den Kapitalismus hinausweisende Konzepte außerhalb der Grenze des Sagbaren liegen, ebenso wie sozialpolitische Maßnahmen. Sozialpolitik gilt als wirtschaftsschädigend. Insofern wird dann eine Kritik an dem Agieren der Troika auch als "absurd" bewertet.
In den SZ-Kommentaren zu Griechenland fließt an manchen Stellen auch das Thema Russland mit ein. Was ist Ihnen da aufgefallen?
Regina Wamper: Das ist in der Tat sehr interessant. Die Rolle von Russland wird in Verbindung mit der Krise in Griechenland als besonders destruktiv wahrgenommen. Russland wird als äußerer Feind begriffen, der insgesamt als weltpolitischer Akteur seinen Einfluss durch Bestechung, Gewalt und Krieg abzusichern suche. Damit wird Russland im Griechenland-Diskurs zu einer außenpolitischen Gefahr für Europa, sollte es zu einer Kooperation zwischen Tsipras und Putin kommen.
Durch eine solche Positionierung wird Europa als eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft, die untereinander in einem produktiven Wettbewerb steht, abgegrenzt. Europa, so lautet der Umkehrschluss, vertrete seine Interessen eben nicht durch etwa Kriegspolitik.
Laut einer von der Wochenzeitung DIE ZEIT in Auftrag gegebenen Umfrage haben 52 Prozent der Befragten kein Vertrauen in die Berichterstattung der deutschen Medien in Sachen Russland und Ukraine, 46 Prozent der Befragten haben kein Vertrauen in die Griechenland-Berichterstattung. Können Sie diesen Umfragewert im Hinblick auf ihre Analyse kommentieren?
Margarete Jäger: Ich denke, diese Zahlen sagen herzlich wenig darüber aus, aus welchen Gründen die Menschen kein Vertrauen in die Berichterstattung haben, also aus welcher Diskursposition sie ihr Unbehagen artikulieren. Grundsätzlich ist es aber zu begrüßen, wenn die Konsumenten der Medien diese nicht als Produzenten von "Wahrheiten" ansehen und ihnen mit einer gewissen Skepsis begegnet wird.
Allerdings haben die auf den Pegida-Demonstrationen artikulierten Vorbehalte gegenüber einer "Lügenpresse" auch gezeigt, dass es vielfältige Gründe für eine Kritik und Distanz zu den Medien gibt, und diese Vorbehalte eben nicht immer progressiv oder kritisch sind sondern hier vor allem Verschwörungskonstruktionen artikuliert werden.

In den Bewertungen der Medien werden weitgehend die dominanten oder hegemonialen Aussagen reproduziert

Ein Schwerpunkt Ihrer wissenschaftlichen Arbeit liegt in der Diskursanalyse. Hierfür beobachten Sie die Berichterstattung der Medien. Aus Ihrer Sicht: Gibt es wiederkehrende, generelle Schwachstellen, die sich in bestimmten Mediendiskursen finden?
Regina Wamper: Die gibt es leider. Es ist so - und dies haben wir nicht nur in der Analyse der Süddeutschen Zeitung feststellen können -, dass in den Bewertungen der Medien weitgehend die dominanten oder hegemonialen Aussagen reproduziert werden. Das ist auch nicht verwunderlich, da selbstverständlich auch die Medienschaffenden in herrschende Diskurse eingebunden sind. Das heißt, vorhandene Ausgrenzungsstrategien, die sich über die Konstruktion von Dichotomien, von Freund- und Feindbildern sowie über die damit verbundenen Symbole vermitteln, werden auch in den Medien (re)produziert.
Sie erwähnen, dass Medien hegemoniale Aussagen reproduzieren. Medienkritiker sprechen oft von "Herrschaftsmedien", sie implizieren also, die großen Medien würden den Mächtigen, den "Herrschenden", näher stehen als den "einfachen" Menschen. Vertreter der großen Medien betonen hingegen immer wieder, dass ihre Berichterstattung von Vielfalt, von Meinungspluralismus geprägt ist. Stimmt das?
Margarete Jäger: Leider zeigen unsere Analysen häufig, dass die Vielfalt der Berichterstattung doch ziemlich eingeschränkt ist. Dies hat die Analyse der SZ zum Griechenland-Diskurs, die ja innerhalb der Presselandschaft als eher liberal einzuschätzen ist, noch einmal deutlich gemacht.
Die von uns analysierten Kommentare beziehen sich in ihrer Mehrheit auf eine politische und diplomatische Handlungsebene und der darin eingeschriebenen Logik. Dadurch werden jedoch nahezu systematisch die den Politiken zugrunde liegenden Konzepte ausgeblendet und / oder als alternativlos angesehen. Dass dies so ist, lässt sich sicherlich auch mit der Textsorte des Kommentars erklären, mit der tagespolitische Ereignisse bewertet werden. Solche Bewertungen nötigen den Journalisten vielfach die Perspektivebenen auf, auf denen die Geschehnisse verhandelt werden.
Wo ist das Problem?
Margarete Jäger: Der Blick auf das vorliegende durchgängig technokratische Herangehen der politischen Akteure, mit denen sie die Krise bewältigen wollen, wird verstellt. Interessant ist, dass diese Perspektive dann ein wenig angekratzt wird, wenn nicht nur Griechenland, sondern insgesamt die Schuldenkrise oder die Zukunft Europas in den Blick genommen wird. Dann werden Sätze sagbar, dass es zur Stabilisierung der Volkswirtschaften auch darum gehe, staatlicherseits durch ein Investitionsprogramm die Binnennachfrage zu stärken.
Regina Wamper: Hinsichtlich der Frage, ob die Medien, noch dazu in ihrer Gesamtheit, der herrschenden Klasse näher stehen, würden wir dies nicht personifizieren wollen.
Sondern?
Regina Wamper: Die Medien verfügen über eine diskursmächtige Position, indem sie die Richtung von Diskursen mitprägen. Sie sind Akteure, nicht Beobachter. Je stärker sie auf die Karte eines investigativen Journalismus setzen, umso mehr werden sie ihrem Selbstbild näher kommen und eine Vielfalt von Perspektiven in den Diskurs einbringen können. Dafür müsste aber die Bereitschaft da sein, herrschende und herrschaftliche Positionen zu hinterfragen und sich nicht einfach auf die Pressestellen von staatlichen Institutionen zu verlassen.
Lassen Sie uns doch nochmal "personifizieren" bzw. auf die Ebene der Akteure gehen. Ist es nicht so, dass gerade die sogenannten "Alpha-Journalisten" die Positionen der Herrschenden und Mächtigen gar nicht hinterfragen wollen, weil ihr Blick auf die Verhältnisse in etwa auch dem Blick entspricht, den die Entscheider aus Politik und Wirtschaft veranschlagen?
Margarete Jäger: Als Diskursanalytikerinnen schauen wir nicht auf die Motive der einzelnen Journalisten, sondern auf die Effekte, die sich durch die Berichte und Kommentierungen im Diskurs entfalten. Dass es eine gewisse Nähe zwischen Politik und Journalismus gibt, bringen wir dadurch zum Ausdruck, dass wir diesen Diskurs als mediopolitischen Diskurs bezeichnen. Doch suchen wir das Gespräch mit den Medienvertretern.
Wenn wir die Ergebnisse unserer Analysen mit Journalistinnen und Journalisten diskutieren, so verfolgen wir dabei deshalb das Ziel, sie auf solche Mechanismen hinzuweisen und mit ihnen zu besprechen, wie sich ausgrenzende und diffamierende Berichte vermeiden lassen. Aus unserer Sicht nehmen Medienschaffende eine besondere Verantwortung innerhalb der Diskursproduktion einer Gesellschaft ein. Es geht uns darum, das Bild der Medien, das sie auch von sich selbst haben, als Produzenten von Wahrheiten zu hinterfragen und sie zu ermutigen, auch einmal grundsätzlich andere Perspektiven einzunehmen und damit unter Umständen neues Wissen in den Diskurs zu tragen.
Haben Sie eine Erklärung? Wie kommt es dazu?
Margarete Jäger: Ein Grund ist, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Industriegesellschaften komplexe Sachverhalte und Konstellationen gesellschaftlich verhandelt und gedeutet werden müssen.
Dies geschieht vor einem interdiskursivem Deutungsrahmen, den wir als Kollektivsymbolik bezeichnen. Darunter verstehen wir ein System von kulturellen Stereotypen, Allegorien und Modellen, das in der Gesellschaft nahezu jedem quasi intuitiv zur Verfügung steht. Dieses Symbolsystem liefert einen Rahmen, innerhalb dessen die komplexen Wirklichkeiten gedeutet werden können und gedeutet werden.
Hinsichtlich der politischen Verortung stellt dieses System z.B. eine horizontale Achse zur Verfügung, auf der die politischen Positionen dann zwischen "rechts" und "links" eingeordnet werden - um ein Beispiel zu nennen. Das Kollektivsymbolsystem übernimmt eine Orientierungsfunktion und hilft uns dabei Sachverhalte symbolisch in vorhandenes Wissen zu integrieren.
Jürgen Link, der sich ausführlich mit diesem System beschäftigt und es für westliche Industriestaaten ausdifferenziert hat, fasste dies einmal treffend so zusammen: Man muss nichts über den Krebs im einzelnen wissen, um zu verstehen, dass Terror "der Krebs der Gesellschaft" ist. Das bedeutet nicht, dass dieses System starr ist und ein Ausstieg aus seiner ihm innewohnenden Logik nicht möglich ist. Symbole sind immer mehrdeutig und können auch umgedeutet werden. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn in den Medien die Kenntnis über die Wirksamkeit solcher Symboliken vorhanden wäre und ihr Einsatz entsprechend reflektiert würde.
Seit einigen Jahren ist aus diskursanalytischer Sicht etwas sehr Interessantes zu beobachten: Den Deutungsnarrativen der großen Medien stellen "alternative Medien" mehr und mehr eigene Deutungsnarrative entgegen. Wenn man sich mit den unterschiedlichen "Wahrheiten" auseinandersetzt, wird schnell deutlich, dass hier vollkommen unterschiedliche "Wirklichkeiten" aufeinandertreffen. Wie betrachten Sie dieses Phänomen?
Regina Wamper: Wir halten das für eine im Prinzip sehr positive Entwicklung, die vor allem durch die Ausbreitung des Internets in Gang gekommen ist. Dadurch ist es möglich, dass die Pluralität von Aussagen zur Geltung gebracht wird. Gewiss gibt es im Internet auch Nutzer, die mit ihren Kommentaren Ausgrenzungen forcieren und damit auch zu einer Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas beitragen. Dennoch können auf diese Weise eben auch bisherige "Wahrheiten" als eine mögliche Auffassung von Sachverhalten kennzeichnen lassen.
Wenn Sie die Erkenntnisse, die sie im Laufe der Zeit durch die Betrachtung und Auswertung verschiedener Mediendiskurse gewinnen konnten, beachten: Wie sollten Rezipienten auf Mediendiskurse, die von einer deutlichen Schlagseite geprägt sind, reagieren? Worauf muss geachtet werden?
Margarete Jäger: In den letzten Jahren wird häufig davon gesprochen, dass die Rezipientinnen und Rezipienten über eine entsprechende Medienkompetenz verfügen sollten. Das finden wir auch. Zu dieser Medienkompetenz sollte es gehören, dass Medien nicht als "Wahrheitsproduzenten" angesehen werden, sondern dass sie diskursive Positionen formulieren. Eine solche Sichtweise macht es dann auch möglich, seine und ihre Stimme dort einzubringen, wo dies erforderlich ist, z.B. wenn es um die Zurückweisung diffamierender und ausgrenzender Positionen geht.

Dr. Margarete Jäger leitet zurzeit das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Regina Wamper, M.A., ist Mitarbeiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung.