Die Schnelligkeit der Nicht-Gedanken

Ein Gespräch mit dem Astrophysiker und Autor lan Lightman über seine Kafka-Parabel fürs Informationszeitalter

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Alan Lightman ist ein seltenes Exemplar. Hauptberuflich arbeitet er am renommierten Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.), früher als Astrophysiker, heute als Professor of Humanities & Creative Writing. Nebenbei schreibt er erfolgreiche Romane und schafft damit den Spagat zwischen C.P. Snows "zwei Kulturen" Wissenschaft und Kunst, der in den heutigen Zeit mit ihrer zunehmenden Spezialisierung immer schwieriger wird. In seinem ersten Roman "Einstein's Dreams" (dt.: "Und immer wieder die Zeit") brachte Lightman seine beiden Berufungen unter einen Hut, indem er eine Reihe fiktionaler Universen schuf, um spielerisch unterschiedliche physikalische Zeitkonzepte auszuloten.

Alan Lightmans neuer Roman "Die Diagnose" lässt sich am besten als Kafka-Parabel fürs Informationszeitalter beschreiben. Er lässt seinen modernen Jedermann, den Info-Broker Bill Chalmers, an einem mysteriösen Leiden erkranken, für das er trotz aller ihm zur Verfügung stehenden Wissensquellen keine abschließende Diagnose erhalten kann. Kapitel um Kapitel verliert Chalmers seine körperlichen und mentalen Fähigkeiten, während sein Sohn im Cyberspace den (fiktiven) Platon-Dialog "Anytos" liest, der vom Ende des Sokrates handelt und zahlreiche Analogien zu Chalmers’ Geschichte aufweist. Telepolis sprach mit Alan Lightman über seinen Roman, kommunikative Entropie und den Zusammenhang von Amnesie und Identität.

"Die Diagnose" birgt gerade zu Beginn sehr viele Anspielungen auf Kafka. War sein Werk eine Inspiration für Ihr Buch?

Alan Lightman: Ich bin ein großer Bewunderer Kafkas, ich habe aber nicht versucht, Referenzen zu speziellen Stellen seiner Bücher einzubauen. Der Einfluss besteht eher in der Idee eines von der Gesellschaft entfremdeten Individuums, das in eine unverständliche Situation gerät, wie im "Prozess". In "Die Diagnose" wollte ich eine Gesellschaft porträtieren, indem ich die kafkaeske Geschichte eines aus ihr herausfallenden Mannes erzähle.

Woher kam die Idee, in diese moderne Geschichte Szenen aus dem antiken Griechenland zu integrieren?

Alan Lightman: Ein anderer Einfluss neben Kafka ist Michail Bulgakows "Der Meister und Margerita". In diesen Roman ist eine Novelle eingebettet, die unterschwellig eine sehr eindrückliche Atmosphäre verbreitet. Ich brauchte so ein narratives Gegengewicht, um dem unaufhaltsamen Verfall der Hauptfigur etwas entgegenzusetzen. Die Geschichte von Anytos und dem seinen Tod erwartenden Sokrates verschleppt das Tempo und unterbricht den tragischen Niedergang Chalmers', der sonst schwer zu ertragen gewesen wäre. Die Szenen verleihen der modernen Tragödie mehr Gewicht, denn ich sehen den derzeitigen Zustand der USA tatsächlich als tragisch an. Ich wollte keinen direkten Vergleich zwischen dem damaligen Griechenland und den heutigen USA nahe legen, es gibt keine durchgängigen Analogien zwischen Figuren und Ereignissen, sondern nur sich gegenseitig erhellende Kontraste und Parallelen. Mal erinnert Chalmers an Sokrates, mal an seinen Ankläger Anytos. Die Langsamkeit der antiken Szenen kontrastiert außerdem mit der Hektik der Moderne, die ja ein zentraler Grund für Chalmers’ Niedergang ist.

Autoren wie Thomas Pynchon und Don DeLillo benutzten den thermodynamischen Begriff der Entropie als Metapher für geschlossene Kultursysteme auf dem Nullpunkt. Auch in Ihrem Roman herrscht trotz des hektischen Austauschs von Informationen in Chalmers' Arbeitswelt ein Kommunikations-Stillstand, zwischen den Figuren werden keine bedeutungsvollen, persönlichen Botschaften mehr ausgetauscht.

Alan Lightman: Ich habe zwar nicht in thermodynamischen Begriffen darüber nachgedacht, doch ich halte zwischenmenschliche Beziehungen in der heutigen Gesellschaft für leer. Es gibt keine authentischen Verbindungen mehr, was wohl nur ein anderer Weg ist, um zu sagen, dass zwischen den einzelnen Molekülen/Menschen des Systems nichts mehr passiert. Für diese Stagnation gibt es viele Gründe, doch im Roman stehen die rasende Beschleunigung des Alltagslebens und unsere Begeisterung für materielle Dinge im Vordergrund. Chalmers hat keine Zeit mehr für persönliche und moralische Reflexionen. Es fehlt ihm die Möglichkeit zur Selbstbetrachtung und -erkenntnis, die die Voraussetzung für eine gelungene Beziehung mit einem anderen Menschen ist.

Die vielen im Roman abgedruckten Emails strotzen vor Schreibfehlern und unwichtigen Informationen, sind andererseits aber häufig die letzte Verbindung, die überhaupt zwischen Figuren besteht, z. B. zwischen Chalmers und seinem Sohn. Wie sehen Sie dieses Medium?

Alan Lightman: Ich selbst benutze es kaum, doch ich beobachte viele Menschen um mich herum, die fortwährend Botschaften abschicken, ohne sie bis ins Letzte durchdacht zu haben. Bei Email scheint es darum zu gehen, einen Gedanken oder auch Nicht-Gedanken so schnell wie möglich los zu werden. Aber es gibt natürlich auch andere, positive Beispiele, bei allen Medien hängt ihr Wert von den Menschen ab, die sie benutzen. Das gilt für Handys, Faxmaschinen und alle anderen Technologien, sie sind wertfrei und können vom Menschen guten wie schlechten Zwecken zugeführt werden. Wichtig ist nur, dass man sich des eigenen Umgangs mit neuen Technologien bewusst wird und sie nicht per se als Gewinn oder etwas Natürliches betrachtet. Das ist auch das Problem von Chalmers' Frau Melissa, für die ihre Internet-Affäre dasselbe Gewicht bekommen hat wie ihre Ehe. Diese Unfähigkeit, zwischen Illusion und Realität zu unterscheiden, symbolisiert für mich die Leere ihres Lebens.

Ihre M.I.T-Kollegin Sherry Turkle sagt hingegen, dass solche virtuellen Affären alles andere als leer, sondern ganz im Gegenteil eine Möglichkeit sind, verborgene oder unterdrückte Aspekte der eigenen Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Alan Lightman: (Nach langem Zögern) Natürlich ist der regelmäßige Chat mit ihrem Online-Partner wichtig für Melissa, ich persönlich glaube aber nicht, dass er eine direkte, körperliche Beziehung ersetzen kann.

Die Amnesie, die Chalmers zu Beginn von "Die Diagnose" erleidet, ist auch Thema vieler anderer zeitgenössischer Filme und. Was macht das Thema derzeit so interessant für Künstler?

Alan Lightman: Was mich an diesem Thema interessiert, ist das Problem der Identität. Wie schafft man sich eine Vorstellung davon, wer man selbst ist? Was unterscheidet einen von anderen Menschen? Wir alle haben in unserem Gehirn eine Ansammlung von Molekülen, die gemeinsam die mysteriöse Einheit bilden, die wir als Bewusstsein bezeichnen und die uns von der unbelebten Natur unterscheidet. Das Bewusstsein hat ein starkes Gefühl seiner eigenen Einmaligkeit, seiner Differenz von allen anderen Wesen. Woher kommt dieses Gefühl der Einzigartigkeit? Unser Erinnerungsvermögen ist eine der Ursachen dafür. Seine fiktive Beeinträchtigung, das narrative Experimentieren mit Gedächtnisspuren kann uns dem Wesen unserer Identität näherbringen. Mit Identität und Erinnerung hat sich die Literatur immer schon auseinander gesetzt.

Steht Amnesie nicht auch für ein geschichtsloses Bewusstsein?

Alan Lightman: Allerdings, und wir Amerikaner sind davon am stärksten betroffen. Wir haben ja tatsächlich eine kürzere Geschichte als europäische Nationen, aber selbst über die 200 Jahre, die wir haben, wissen die meisten Amerikaner gar nichts. In einer der von mir geschilderten Traumwelten in "Einstein's Dreams" haben die Menschen keine Erinnerung. Jeder trägt ein Buch bei sich, "The Big Book of Life", in dem er alles niederschreibt, was sich am Tag ereignet. Je älter sie werden, desto dicker wird das Buch, und wenn sie sich ein vergangenes Ereignis vergegenwärtigen wollen, müssen sie die entsprechende Seite des Buches aufschlagen. Es handelt sich also um ein externalisiertes Gedächtnis. Ein Mann, der nach Hause gehen will, muss auf der Seite vom Vortag nachschauen, welche Adresse er aufsuchen muss. Und auch den Namen der äußerst aktiven Frau, die ihn an der Tür erwartet, muss er erst nachschlagen.

Ist das die entscheidende Aufgabe zeitgenössischer Literatur: die Reflektion über gesellschaftliche und persönliche Identitäten?

Alan Lightman: Das war immer die Funktion von Büchern, und daran wird sich auch nichts ändern. Es geht immer darum, eine kritische Perspektive auf die Gesellschaft zu entwerfen. Ich glaube auch nicht an den viel beschworenen "Tod des Buches", das angeblich von anderen Medien verdrängt werden wird. Es wird immer einen Bedarf nach ernsthafter Literatur geben. Heutzutage gibt es sehr viele hervorragende Schriftsteller überall auf der Welt, die auch gelesen werden.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass nur 100 Menschen die Kultur maßgeblich beeinflussen können. Ist das nicht eine etwas elitäre Einstellung?

Alan Lightman: Ich meinte damit natürlich nicht, dass es nur etwa 100 Intellektuelle gibt, die überhaupt zu was gut sind, sondern dass eine kleine Zahl von Leuten eine große Wirkung entfalten kann. Ich stelle mir das als Schneeballeffekt vor: Es gibt vielleicht 100 wichtige Bücher in einer Kultur, dann gibt es 1000 Leute, die sie tatsächlich lesen und dann Artikel oder andere Bücher darüber schreiben, die dann von 10000 Menschen gelesen werden, die wiederum die Regierung wählen…

… und schließlich bekommt man George W. Bush.

Alan Lightman: (Lachend) Genau, der befindet sich am Fuß der Pyramide.

Alan Lightman: "Die Diagnose", aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt, Dromer Knaur, 366 Seiten, 20,50 Euro