Die Sims üben Demokratie

Über das Kasperletheater der Partizipation in der Zivilgesellschaft

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Erinnern Sie sich noch an den mündigen Bürger? Im Schulunterricht der Siebziger und frühen Achtziger war er ein gern gesehener Gast - landauf, landab wurde er den Schülern als Charakterideal vorgestellt, und mit Nachdruck schrieben sie millionenfach in ihren Aufsätzen nieder, was ihre Deutsch- und Gemeinschaftskundelehrer von ihnen hören wollten. Zusammen mit seinem Kollegen, dem "Bürger in Uniform" (einer Art mündigem Befehlsempfänger), machte der mündige Bürger große Karriere.

In den parallel stattfindenden Neuen Sozialen Bewegungen äußerten mündige Bürger gern auch vor laufenden Kameras, dass sie als mündige Bürger staatliche Willkürhandlungen bei der Errichtung von Atomkraftwerken, Flughafenstartbahnen u.ä. nicht dulden würden, zumindest ließen sie sich nicht den Mund verbieten, denn Protest gegen die Willkür der Macht sei nun einmal ihr verbrieftes Grundrecht (s. "Mündigkeit" u. "Bürgertum").

Diese sozialliberale Variante des "neuen Menschen", den einst die Radikalen von der APO im Sinn hatten, geriet in der Kohl-Ära allerdings arg ins Hintertreffen. Der mündige Bürger begann wie ein Wahldackel mit Pensionsberechtigung zu wirken, wenn bei allem, was er wählte, doch immer nur Kohl herauskam (sogar dann, wenn er nicht wählte). Kohl und den Seinen in Politik, Wirtschaft und Kultur war diese Entwertung von Ideen und Konzepten, die die "Sozen" aufgebracht hatten, gerade recht. Rot-Grün oblag es dann ironischerweise, aus dem Wahldackel mit Pensionsberechtigung den Kunden zu machen, also einen Wahldackel ohne Pensionsberechtigung.

Aber obwohl der mündige Bürger im öffentlichen Diskurs vom Kunden verdrängt wurde, ist er nicht etwa sanft entschlafen. Ein Pflichtethiker wie er ist zur Stelle, wenn er gebraucht wird; und gebraucht wird er allemal. Auch als Kunde darf er sich austoben, wenn’s nicht zu doll wird, in "Jugendgemeinderäten" bei Mitmachaktionen zur Rettung des Weltklimas beim Versenden von Kettenbriefen, dem konsumentensouveränen Einkauf "fair gehandelter" Waren und der Entscheidung für eine bestimmte Ökostromfirma und gegen eine andere.

Der mündige Bürger tritt heute als Lehrer auf, der seinen Schülern propere "Demokratieerziehung" zuteil werden lässt, als TV-Zuschauer, der entfernte Unrechtsregime mit dem Abschaltknopf seiner Fernbedienung in die Knie zwingt, als Zwangsdebattierer in Internetforen und Blogs.

Volkshochschule der Demokratiesimulation

Das soll wohl partizipatorische Demokratie sein, was offenbar eine Form der Demokratie ist, die den sogenannten Volkssouverän zuerst souverän von allen wirklichen Entscheidungsprozessen ausschließt und dann per "Teilhabe" unter bestimmten Bedingungen wieder ins Haus lässt - wenigstens ein bisschen. Das Gemeinsame an all diesen partizipatorischen Gymnastikübungen ist ihre Nutzlosigkeit. Die altbekannten Wahlen, bei denen über nichts entschieden wird als über eine idiotische Farbenlehre für Siebenjährige; die Betriebsräte, die über nichts zu beraten haben als über Rauchpausen; die "Schülermitverwaltungen", die nichts mitverwalten als den Blumenschmuck in der Aula - sie haben sich in eine Volkshochschule der Demokratiesimulation verwandelt, mit einem superdiversifizierten Kursangebot, das für jeden Geschmack etwas zu bieten hat.

Auch die G8- Proteste vom letzten Jahr, die wieder in Mode kommenden Flash-Mobs und lustige Aktionen im Bundestag (siehe APO 2.0?) sind als symbolische Politik Teil der Blümchendekoration auf dem Beton einer sich stetig mehr verhärtenden Klassengesellschaft, die den sozialdemokratischen Kompromiss hinter sich hat, aber Demokratiesimulation und -propaganda noch braucht. Eine Demokratie der Kunden eben - ganz selbstbestimmt und frei wählen sie im Problem- Supermarkt die Mißstände aus, an denen unter den herrschenden Bedingungen garantiert nichts zu ändern ist. Die nutzlosen Lösungen gibt es gleich ein Regal tiefer.

Wo alles Sachzwang geworden ist, erlebt die Entscheidungsfreiheit eine Scheinblüte der jämmerlichsten Art. Aus dieser Perspektive gesehen wirkt die Berliner Republik komischerweise mehr und mehr wie eine kapitalistische DDR. Jeder darf, ja soll sogar bei Abstoffsammlungen, Jugendweihen und bei den Blockparteien mitmachen, wenn es die kapitalistische Wertschöpfung nicht behindert.

Noch schlimmer als dieses Kasperletheater ist freilich, dass man sich ein Ende der Vorstellung kaum wünschen kann. Eine Ersetzung der Demokratie-Sims durch Aktivdeutsche, die für Volk und Vaterland auf die Straße gehen, und ein wütender Volkssouverän, der beim Regieren qua Volksabstimmung schnurstracks die Todesstrafe wieder einführt - wohl kaum eine Alternative zum Status Quo. Und sicher steckt in manchen Formen des Einspruchs immerhin das Potenzial, bestimmte Risse im gesellschaftlichen Beton deutlich zu machen (s. die G8-Proteste, Flash-Mobs, und lustige Aktionen im Bundestag).

Nicht jeder Versuch zur Einmischung ist ja schon deswegen falsch, weil er nichts nützt. Aber manchmal fragt man sich doch, was geschehen würde, wenn die Blümchenmalerei entfiele. Stell dir vor, es ist Second-Life, und wirklich keiner geht mehr hin. Man kann das eine Utopie der Stille nennen: dass in ihr die Fragen laut werden, um die es eigentlich geht. Es ist nie zu spät zum Träumen.