Die Tragödie von Odessa
Der ukrainische Übergangspräsident Turtschinow spricht von "tragischen Ereignissen" und einer "äußeren Provokation". Belege für die angedeutete "russische Spur" beim Brand des Gewerkschaftshauses fehlen.
Erschütternd, was Sofia, eine Ärztin, im brennenden Gewerkschaftshaus von Odessa gestern erlebte. In einem Blog bei Radio Echo Moskwy schildert die Überlebende die dramatischen Ereignisse in dem brennenden Gebäude.
Warum sie in das Gewerkschaftshaus ging? Weil sie als Ärztin ihre Freunde nicht im Stich lassen wollte, erklärt Sofia. Dass die Feuerwehr erst nach zwanzig Minuten kam und die Polizei gegen die Brandstifter, die das mehrstöckige Gebäude gestern Abend an mehreren Stellen mit Molotow-Cocktails in Brand steckten, nicht einschritt, war nach Meinung von Sofia "kein Zufall". Die Menschen seien von den Fußball-Ultras und den "Patrioten der Ukraine" mit Knüppeln und Steinen in eine Falle gejagt worden. Unter denen, die sich in das Gewerkschaftshaus geflüchtet hatten, seien "viele Frauen, ältere Menschen und einfache Bürger" gewesen. Viele hätten den von den Ultras Verfolgten einfach nur Medikamente bringen wollen. "Professionelle Militärs, Söldner und Ausländer" habe sie nicht gesehen. Das Leben der Ärztin Sofia hing an einem seidenen Faden.
Sehr schnell flog ein Molotow-Cocktail durch das Fenster, im Flur begann es zu brennen. Es gab einen Feuerlöscher, aber es gelang nicht, den Brand einzudämmen. Ich habe mich mit Dutzenden von Menschen vor dem Feuer in eines der Bürozimmer verbarrikadiert, es gab schwarzen Rauch und nichts zu atmen, alle legten sich auf den Boden, wo es noch Luft zum Atmen gab.
Nach zehn Minuten habe jemand ein Seil durch das offene Fenster geworfen, woran Sofia sich abseilen konnte. Unten angekommen hätten Zivilisten ihr Wasser gegeben. Aber die Maidan-Anhänger hätten angefangen, sie zu bedrängen. Ihr sei es aber gelungen zu entkommen, um nicht von den "Europäern" und "Demokraten" geschlagen zu werden, "einfach deshalb, weil man überlebt hatte und nicht lebendig verbrannt war", wie sie bitter mitteilt.
42 Tote und 125 Verletzte
Wie der ukrainische Innenminister Arsen Awakow erklärte, starben bei den Auseinandersetzungen im Gewerkschaftshaus von Odessa 42 Menschen. 125 Menschen wurden verletzt. Bereits gestern Nacht sprachen Kritiker der Regierung allein von 38 Menschen, die beim Brand im Gewerkschaftshaus ums Leben kamen.
Übergangspräsident Turtschinow sprach von "tragischen Ereignissen", die "vor allem auf äußere Provokation" zurückzuführen seien und rief wegen der "Helden", die bei der "Antiterroristischen Operation" in der Ostukraine starben und den "Umgekommenen bei den tragischen Ereignissen in Odessa" eine zweitätige Staatstrauer aus. Turtschinow erklärte, das Volk müsse jetzt gegen den äußeren Aggressor zusammenstehen (Militärbeobachter freigelassen).
Es ist nicht das erste Mal, dass die Regierung in Kiew sich aus der Verantwortung stiehlt, indem sie Ereignisse, die nichts direkt miteinander zu tun haben (Ost-Ukraine/Odessa) vermengt und die Nationalisten, von denen die Brandstiftung in Odessa ausging, nicht genannt werden.
Auch wenn die "Beschützer von Odessa", wie sich die prorussischen Kräfte in der südukrainischen Hafenstadt nennen, teils mit Knüppeln bewaffnet waren, hieße das ja noch nicht, dass man sie verbrennen darf. Diese Klarstellung hätte man von einem Übergangspräsidenten, der europäische Werte in der Ukraine einführen will, eigentlich erwarten dürfen. Auf Videos ist zu sehen, dass auch die (vermutlich) pro-ukrainischen Aktivisten schon bei der Auseinandersetzung auf der Straße mit Knüppeln bewaffnet, maskiert und mit Helmen ausstaffiert waren.
Bei der "Antiterror-Operation" der ukrainischen Truppen in den Städten Slawjansk und Kramatorsk seien - so Turtschinow - fünf Menschen gestorben, zwölf wurden verletzt. Diese Opfer waren nach Meinung des Präsidenten "Helden", die Verbrannten im Gewerkschaftshaus dagegen nur "tragische Opfer".
Die Behörden in Odessa ermitteln nun auch wegen "vorsätzlichem Mord", ob damit die Branstiftung gemeint ist, bleibt offen.
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte, die Schuld für die Opfer bei den Auseinandersetzungen in der Süd-Ost-Ukraine trage die Macht in Kiew und ihre westliche Partner. Kiew und "die westlichen Sponsoren" würden Blutvergießen "faktisch provozieren" und trügen dafür "die direkte Verantwortung".
"Einfach Bürger mit ukrainischen Flaggen"
Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums wurden 160 Teilnehmer der Auseinandersetzungen um das Gewerkschaftshaus verhaftet. Es wurden zehn Strafverfahren eröffnet, wegen Massenunruhen, vorsätzlicher Gewalt gegen Polizisten, Hooliganismus, Besetzung staatlicher Gebäude und Zerstörung von Eigentum. Kritiker der Regierung in Kiew sagen, unter den Verhafteten seien vor allem Regierungsgegner.
Das ukrainische Innenministerium versucht jedoch das eigene Versagen zu vertuschen. Zwar wurde der Leiter der Polizei des Gebietes Donezk von Innenminister Arsen Awakow entlassen, genaue Gründe werden jedoch in der Pressemitteilung des Ministeriums nicht genannt. Aus der Pressemitteilung erfährt man jedoch, dass die Fußballfans einfach nur Richtung Stadion demonstrierten wollten. Ihnen hätten sich "einfache Bürger mit ukrainischen Flaggen" angeschlossen. Diesen offenbar völlig friedlichen Menschen hätten Personen mit "Masken und Knüppeln" gegenübergestanden, gemeint waren die prorussischen Regierungsgegner. Auf einem Video ist zu sehen, dass eine Person, die prorussischen Aktivisten anzugehören scheint, offenbar auch Schusswaffen bei sich hatten.
Unbekannte durchsuchen Leichen von Regierungsgegnern
Unbekannte nahmen in den ausgebrannten Räumen des Gewerkschaftshauses ein Video auf, bei dem zu sehen ist, wie Tote gezählt wurden - die Zahl von 17 Toten wurde genannt - und den Leichen triumphierend "verdächtige Gegenstände", wie eine Ikone und Notizbücher, aus den Taschen gezogen werden. Staatliche Ermittler sind bei dieser "Spurensicherung" nicht zu sehen.
Doch das Wichtigste, was die selbsternannten Ermittler offenbar suchten, fanden sie nicht, Ausweise von russischen Staatsbürgern. Bisher gibt es keinen Beweis, dass unter den Brandopfern im Gewerkschaftshaus 15 Russen waren, wie von einigen ukrainischen Medien behauptet.
Für die Rekonstruktion der Tragödie von Odessa besonders aussagekräftig ist das Video, welches gestern unter dem Titel "Eta moi narod?" (Ist das mein Volk?) im Internet veröffentlicht wurde. Es zeigt die Schlüsselszenen vor dem Gewerkschaftshaus chronologisch, was erste Schlüsse zulässt. Was ist genau zu sehen?
- Fußballfans, Nationalisten mit ukrainischen Fahnen und ältere Männer in aufgeputschter Stimmung, zum Teil bewaffnet mit Knüppeln, versammeln sich vor dem Gewerkschaftshaus. Es sind Schüsse zu hören. Molotow-Cocktails fliegen in die Fenster (3:16) des mehrstöckigen Gewerkschaftshauses. Polizei ist nicht zu sehen.
- Ein Mann mit ukrainischer Armbinde schießt auf das Gewerkschaftshaus (6:28). Dass aus dem Gewerkschaftshaus geschossen wird, ist nicht zu sehen.
- Der Video-Filmer berichtet, dass aus der dritten und vierten Etage des brennenden Gebäudes Menschen nach unten springen. Die Kamera zeigt Schwerverletze, die übereinander liegen (18:46).
- Zivilisten und einzelne Polizisten schleifen die Schwerverletzten über den Asphalt weg vom brennenden Gebäude. Die Hilfe wirkt chaotisch. Eine Planung ist nicht zu erkennen.
- Erst als das Feuer bereits aus den Fenstern des Hauses lodert, ist im Bild die erste Polizei-Staffel mit Helmen und Schutzschildern zu sehen (20:40).
- An den Fenstern sind Menschen zu sehen, die nicht wissen was sie machen sollen (21:47). Ein Mann ruft von unten "Geht runter, es wird ein Korridor gebildet." Doch von einem Korridor ist nichts zu sehen. Eine Frau am Fenster antwortet verzweifelt: "Ruft die Feuerwehr." Doch auch von der Feuerwehr ist nichts zu sehen. Im Hintergrund grollen Rufe: "Es lebe die Ukraine."
Die Verzweiflung der Eingeschlossenen ist auch auf Fotos zu sehen. Menschen sind aus den Fenstern geklettert und stehen in großer Höhe auf Mauervorsprüngen, um nicht an den Rauschwaden zu ersticken.
Zitternd auf dem Dach
Viele der von den Bränden Eingeschlossenen hatten sich auf dem Dach des Gewerkschaftshauses gerettet. Dort mussten die Menschen lange in Kälte ausharren. Sie verließen das Dach erst nach langen Verhandlungen und wurden in Transportern der Polizei auf Polizeiwachen gebracht.
Die Tragödie von Odessa begann am Sonnabend Nachmittag. Mehrere Tausend Anhänger der Fußballclubs Tschernomorez (Odessa) und Metallist (Charkow) sowie Anhänger nationalistischer Organisationen marschierten in einem "Marsch für eine einige Ukraine" zum Fußballstadion, wo die beiden genannten Mannschaften aufeinandertreffen sollten.
Als sich Gegner der neuen Regierung in Kiew, genannt auch "Beschützer von Charkow", den Demonstranten in den Weg stellten, entstand eine Straßenschlacht. Die Fußball-Fans und Nationalisten steckten dann ein Zeltlager der Regierungsgegner nicht weit vom Gewerkschaftshaus in Brand. Als sich die Regierungsgegner dann in das Gewerkschaftshaus flüchteten, warfen die Nationalisten Molotow-Cocktails in die Fenster des Gebäudes.