"Die USA beherrschen die außenpolitische und sicherheitspolitische Lage Europas"

Seite 2: "Man hätte sich mit Putin verständigen können, wenn man wirklich verhandelt hätte."

Ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, dass man einen politischen Opponenten als "Feind" bezeichnet und betrachtet? Sie sprechen in ihrem Buch lieber von Gegnern.
Es gibt zwar die klassische Definition der Politik von Carl Schmitt als Freund-Feind-Verhältnis. In der Demokratie haben wir eigentlich gelernt, dass man von solchen Verschärfungen absehen muss. Aber bei manchen Autoren gibt es in den letzten Wochen fast eine Art von Sehnsucht nach neuen Feinden...

Klaus von Dohnanyi: Ich bin Ihrer Meinung. Andere haben andere Interessen. Da sind sie dann eventuell auch Gegner. Aber es hat überhaupt keinen Sinn, Leute, die nicht zur eigenen Gruppe dazugehören oder die anderer Meinung sind, immer gleich als "Feinde" zu bezeichnen.

Im Krieg gibt es natürlich wirkliche Feinde. Die Ukraine hat heute in Russland einen Feind. Das hat Russland selber verursacht.

Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass es ein grober politischer Fehler ist, Gegner, mit denen man sich am Ende doch einigen muss, zu beschimpfen oder zu beleidigen. Man schmälert damit nur die Chancen einer positiven Verständigung. Diplomatische Gepflogenheiten haben ihren Ursprung nämlich in historischer Erfahrung.

Sie haben ja auch geschrieben: "Der beste Schutz bleibt immer Verständigung mit dem Gegner." Jetzt stellt sich konkret natürlich die Frage: Kann man sich denn mit einem Putin verständigen? Anders gefragt: Was für eine Art von Verständigung wäre das?

Klaus von Dohnanyi: Ich bin persönlich überzeugt, dass man sich mit Putin hätte verständigen können, wenn man über das Thema Ukraine wirklich verhandelt hätte. Insbesondere, weil man sich ja im Westen längst klar darüber war, dass die Ukraine nicht in die Nato kommen sollte. Die härtesten Vertreter US-geopolitischer Interessen hatten ausdrücklich davor gewarnt, wie in meinem Buch ausführlich zu lesen ist.

Wenn man vor diesem Hintergrund mit Russland dann auch darüber verhandelt hatte, wie man die heute in der Nato befindlichen Staaten, die früher auch zum sowjetischen Einflussbereich gehörten, so in ein gemeinsames russisches und europäisches Sicherheitsinteresse einbetten könnte, dass dabei weder die Sicherheit auf der einen noch die auf der anderen Seite gefährdet wäre, hätte es mindestens die Chance für einen Frieden geben können.

Putin begann einen verbrecherischen Krieg. Aber Präsidenten Biden wollte trotz der drohenden Kriegsgefahr nicht verhandeln. Er drohte Russland nur mit drastischen Sanktionen und bemerkte nach Beginn des Krieges, er habe immer gewusst, dass diese Drohung Putin nicht vom Einmarsch in die Ukraine abschrecken werde: "Sanctions never deter"!

Er hat offensichtlich und wider besseres Wissen aus innenpolitischen Gründen – wegen einiger Stimmen aus dem republikanischen Lager! – alle Verhandlungen über das Nato/Ukraineproblem abgelehnt. Das wird eines Tages von den Historikern aufgearbeitet werden, wie die Geschichte von der angeblichen Vorbereitung nuklearer irakischer Waffen als Begründung für den Irak-Krieg 2003.

Aber das macht die Toten nicht wieder lebendig und das wird auch den schweren politischen und wirtschaftspolitischen Schaden des Krieges nicht ungeschehen machen.

Die Zeit, in der Sie selber in der Regierung von Willy Brandt Minister waren, war die große Zeit der westdeutschen Entspannungspolitik. In welchem Verhältnis stehen Entspannungspolitik und Militärpolitik?
In welchem Verhältnis müssen wir uns öffnen für die Interessen der anderen und wie können wir uns davor schützen, dass wir salopp gesagt nicht über den Tisch gezogen werden, dass diese Öffnungsbereitschaft nicht ausgenutzt wird?

Klaus von Dohnanyi: Natürlich muss jeder Staat auch verteidigungsfähig sein und daran hat es in Europa, nicht nur in Deutschland in den letzten Jahrzehnten oft gefehlt. Aber das lag dann weniger am Geld, als an der zweckmäßigen und effektiven Verwendung der Mittel.

Hier muss sich offensichtlich vieles ändern. Das Entscheidende bleibt aber, immer bemüht zu sein, dass auch andere an dem, was man selber beabsichtigt, ein Interesse gewinnen können. Ganz im Sinne von Immanuel Kants Traktat "Zum ewigen Frieden".

Wenn sich die EU, wenn sich der Westen nach Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989/90 nicht in erster Linie auf die Ausweitung militärischer Macht, also auf die Erweiterung der Nato und die Bewaffnung neuer Nato-Staaten konzentriert hätten, sondern eine strategische Zusammenarbeit zwischen Europa und der Russischen Föderation auch auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet stärker konzentriert hätten – alles "hätte", alles Konjunktiv – dann wären wir, vermute ich, weiter gekommen.

Man kann am Ende nur durch die Verständigung über entgegengesetzte Interessen auch Sicherheit schaffen. Das lehrt jedenfalls die Geschichte.

Teil 2 und Teil 3 des Interviews folgen in den kommenden Tagen.