Die Ukraine-Krise als "umgekehrte Kuba-Krise"

Seite 2: Angriffskriege sind zu verurteilen, aber die Hintergründe sind aufzuklären

Ich bin ein entschiedener Kriegsgegner, auch, weil ich überzeugt bin, dass sich durch Krieg in unserer komplexen Welt keine Probleme lösen lassen, und ich halte das zwischenstaatliche Gewaltverbot der UNO-Charta für einen wichtigen zivilisatorischen Fortschritt.

Deshalb war ich entsetzt und schockiert, als am 24.02.2022 russische Truppen die Ukraine angegriffen haben. Diesen illegalen Angriffskrieg Russlands lehne ich ebenso entschieden ab wie etwa den Jugoslawien-Krieg 1999 oder die vielen anderen oben genannten illegalen Kriege und Gewalttaten der USA und des Westens seit 1945.

Dass es zu diesem Krieg kommen würde, damit hatte ich bis zum Tag der Invasion nicht gerechnet. Deshalb habe ich mich nach dem ersten Schock in den letzten Wochen noch einmal mit der Vorgeschichte dieses Krieges, mit der seit vielen Jahren schwelenden Ukraine-Krise, beschäftigt, dessen trauriger Höhepunkt der jetzige Krieg ist, um deren Hintergründe besser zu verstehen.

Damit soll dieser Angriffskrieg natürlich nicht relativiert werden. Aber die Vorgeschichte und die Hintergründe dieses Krieges müssen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden, wenn er auf diplomatischem Wege beendet werden soll.

Das wird aber nach meiner Überzeugung nur möglich sein, wenn auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands dabei Rechnung getragen wird. Und diese sind nur erkennbar, wenn man sich sachlich und ohne Vorurteile mit diesem Krieg beschäftigt.

Wer ist verantwortlich für die Ukraine-Krise?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist von zentraler Bedeutung, dass in zahlreichen öffentlichen Verlautbarungen und Gesprächsprotokollen der verantwortlichen Politiker im Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands von Seiten des Westens der russischen Seite immer zugesichert wurde, dass sich die Nato über die Grenzen Deutschlands hinaus keinen "Inch" weiter nach Osten ausdehnen wird.

Ohne diese Zusicherung hätte es damals wahrscheinlich keine Wiedervereinigung gegeben. Entgegen diesem Versprechen wurden 1999 und 2004 die ersten beiden Nato-Osterweiterungen vom Westen durchgeführt und viele osteuropäische Länder, ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten, wurden in die Nato aufgenommen.

Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion hat dagegen protestiert, war aber zu dieser Zeit durch die erlittene und von den USA orchestrierte "Schocktherapie" bei der wirtschaftlichen Umgestaltung zu einem kapitalistischen Land schwach und zu ohnmächtig, um sich dagegen wirksam zur Wehr setzen zu können.

Als dann auf dem Bukarester Nato-Gipfel 2008 auch der Ukraine und Georgien die Nato-Mitgliedschaft perspektivisch angeboten wurde, hat Russland immer wieder darauf hingewiesen, dass es seine existentiellen Sicherheitsinteressen bedroht sieht, wenn das erfolgen sollte.

Verantwortliche russische Politiker haben seitdem bei vielen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht, dass sie die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato als eine "existentielle Bedrohung" für Russland ansehen würden und haben hier eine eindeutige rote Linie gezogen, wie das 1962 Kennedy bei der Stationierung von russischen Raketen auf Kuba getan hat.

Kurz vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erschien in der Schweizer Onlinezeitung infosperber ein Interview mit dem britischen Politikwissenschaftler Richard Sakwa, der den gegenwärtigen Ost-West-Konflikt erläutert.

Er spricht von einem zweiten Kalten Krieg, in dem wir uns wieder befinden, und von einer "umgekehrten Kuba-Krise in Zeitlupe", die sich in der Ukraine, einem Land mit einer aus historischen Gründen kulturell gespaltenen Bevölkerung an der Grenze zu Russland, spätestens seit dem von den USA und den EU-Ländern unterstützten Maidan-Putsch 2014 entwickelt hat.

Sakwa schreibt, dass die USA und die Nato-Staaten auf die nationalistischen Kräfte im Westen der Ukraine gesetzt haben, um die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen. Deshalb wurde 2008 auf dem Bukarest-Gipfel dem Land die Nato-Mitgliedschaft angeboten. Viele auf Russland orientierte Menschen im Osten des Landes waren aber mit einer Nato-Mitgliedschaft nicht einverstanden.

Als Reaktion auf den Maidan-Putsch 2014 kam es zu Anti-Maidan-Protesten im Donbass, aus dem sich ein Bürgerkrieg entwickelt hat, über den wir in Deutschland nur wenig wissen. Dieser Krieg tobt in und um die ukrainischen Städte Donezk und Lugansk ebenfalls seit 2014 und hat bis zum Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine rund 14.000 Zivilisten das Leben gekostet.

Die Entstehungsgeschichte und bedrückende Einzelheiten dieses Krieges werden in dem neuen Buch des Journalisten und Reporters Ulrich Heyden mit dem Titel "Der längste Krieg in Europa seit 1945" anschaulich geschildert.3

Dieser Bürgerkrieg ging trotz der völkerrechtlich-verbindlichen Minsker Abkommen 2015 Jahr für Jahr unvermindert weiter und hatte in den letzten Wochen vor dem Einmarsch Russlands noch an Heftigkeit zugenommen.

Nach der Auffassung des britischen Politologen Sakwa sind dafür vor allem die ukrainische Regierung und der Westen, insbesondere die beiden Signaturstaaten Deutschland und Frankreich, verantwortlich, denn sie haben für die Umsetzung dieses Vertrages zu wenig getan.