Die Ukraine-Krise als "umgekehrte Kuba-Krise"

Seite 3: Mearsheimer: Nato-Osterweiterung Wurzel der Krise

Diese Auffassung vertritt seit 2015 auch der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer in mehreren didaktisch und inhaltlich exzellenten Video-Vorträgen, die auf Youtube aufzurufen sind.

Von diesen Präsentationen möchte ich als Erstes hier seinen Video-Vortrag mit Interview vom 14.3.2022 verlinken, den er einige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hat.

Ich empfehle, sich zumindest die ersten 25 Minuten dieser eindrucksvollen Rede von Mearsheimer anzuhören, in dem er die wichtigsten Ursachen und Zusammenhängen der Ukraine-Krise erläutert.

Er betont, dass niemand Putin vor dem 22. Februar 2014, dem Tag, an dem ein von den USA beeinflusster Putsch in der Ukraine stattfand, bei dem eine pro-russische Regierung gewaltsam gestürzt und durch eine pro-amerikanische Regierung ausgetauscht wurde, expansionistische Ambitionen vorgeworfen hat. Mearsheimer macht deutlich, dass die Torheit der Nato-Osterweiterung die Wurzel der Krise ist.

Der zweite Video-Vortrag von Mearsheimer, den ich hier verlinke (von Minute vier bis Minute 27), stammt vom 3.3.2022, einige Tage nach Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine.

Hier begründet der Politikwissenschaftler noch einmal ganz eindeutig seine seit vielen Jahren vertretene Auffassung, dass die USA für die Ukraine-Krise und das damit verbundene weltweite Desaster die Hauptverantwortung trägt, weil sie die Ukraine in die Nato aufnehmen wollen, obwohl allen Verantwortlichen in den USA seit Jahren bekannt ist, dass damit für Russland eine rote Linie überschritten ist.

Am Schluss seines Vortrags stellt Mearsheimer sich die Frage, wer bei dieser Auseinandersetzung gewinnen wird, die US-Amerikaner oder die Russen. Seine überraschende Vermutung ist, dass die US-Amerikaner verlieren werden.

Er begründet das damit, dass die Ukraine für die USA keine allzu große Bedeutung habe. So hätten die Amerikaner bekanntlich mehrfach erklärt, dass sie nicht bereit sind, für die Ukraine zu kämpfen und zu sterben.

Von den Russen dagegen wird die Ukraine, die seit 2014 durch die USA hochgerüstet wird und schon heute- wenn noch nicht de jure, aber doch de facto Nato-Gebiet ist, als weiteres zukünftiges Nato-Mitglied als eine existentielle Bedrohung wahrgenommen, und deshalb werden die Russen mit einer sehr viel größeren Entschlossenheit dafür kämpfen, dass es nicht dazu kommt.

Und wer verliert den Krieg? Mearsheimer sagt, die eigentlichen Verlierer werden nach seiner Einschätzung vor allem die Ukrainer sein, und dafür sind als Erstes die USA verantwortlich, weil sie die Ukrainer gedrängt haben, einen Nato-Beitritt anzustreben. Dieses Ziel wurde 2019 in der ukrainischen Verfassung aufgenommen.

"Geopolitik nach Drehbuch"

Zum tieferen Verständnis der Hintergründe der Ukraine-Krise sei noch auf einen Artikel von Sebastian Müller mit dem Titel "Geopolitik nach Drehbuch" hingewiesen, der im aktuellen Heft von Makroskoperschienen ist.

Der Artikel setzt sich mit einem aufschlussreichen Video mit dem einflussreichen Vordenker der US-Außenpolitik, dem Geostrategen George Friedman von der privaten Denkfabrik Stratfor auseinander. Friedman ist 2015 als Gast auf dem Chicago Council on Global Affairs aufgetreten und hat im Nachgang zu seinem Vortrag verblüffend offen die Fragen des Publikums beantwortet. So sagt Friedman ganz offen, dass Krieg, auch in Europa, ein legitimes strategisches Instrument der USA sei.

Der Autor Sebastian Müller führt in seinem Artikel dazu weiter aus:

Mit Blick auf die heutigen Geschehnisse ist brisant, was dann folgt. Friedman erläutert im lässigen Plauderton, dass es – in Anlehnung an das Römische Reich – die zentrale Strategie der US-Geopolitik sei, konkurrierende Mächte gegeneinander auszuspielen und in den Krieg zu treiben. So sei es zwischen dem Irak und dem Iran gewesen, und – so solle es auch mit Deutschland und Russland geschehen. Denn nicht der islamische Extremismus sei eine existenzielle Bedrohung für die USA, das Hauptinteresse der USA seien seit dem Ersten Weltkrieg vielmehr die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland: "Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse galt sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.

Sebastian Müller

Und weiter:

Die Frage, die jetzt für die Russen auf dem Tisch liegt, ist, ob man die Ukraine als eine Pufferzone zwischen Russland und dem Westen haben will, die wenigstens neutral bleiben wird, oder der Westen so weit in die Ukraine vordringt, dass die Nato nur 100 Kilometer von Stalingrad und 500 Kilometer von Moskau entfernt sein wird. Für Russland stellt der Status der Ukraine eine existenzielle Frage dar.

Sebastian Müller

Abschließend meint der Autor:

Die seit 2015 folgenden Ereignisse in Osteuropa zeigen, wie sehr die von Friedman genannten strategischen Eckpunkte in großen Teilen mit dem aktuellen Vorgehen der Nato übereinstimmen. Das bedeutet auch: ein Ende der Eskalationen ist nicht absehbar – und nicht gewollt. Damit relativieren Friedmans Ausführungen im Kontext der Ukraine-Krise unfreiwillig das simple Gut-Böse-Schema, das die Medien zu vermitteln suchen.

Sebastian Müller

Diese Ausführungen sprechen für sich selbst und müssen von mir nicht weiter kommentiert werden. Zum Schluss dieses Abschnitts sei stattdessen hier das aufschlussreiche Youtube-Video "Stratfor vs. Putin" verlinkt, so dass sich jede Leserin und jeder Leser ein eigenes Bild von der geopolitischen Situation, in der wir leben, machen kann.