Die Ukraine-Krise als "umgekehrte Kuba-Krise"

Seite 4: Neutralisierung der Ukraine als Lösung?

Zur Frage, wie die Krise gelöst werden könnte, kommt Mearsheimer am Ende seines Video-Vortrags zu folgendem Fazit (Transkription und Übersetzung von mir, KDK):

Die ideale Situation wäre, wenn die Ukraine, wie sie es von 1991 bis 2014 gewesen ist, ein neutraler Pufferstaat werden würde. Das wird aber nicht möglich sein, vor allem, weil die USA das nicht wollen und hinsichtlich der Nato-Erweiterung wohl keine Konzessionen machen werden. Weiterhin wäre die Voraussetzung für eine neutrale Ukraine, dass die Kiewer Regierung ein Mindestmaß an Übereinkunft mit der russisch-sprachigen Bevölkerung im Donbass anstrebt, d.h., den Bürgerkrieg entsprechend den Abmachungen des Minsker Abkommens beendet. Aber eine solche Politik ist derzeit in der Ukraine nicht durchzusetzen. Deshalb wird die Krise weiter und weiter gehen und eine Lösung ist nicht in Sicht. Das ist die traurige Wahrheit.

John J. Mearsheimer, 14.2.2022

Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit dem oben erläuterten Drehbuch der Geopolitik der USA, in das wir dank Friedman einen Einblick erhalten haben.

Auch Richard Sakwa hat sich in dem oben genannten Artikel vom 20.2.2022 für eine Neutralisierung der Ukraine ausgesprochen. Er sagt: Die Lösung sei ganz einfach: Neutralität für die Ukraine. Aber niemand werde sie übernehmen. Damit meint er wahrscheinlich die US-amerikanischen und ukrainischen verantwortlichen Politiker.

Die Nachdenkseiten haben kürzlich auf einen interessanten Beitrag von Nikolai Platoschkin mit dem Titel "Wie weiter mit der Ukraine?" aufmerksam gemacht, den ich hier abschließend noch verlinken möchte.

Platoschkin spricht sich in seinem Video-Vortrag, den er in deutscher Sprache hält, ebenfalls für eine Neutralisierung der Ukraine aus, die den Krieg beenden könnte. Er ist kein "Putinversteher", sondern ein Vertreter der linken Opposition in Russland, war Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen und Diplomatie der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete von 1987 bis 2006 in Deutschland und den USA an diplomatischen Vertretungen.

Ausblick

Ich befinde mich wahrscheinlich im letzten Jahrzehnt meines Lebens, habe bisher immer optimistisch auf die Welt geblickt und möchte das auch für den Rest meines Lebens nicht ändern, obwohl man angesichts der bedrohlichen Situation, in der wir uns heute in Europa befinden, empirisch kaum mehr als ein Pessimist sein kann.

Ich hoffe, dass der Ukraine-Konflikt "nicht bis zum letzten Ukrainer" weitergeführt wird, sondern bald nach einem Waffenstillstand durch einen Friedensvertrag zu einem Ende kommt, der auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung trägt.

Ich habe miterlebt, wie 1991 mit dem Untergang der Sowjetunion eine unipolare Weltordnung entstanden ist, in der die USA der Hegemon, also die allein bestimmende Weltmacht, sind und ihre Interessen ohne Skrupel durchsetzen. Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich jedoch im letzten Jahrzehnt, vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, verändert.

Deshalb hoffe ich, dass wir uns in einiger Zeit – und vielleicht werde ich das noch erleben – in einer von mehreren großen Ländern und Mächten bestimmten multipolaren Weltordnung wiederfinden, in der sich die wichtigsten Akteure auf eine friedliche Koexistenz als Grundlage für eine zeitgemäße internationale Politik zurückbesonnen haben.4

Das wäre aus meiner Sicht die wichtigste Voraussetzung dafür, dass eine notwendige und effektive Zusammenarbeit in gegenseitigem Respekt zwischen allen großen und kleinen Staaten auf dieser Welt realisiert wird, damit die drängenden Probleme der Menschheit wie die sich abzeichnende weltweite Klimakatastrophe, der Hunger in der Welt und die erneute Gefahr eines Atomkrieges gemeinsam angegangen werden können. Kriege können diese Probleme jedenfalls nicht lösen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.