zurück zum Artikel

Die Ukraine-Offensive und ein "Fuck off" auf Twitter

Russische Panzer, auf der Flucht zurückgelassen. Bild: armyinform.com.ua, CC BY 4.0

Themen des Tages: der Ukraine-Krieg in den sozialen Medien. Die Leidensbereitschaft der Deutschen. Und was eine Eskalation im Kaukasus mit Erdoğan zu tun hat.

Liebe Leserinnen und Leser,

während der Krieg in der Ukraine der Krieg zwischen ukrainischen Truppen und russischen Invasoren heißläuft, tobt im Netz ein Kalter Krieg um Waffenlieferungen und die Einschätzung der Chancen Kiews. Die Deutschen antworten moralisch auf moralische Fragen. Und im Kaukasus gab es Tote und Verwundete.

Doch der Reihe nach.

Unpopuläre Meinung eines ukrainischen Diplomaten: "Fuck off"

Während die ukrainischen Truppen in Süden und Osten des Landes Anfang der Woche weitere erhebliche Geländegewinne zu verzeichnen hatten, ist in sozialen Netzwerken eine heftige Debatte um die Einschätzung des Konfliktes entbrannt. Vertreter des transatlantischen Lagers – jener Akteure also, die eine Unterstützung der Ukraine an der Seite der USA gutheißen – fordern nun vehementer die Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland an Kiew, also "Waffen, Waffen und nochmal (sic!) Waffen", um mit dem Öko-Bellizisten Anton Hofreiter zu sprechen. Vor allem deutsche Panzer.

Führende Sozialdemokraten halten dem Trommelfeuer noch stand. Sicherheitspolitiker, die für eine Verhandlungslösung plädiert haben, gerade im Netz allerdings schonmal in die Defensive.

Die Ukraine erobere ihr Territorium Stück für Stück unter großen Verlusten zurück, "da Deutschland nicht bereit war, Marder, Fuchs oder Leopard zu liefern", schrieb der Obmann der CDU im Auswärtigen Ausschuss, Roderich Kiesewetter [1], auf Twitter: "Doch der Druck auf den Bundeskanzler steigt, denn sein Schweigen führt inzwischen auch bei unseren engsten Verbündeten zu Unbehagen."

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat sich indes auf einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik reserviert auf die Frage nach der möglichen Lieferung deutscher Kampfpanzer an die Ukraine geäußert. Dies sei auch die Position anderer westlicher Staaten, sagte sie unter Bezug auf ein Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe in der vergangenen Woche in Ramstein. Was Nato-Chef Jens Stoltenberg allerdings nur sehr bedingt bestätigen wollte.

Der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner sekundierte der Ministerin und erinnerte an das SPD-Wahlprogramm zur Europawahl, in dem stehe: "Waffenlieferungen in Krisengebiete und Diktaturen lehnen wir ab."

Ich habe den Antrag selbst gestellt. Er ist mit großer Mehrheit angenommen worden. Es wäre kein Fortschritt für Europa und die Welt, das zu ändern!

Ralf Stegner

Mit einer "unpopulären Meinung", wie er schrieb, wartete der Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und Professor der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale, Johannes Varwick auf [2]:

Die Erfolgsmeldungen bezüglich ukrainischer militärischer Erfolge ändern m.E. nichts am Gesamtbild: Russland hat (leider) die Eskalationsdominanz und mittelfristig die höhere Durchhaltefähigkeit. Politischer Interessenausgleich ist alternativlos.

Johannes Varwick

Der Tweet Varwicks bekam bis Montagabend gut 1.200 Likes. Der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk ließ sich gerne triggern und fand zu alter Form zurück: "Unpopuläre Meinung: Fuck off". Gut 17.000 Usern gefiel das.

Artikel zum Thema:

Bernhard Gulka: Ukrainer erobern Region Charkiw weitgehend zurück [3]
Thomas Pany: Ukraine-Krieg: Öffnet Russland die "Büchse der Pandora"? [4]
Harald Neuber: Die besten Eklats des scheidenden ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk [5]

Umfragen aus der Augsburger Puppenkiste

Und weil sich abzeichnet, dass der russische Krieg gegen die Ukraine in eine neue Phase eintritt und daher länger als zunächst erwartet andauern wird, rückt an der gefühlten Heimatfront die Stimmungslage der Bevölkerung ins Zentrum des Interesses. Die Augsburger Allgemeine bezahlte daher das Meinungsforschungsinstitut Civey für eine Umfrage [6]. Ergebnis: Eine Mehrheit der Deutschen ist bereits trotz hoher Energiekosten bereit, "auf etwas zu verzichten", um die Sanktionen gegen Moskau mitzutragen.

53 Prozent äußerten sich in der repräsentativen Erhebung des Instituts Civey für die Augsburger Allgemeine (Montag) entsprechend. 42 Prozent wollen dagegen keinen Verzicht dafür üben. Fünf Prozent sind demnach unentschlossen.

Unterschiede gebe es bei Anhängern der Parteien: So zeigen sich der Umfrage zufolge vor allem die Wählerinnen und Wähler von Grünen und SPD verzichtbereit. Denen geht es mutmaßlich finanziell auch nicht so schlecht.

Unter den Anhängern der Grünen seien es sogar "mehr als neun von zehn Befragten", heißt es in einer Meldung über die Umfrage. Anhänger der Unionsparteien seien in der Frage, wie in vielen anderen auch, eher gespalten: "Unter den Sympathisanten von FDP, Linke und AfD spricht sich jeweils eine Mehrheit gegen den Verzicht für Sanktionen aus."

Jedoch, der Erkenntnisgewinn der Umfrage tendiert gegen null. Das Ziel dürfte vor allem darin bestanden haben, die Augsburger Allgemeine ins Gespräch zu bringen (wozu auch diese Kolumne notgedrungen beiträgt), um sie von der gleichnamigen Puppenkiste unterscheidbar zu machen.

Die Umfrage selbst kann man getrost in die Tonne hauen. Denn auf moralische Fragen antworten die Befragten eben, was moralisch erwartet wird. Deswegen schauen in Umfragen auch alle das zweisprachige Kulturprogramm auf Arte, während DSDS am Abend dann die höchsten Einschaltquoten hat.

Die Grünen-Anhänger werden zudem wahrscheinlich ihre Meinung ändern, wenn der Ladestrom für ihren Tesla Model X – unverbindliche Preisempfehlung: 140.990 Euro – durch die Decke schießt. Denn wie ihr es immer dreht und immer schiebt: Erst kommt die Akkufüllung, dann kommt die Moral.

Artikel zum Thema:

David Goeßmann: Die soziale Krise sollte alle Alarmglocken läuten lassen [7]
Bernd Müller: Nach Aussagen zu Insolvenzen: Hat Deutschland einen Minister Ahnungslos? [8]
Thomas Pany: EU plant Notbremse für Strom- und Gaspreise [9]

Und das gibt es bei Telepolis diese Woche

Heute berichten wir über das Schicksal [10] der Arbeiter in der Raffinerie Schwedt, denen langsam bewusst wird, dass sie von medienwirksamen Auftritten Robert Habecks ihre Familien nicht ernähren werden können.

Auch heute schreibt unsere Autorin Andrea Seliger über das Wahlergebnis in Schweden. Dort haben die rechtspopulistischen "Schwedendemokraten" bei den jüngsten Wahlen den zweiten Platz erreicht und sind auf dem besten Weg, zur etablierten politischen Kraft zu werden. Noch wehren sich die bisherigen Parteien gegen eine Regierungsbeteiligung der Rechten. Setzt sich der Trend aber fort wie bisher, wird daran aber kein Weg mehr vorbeiführen. Auch das ist ein Resultat der Weigerung der Sozialdemokraten, sich mit dem Problem von Bandenkriminalität und Migration in Schweden auseinanderzusetzen.

Eine Rolle wird die Linkspartei spielen, in der Zensur und Reiseverbote für Spannungen sorgen. Vor allem in der Positionierung zum Krieg in der Ukraine und im Verhältnis zu Russland tun sich die Neosozialisten schwer. Bloß nicht anecken, scheint die Devise, die sich nur in den Umfragewerten nicht auszahlt.

Und wir widmen uns Venezuela, das angesichts der Energiekrise in Europa über Nach von Paria zum Partner Brüssels geworden ist. Von dem aus Berlin unterstützten "Gegenpräsidenten" Juan Guaidó hat man sowieso länger nichts gehört.

Armenien und Aserbaidschan: Krieg im Schatten des Krieges

Nutzt Aserbaidschan den Krieg in der Ukraine zur Intervention in Armenien? An der Grenze sind in der Nacht erneut schwere Kämpfe ausgebrochen. Nach Angaben des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan hat die von der Türkei politisch und militärisch massiv unterstützte aserbaidschanische Armee sein Land erneut angegriffen. Ende 2020 hatte Aserbaidschan Armenien zuletzt attackiert.

Paschinjan setzte sich in der Nacht zum heutigen Dienstag mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin in Verbindung. Russland fungiert in dem Konflikt als Schutzmacht Armeniens. Nach Agenturangaben sprach Paschinjan von einem aserbaidschanischen Angriff und forderte internationale Reaktion. Darüber sprach er offenbar auch mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron. Reaktionen sind bisher nicht bekannt.

Nach Angaben der armenischen Militärs sollen aserbaidschanische Truppen an mindestens drei Orten armenische Stellungen mit Artillerie und großkalibrigen Waffen angegriffen haben. In Folge seien Tote und Verwundete zu beklagen. Das Verteidigungsministerium von Aserbaidschans begründete die Angriffe mit einem "Sabotageversuch" Armeniens, ohne dies konkreter auszuführen.

Den letzten Angriff auf Armenien hatte Aserbaidschan vor allem mit Hilfe türkischer Kampfdrohnen für sich entschieden. Die spielen nun auch in der Ukraine wieder eine Rolle. Telepolis berichtete damals in Bezug auf den Kaukasus-Konflikt:

Die türkischen Kampfdrohnen wurden zum Verkaufsschlager und machen Militärschläge seitdem noch willkürlicher. Die Türkei, die die Nato und Russland gegenseitig ausspielt, hält sich nicht an internationale Abkommen und Regeln und wird damit zum Pionier einer neuen Kriegsführung, die nicht einmal so tut, als würde sie das Kriegs- und Völkerrecht beachten. Bislang haben Polen, die Ukraine, Katar, Aserbeidschan, Nordzypern, Libyen (Regierung der Nationalen Übereinkunft - GNA) und Marokko TB2-Drohnen gekauft.

Im September 2020 kamen die türkischen Drohnen mit Präzisionsraketen und elektronischer Kriegsführung im Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan um Nagorno-Karabakh wieder zum Einsatz und verhalfen Aserbeidschan zu einem schnellen und vernichtenden Sieg über das mit alten russischen Waffen ausgestattete Armenien. Aus der Erfahrung hat Armenien inzwischen auch Kampfdrohnen entwickelt.

Artikel zum Thema:

Florian Rötzer: Autonome Killerdrohnen kommen nicht erst, es gibt sie schon [11]
Ulrich Heyden: Fragiler Frieden in Berg-Karabach [12]
Ruslan Suleimanov: Ukraine: Ungleichgewicht im Drohnenkrieg? [13]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7261722

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/RKiesewetter/status/1569272553381707779
[2] https://twitter.com/JohannesVarwick/status/1568586172359737344
[3] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainer-erobern-Region-Charkiw-weitgehend-zurueck-7260377.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Oeffnet-Russland-die-Buechse-der-Pandora-7261052.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Die-besten-Eklats-des-scheidenden-ukrainischen-Botschafters-Andrij-Melnyk-7081189.html
[6] https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/russischer-angriffskrieg-umfrage-mehrheit-bereit-zum-verzicht-fuer-sanktionen-id63913601.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Die-soziale-Krise-sollte-alle-Alarmglocken-laeuten-lassen-7260868.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Nach-Aussagen-zu-Insolvenzen-Hat-Deutschland-einen-Minister-Ahnungslos-7259862.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/EU-plant-Notbremse-fuer-Strom-und-Gaspreise-7257973.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Beschaeftigte-der-PCK-Schwedt-fordern-Klarheit-vom-Bund-zu-ihrer-Zukunft-7261434.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Autonome-Killerdrohnen-kommen-nicht-erst-es-gibt-sie-schon-6057359.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Fragiler-Frieden-in-Berg-Karabach-5000807.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Ungleichgewicht-im-Drohnenkrieg-7259818.html