Die Ukraine könnte einen Sieg erringen, wenn auch nicht auf dem Schlachtfeld
Seite 2: Unhaltbare Szenarien
Eine davon besteht darin, die maximale Schätzung der russischen Verluste bei den jüngsten Offensiven anzunehmen und auf dieser Grundlage zu argumentieren, dass sich die russische Armee durch wiederholte gescheiterte Offensiven bis zu dem Punkt erschöpfen wird, an dem Moskau einen Frieden zu westlichen Bedingungen anstrebt. Doch selbst dann würden die jetzt von Russland besetzten Gebiete in russischer Hand bleiben, solange die ukrainische Armee nicht fähig ist, ihrerseits erfolgreich anzugreifen.
Es ist auch überhaupt nicht klar, auf welcher Grundlage die westlichen Analysen diese "Schätzungen" vornehmen. In einigen Fällen kommen sie direkt vom ukrainischen Militär.
Laut ukrainischen Militärveteranen, mit denen ich letztes Jahr gesprochen habe, scheint die Annahme, dass Russland im Donbass Massenangriffe in Form von "Menschenwellen" im Stil des Zweiten Weltkriegs gestartet habe, weitgehend falsch zu sein. Vielmehr hat die russische Armee versucht, die Ukrainer zu zwingen, in relativ kleinen, klar abgegrenzten Gebieten zu kämpfen, in denen sie ununterbrochen von der russischen Artillerie beschossen werden können.
Krim isolieren
Das Ziel Russlands scheint derzeit nicht darin zu bestehen, schnell große Gebiete zu erobern, sondern sich auf seinen Vorteil bei der Artillerie zu verlassen, um eine große Zahl ukrainischer Soldaten zu töten, während man gleichzeitig versucht, die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten.
Wenn dieses Bild zutrifft, dann wird das russische Vorgehen zwar Zeit brauchen, aber langfristig wird die Ukraine aufgrund ihres Truppenmangels einfach nicht mehr genügend Soldaten haben, um ihre gesamte Front zu decken.
Die andere Hoffnung der ukrainischen Regierung und der westlichen Kriegsbefürworter ruht auf den Langstreckenraketen. Sollte der Westen dazu gebracht werden können, mehr davon zu liefern, dann, so wird argumentiert, kann die Ukraine durch die Zerstörung der Brücke von Kertsch und die Vertreibung der russischen Marine die Krim isolieren und Russland zu einem Friedensangebot zwingen.
Diese Hoffnung ist auf Sand gebaut. Der einzige große Erfolg der russischen Invasion im Jahr 2022 bestand darin, das Land zwischen Russland und der Krim zu erobern. Die ukrainische Offensive im vergangenen Jahr sollte diese "Landbrücke" durchbrechen – was jedoch nicht gelang.
Nur Nadelstiche
Der andere ukrainische Plan – wie die jüngsten ukrainischen Angriffe auf die russische Stadt Belgorod zeigen – scheint Raketenangriffe auf Ziele in Russland zu sein, um den Kreml unter Druck zu setzen. Als militärische Strategie ist auch das aussichtslos.
Aufgrund der enormen Größe Russlands wären selbst stark ausgeweitete ukrainische Angriffe, was den Schaden für die russische Wirtschaftskapazität angeht, nur Nadelstiche. Was die Opfer unter der Zivilbevölkerung betrifft, so werden sie die einfachen Russen verärgern, ohne dass es zu einer Massenbewegung für den Frieden käme.
Es könnte jedoch sein, dass die ukrainische Absicht genau darin besteht, die Russen zu verärgern. Ein Schlag durch eine vom Westen gelieferte Rakete, der sehr viele Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte oder ein hochrangiges Ziel zerstörte, könnte den Kreml massiv unter Druck setzen, Vergeltung gegen den Westen zu üben, sei es durch Angriffe auf westliche Ziele in der Ukraine oder durch die Bereitstellung eigener Raketen und Satellitentechnologie für Gegner der USA im Nahen Osten.
300 Jahre russische Dominanz brechen
Das wiederum könnte eine viel direktere Einmischung des Westens in den Konflikt provozieren – was Kiew anstrebt, die Biden-Regierung und die europäischen Staaten aber unbedingt vermeiden wollen, und was sich die USA angesichts der Gefahren, denen man in anderen Teilen der Welt ausgesetzt ist, nicht leisten können.
Wenn dieses Bild zutrifft, gibt es sowohl für Washington als auch Kiew ein starkes Motiv, Friedensgespräche aufzunehmen, solange sie noch Einfluss darauf haben. Denn wenn gewartet wird, werden die Bedingungen mit der Zeit wahrscheinlich viel schlechter für die Ukraine und viel demütigender für den Westen sein.
Im Hinblick auf Putins Ziele, als er in die Ukraine einmarschierte, und auf die vergangenen 300 Jahre russischer Dominanz in der Ukraine sollte ein Krieg, der heute damit endet, dass 80 Prozent der Ukraine unabhängig sind und dieser Teil die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben kann, als ein sehr wichtiger Sieg für die Ukraine angesehen werden. Es wäre kein vollständiger Sieg – aber ein vollständiger Sieg ist einfach nicht mehr möglich.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).