Die Ukraine und der Westen überschreiten rote Linien: Warum reagiert Russland nicht?
Putins Trümpfe sind nicht-westliche Staaten, die nicht mit den USA verbündet sind. Sie hindern ihn auch daran, den Einsatz zu erhöhen. So funktioniert es.
Die Welt der Spionage während des Kalten Krieges wurde treffend von James Jesus Angleton, dem ehemaligen Chef der CIA-Gegenspionage, als "wilderness of mirrors" (fester englischer Begriff – auf Deutsch frei mit "Wildes Spiegelkabinett" oder "Welt der Vorspiegelungen" wiedergegeben, Anm. d. Red.) beschrieben – eine jener seltenen Wortschöpfungen, die ihr Thema so prägnant erfassen, dass sie kaum weiterer Erklärung bedürfen.
Der Ausdruck "wilderness of mirrors", wörtlich "Wildnis der Spiegel", ist selbst eine ziemlich brillante literarische Aneignung von T.S. Eliots Gedicht Gerontion aus dem Jahr 1920, ein eindringliches, ahnungsvolles Porträt der Abscheulichkeit der Zwischenkriegszeit, die eine Generation von Europäern ergriff, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ein anderes, noch größeres Unheil zusteuerte, das gleich um die Ecke lauerte.
Angleton entnahm diesen Ausdruck seinem ursprünglichen, zugegebenermaßen völlig anderen Kontext, um das Greifen und Tappen im Dunkeln zu beschreiben – oder, wie Eliot es ausdrückte, das Durchqueren der vielen "manch schlauen Gänge" und "verschlagenen Trakte" des Lebens, nur um zu einem entfernten Echo der Wahrheit zu gelangen –, das ein fester Bestandteil der Arbeit von Nachrichtendiensten und Spionageabwehr ist.
Signale im internationalen System
Aber diese Wahrnehmungsprobleme sind in der peripheren Welt der Staatskunst nicht weniger ausgeprägt, wo die führenden Politiker Gegner abschrecken und internationale Verpflichtungen einhalten müssen, und zwar zumeist nicht durch ihre Handlungen, sondern durch die Signale, die sie ihren Gesprächspartnern senden. Die Struktur des internationalen Systems wird von diesen Signalen und den zahlreichen politischen Maßnahmen, Institutionen und Vereinbarungen, die ihnen zugrunde liegen, aufrecht erhalten.
Die grundlegende Währung hinter der Signalgebung ist die Glaubwürdigkeit, die durch die Fähigkeit gestützt wird, das Signal, das man zu senden versucht, auch umzusetzen. Das Nato-Bündnis und seine Bestimmung zur kollektiven Verteidigung, Artikel 5, beruhen beispielsweise auf der Zusicherung der USA, dass es seinen europäischen Partnern zu Hilfe kommen wird, wenn diese von einem anderen Staat angegriffen werden.
Wie ich zusammen mit meinen Kollegen Anatol Lieven und George Beebe geschrieben habe, deuten alle verfügbaren Anhaltspunkte darauf hin, dass die russische Führung diese Sicherheitsgarantie der USA mehr oder weniger als glaubwürdig ansieht und ihr Vorgehen gegenüber der Ostflanke der Nato entsprechend gestaltet.
"Konsequenzen, wie Sie sie noch nie gesehen haben"
In der Zwischenzeit besteht Russlands größte Herausforderung darin, Wege zu finden, um den Westen glaubhaft davon abzuhalten, die Ukraine weiterhin zu unterstützen und zu beliefern – eine Herausforderung, die mit den Schwierigkeiten auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und nun auch in der Grenzregion Kursk konkurriert und diese möglicherweise noch übertrifft.
Vor knapp 30 Monaten, am Tag des Beginns der Invasion, warnte der russische Präsident Wladimir Putin, dass jeder, der sich einmische, "Konsequenzen erleiden werde, wie Sie sie noch nie gesehen haben".
Seitdem hat der Westen erfolgreich eine kolossale, in mancher Hinsicht beispiellose Sicherheitsunterstützungsoperation für die Ukraine koordiniert und dabei schrittweise seine Beteiligung vertieft, indem er neue Waffentypen bereitstellte und frühere Beschränkungen, die die Fähigkeit der Ukraine einschränkten, auf international anerkanntes russisches Gebiet zu schlagen, lockerte oder ganz aufhob.
Das Abschreckungspotenzial und Strafmaßnahmen
Moskau genießt in der Frage einer direkten westlichen Intervention im Krieg ein beträchtliches Abschreckungspotenzial, nicht zuletzt aufgrund der Gefahr, dass ein solcher Schritt in einen umfassenderen regionalen Krieg münden könnte, der nur einen Hauch von einer nuklearen Konfrontation entfernt wäre.
Dasselbe lässt sich jedoch nicht über seine Fähigkeit sagen, den Westen davon abzuhalten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um der Ukraine indirekt zu helfen.
Putins neuester Plan, um den Westen von weiterem Engagement im Ukraine-Krieg abzuhalten, bestand darin in der Drohung, die Gegner des Westens zu bewaffnen – angeblich in der Überzeugung, dass diese Politik die Kosten für die westlichen Partner der Ukraine so sehr erhöhen würde, dass sie entweder nachgeben oder zumindest davon absehen würden, ihr Engagement in Kiew weiter zu vertiefen.
Doch drei Monate später hat Russland diese Drohung immer noch nicht wahr gemacht. Wie sich herausstellt, war diese Art von Strafmaßnahme nie ganz zweckmäßig, nicht zuletzt, weil Russland nicht in der Lage ist, die Drohung wahrzumachen, ohne in anderen Bereichen seines globalen Portfolios an militärischen, wirtschaftlichen und politischen Interessen den Rotstift anzusetzen.
Signale und Verbindungen
Gerade als sich der Kreml Berichten zufolge anschickte, die Houthi-Rebellen im Jemen gegen die USA zu bewaffnen, koordinierte Washington einen diplomatischen Vorstoß mit Saudi-Arabien, um Moskau das Handwerk zu legen.
Russland und Nordkorea unterzeichneten im Juni einen Verteidigungspakt, der von beiden Seiten mit viel Pomp beworben wurde, doch gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass die Russen größere Waffenlieferungen an Nordkorea planen. Bisher war es umgekehrt: Die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) lieferte Millionen von Artilleriegranaten nach Russland.
Vielleicht glauben die Nordkoreaner, dass sie auf andere Weise davon profitieren, z. B. durch das politische Druckmittel, das ihnen ihre Beziehungen zu Russland gegenüber ihrem wichtigsten Wohltäter und Partner, China, verleihen, aber es hat nicht annähernd einen vergleichbaren Waffenaustausch zwischen Moskau und Pjöngjang gegeben.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum: Jeder groß angelegte Versuch, die DVRK zu bewaffnen, könnte sich als fatal für Russlands Beziehungen zu Südkorea erweisen, die nach der Invasion in der Ukraine 2022 trotz der engen Partnerschaft mit Washington und der offensichtlichen Anfälligkeit des Landes für US-Interessen nicht völlig abgekühlt sind.
Auch Peking würde von den destabilisierenden Auswirkungen, die große russische Waffenlieferungen an Nordkorea in der gesamten Region haben könnten, nicht ungerührt bleiben, und Russland kann es sich nicht leisten, die Beziehungen zu China zu komplizieren.
Was den Nahen Osten betrifft, so ist der Iran ein offensichtlicher Kandidat für Russlands Großzügigkeit – schließlich ist er ein Gegner der USA, der sich in einem erbitterten Kampf mit einem der engsten Verbündeten Amerikas, Israel, befindet. Aber auch hier bewegt sich der Kreml vorsichtig zwischen Scylla und Charybdis.
Ein Teil von Russlands komplexer Nahost-Strategie nach seiner Intervention in den syrischen Bürgerkrieg bestand darin, eine stabile, partnerschaftliche Beziehung zu Israel zu unterstützen. Sowohl Putin als auch sein israelischer Amtskollege Bibi Netanjahu betrachten die freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern als persönlichen Erfolg, und sie haben sich bemerkenswert widerwillig gezeigt, diese Beziehung aufzugeben, selbst als der Ukraine-Krieg und der Gaza-Krieg von 2023 sie auf entgegengesetzte Seiten der Barrikaden gestellt haben.
Obwohl Moskau Israel wiederholt wegen seines Vorgehens im Gazastreifen kritisiert hat, sind solche rhetorischen Nadelstiche eine Sache; Israels erklärtem Feind Iran bedeutende Waffensysteme zu liefern, ist jedoch eine ganz andere, und bislang hat Putin diese Grenze nicht überschritten.
Die Interessen Russlands und das Dilemma
Kurz gesagt, Russland gehen die westlichen Feinde aus, die es bewaffnen könnte, ohne dabei seine eigenen Interessen negativ zu beeinflussen. Kleinere potenzielle Akteure bleiben in Lateinamerika und Teilen Afrikas, aber in diesen Fällen dürfte die Wirkung solcher Waffenlieferungen viel zu gering sein, um den strafenden Effekt zu erzielen, der Russlands Daseinszweck für diese Waffenpolitik überhaupt erst ausmacht.
Das Dilemma, in dem sich Moskau befindet, offenbart eine tiefere Facette seines Kriegsengagements in der Ukraine: Moskaus Fähigkeit, Beziehungen zu fast der gesamten nicht-westlichen Welt aufrechtzuerhalten, trotz der anhaltenden Isolierungskampagne des Westens, ist sowohl ein Vorteil als auch eine Belastung.
Diese Beziehungen schützen Russland vor wirtschaftlichen und diplomatischen Druckmitteln des Westens, die es sonst möglicherweise bereits in den Anfangsphasen des Krieges erheblich geschwächt hätten. Doch gleichzeitig bringen diese Beziehungen auch eine Reihe von Hürden mit sich, die Moskau daran hindern, viele Formen der Eskalation und Vergeltung zu verfolgen.
Diese Einschränkungen deuten auf ein "wildes Spiegelkabinett" hin, das sich um den Krieg in der Ukraine herum entwickelt hat – eine Reihe von Erwartungen und Normen, die zwar nie kodifiziert und weitgehend unausgesprochen sind, aber dennoch eine echte disziplinierende Wirkung auf die Beteiligten haben.
Diese Logik sollte eingehender untersucht und als Teil des politischen Instrumentariums der USA integriert werden, um den Krieg zu möglichst vorteilhaften Bedingungen für den Westen und die Ukraine zu beenden.
Mark Episkopos ist Eurasia Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Außerdem ist er außerordentlicher Professor für Geschichte an der Marymount University. Episkopos hat an der American University in Geschichte promoviert und an der Boston University einen Master-Abschluss in internationalen Angelegenheiten erworben.
Der vorliegende Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Responsible Statecraft in den USA.