Die Warlordisierung der afghanischen Parlamentswahlen
Vorwürfe der groben Menschenrechtsverletzungen gegen den berüchtigten Polizeichef General Razeq. Afghanistan: Superlative des "failed state"? Teil 4
Teil 1: Afghanistan: Superlative des "failed state"?
Teil 2: Afghanistan: Separatismus und Warlordismus
Teil 3: Ashraf Ghani: Parallelwelt eines Technokraten
Allein in der afghanischen Hauptstadt Kabul kandidieren mehr als 800 Menschen für die anstehenden Parlamentswahlen. Die allermeisten von ihnen sind Einzelkandidaten, sie gehören keinen Parteien an und stehen nur für sich selbst - und sie werden wahrscheinlich so schnell vergessen sein wie ihre bunten Plakate, die zurzeit noch in allen Ecken und Winkeln der Stadt zu finden sind.
Jene, die aussichtsreichere Chancen haben, sind nämlich keineswegs Einzelgänger und haben teils einflussreiche Geldgeber hinter sich.
Die Söhne der Kriegsfürsten
Gute Beispiele hierfür sind Habiburrahman Hekmatyar, Baqer Mohaqqeq und Rahela Dostum, die Jungspunde gleichnamiger Warlords, die die afghanische Politik seit Jahren dominieren. In den 1990er-Jahren - nach dem Fall der Sowjetunion - gehören ihre Milizen zu jenen, die Kabul plünderten und mit Raketen beschossen.
Als die NATO unter amerikanischer Führung 2001 in Afghanistan einmarschierte, gehörten ebenjene Kriegsfürsten zu den größten Profiteuren. Sie besetzten wichtige Regierungsposten und bereicherten sich massiv, während sie ihre Kinder im Luxus leben und im Ausland studieren ließen.
Vor dem Alter kann allerdings auch kein afghanischer Warlord fliehen. Der nächste logische Schritt war demnach auch die politische Involvierung der nächsten Generation. Mit einem möglichen Wahlsieg ihrer Söhne und Töchter würden jene Männer, die eigentlich auf einer Anklagebank in Den Haag gehören würden, weiterhin den politischen Alltag mitbestimmen - und zwar in einer ganz neuen, ja, frischen Art und Weise.
De facto tun sie dies schon mit der Kandidatur ihrer Kinder und machen abermals deutlich, dass Afghanistan schon viel zu lange von Krieg und Zerstörung dominiert wird. Denn als Hekmatyar und Co. erstmals in Erscheinung traten - in den 1970er-Jahren - waren sie noch selbst jung.
Warlordisierung und Ethnisierung
Die "Warlordisierung" der afghanischen Parlamentswahlen finden allerdings zeitgleich mit einer "Ethnisierung" der politischen Debatte statt. Denn neben den "Warlord-Kandidaten", zu denen nicht nur die Kinder einiger Kriegsfürsten gehören, sondern auch junge Anhänger von ihnen, lassen sich auch Afghanen finden, die eine gänzlich andere Wortwahl finden.
Ein Beispiel hierfür ist etwa Idrees Stanekzai, der ebenfalls in Kabul kandidiert - in seiner Heimatprovinz Kandahar ist es zu gefährlich - und einer Jugendorganisation vorsteht. In TV-Debatten sowie in Sozialen Medien macht Stanekzai immer wieder auf die Verbrechen ebenjener Warlords und ihrer Milizen aufmerksam. Er stellt sich vehement gegen ihre Politik und vergleicht sie mit den Taliban.
Dies wäre allerdings um einiges glaubwürdiger, wenn der ethnische Paschtune dabei nicht stets von seinem politischen Idol, dem letzten kommunistischen Präsidenten Afghanistans, Mohammad Najibullah Ahmadzai, sprechen würde. Najibullah regierte von 1987 bis 1992 und wurde 1996 von den Taliban getötet.
In den 1980er-Jahren war er der Chef des berühmt-berüchtigten Geheimdienstes des Sowjet-Regimes, KHAD. In der damaligen Zeit folterte und tötete Ahmadzai zahlreiche seiner Gefangenen höchstpersönlich. Hinzu kommt, dass seine Milizen, darunter etwa auch jene des erwähnten Dostums, der damals aufstieg, während seiner Regierungszeit zahlreiche Menschenrechtsverbrechen begingen.
"Männliche" und "gerechte" Kriegsverbrechen
Für Stanekzai und einige andere Kandidaten scheint dies keine Rolle zu spielen. Stattdessen hat Ahmadzai unter vielen paschtunischen Nationalisten in den letzten Jahren eine politische Wiedergeburt erlebt. Arian Khyber, ein weiterer Kandidat, der stets mit dem Bild Ahmadzais für sich wirbt, meinte etwa im Laufe eines Interviews, dass die Kriegsverbrechen des Regimes "männlich" und "gerecht" gewesen seien, da sie sich gegen die "Feinde des Staates" richteten.
Der politischen Debatte in Afghanistan dürfte all dies eher wenig guttun. Bereits im gegenwärtigen Parlament wird oftmals heftig gestritten. Ethnische Differenzen stehen dabei immer wieder in den Vordergrund. Dass viele junge Afghanen ausgerechnet diesen Weg fortschreiten wollen, ist deshalb umso bedauernswerter.
Fragile Sicherheitslage
Im Schatten der Wahlen wird allerdings auch deutlich, wie fragil die Sicherheitslage im Land weiterhin ist. In den letzten Wochen wurden über 30 Menschen auf Wahlkampfveranstaltungen getötet, darunter auch zehn Parlamentskandidaten. In der südlichen Provinz Kandahar wurden die Wahlen um eine Woche verschoben. Der Grund hierfür ist der tödliche Anschlag auf General Abdul Razeq Achakzai, meist einfach nur General Razeq genannt (vgl. Afghanistan: Taliban schlagen bei einem Treffen von Generälen zu).
Ein Taliban-Attentäter namens Abu Dajana tötete Razeq sowie Momin Hassankhel, den Provinzchef des afghanischen Geheimdienstes NDS, während eines Treffens mit hochrangigen Militärs und Politikern, darunter auch US-General Austin "Scott" Miller. Dieser blieb allerdings unverletzt. In seinem Statement behaupteten die Taliban, dass sowohl "der brutale Kommandant" Razeq als auch Miller das Ziel des Anschlages gewesen sind.
Währenddessen behauptet das US-Militär, dass ein "innerafghanischer Angriff" stattgefunden habe. Dies hat gewiss auch mit der Tatsache zu tun, dass Washington seit geraumer Zeit Verhandlungen mit den Aufständischen anstrebt und in einem möglichst positiven Licht dastehen will.
Der brutale General
Razeq war ein berüchtiger "strongman", dessen Befugnisse weit über jene eines durchschnittlichen Polizeichefs hinausgingen. De facto war er der wichtigste Verbündete der USA im Süden Afghanistan, weshalb über seine zahlreichen Menschenrechtsverbrechen hinweggesehen wurde.
Laut Human Rights und den Vereinten Nationen ist Razeqs Polizeimiliz regelmäßig an Entführungen, Foltern und Massentötungen beteiligt gewesen. Der amerikanische Journalist Anand Gopal berichtete von mehr als vierzig Leichen, die allein im Oktober 2013 in der Region Kandahar gefunden wurden. Um eine Identifizierung der Opfer zu vermeiden, wurden sämtliche Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.