"Die Welt um uns herum schläft nicht" - Aber wir ...
Mit unserem unausgesprochenen Einverständnis agiert die politische Klasse selbstbezogen, veränderungsscheu und zukunftsängstlich. Sie meidet die Herausforderungen, wo sie nur kann
Unglaublich. Es muss im Parlament um fundamentale Weichenstellungen für unser Land gegangen sein, dass die FAZ dieserart zu berichten hatte: "Die Bundestagsdebatte war von einer ungewohnten Dramatik geprägt. Nach einem unerwarteten direkten Schlagabtausch zwischen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und SPD-Chef Sigmar Gabriel war die Sitzung für etwa eine Dreiviertelstunde unterbrochen worden." Wenn es so heiß hergeht, wird doch mindestens die Einführung eines völlig neuartigen Bildungssystems, die radikale Zähmung der Finanzwirtschaft oder die Abschaffung des Kapitalismus debattiert worden sein. Oder?
Schauen wir hin. Derzeit reiht sich Nachricht an Nachricht, die als Erfolgsmeldungen daherkommen: Es steigt die Zahl der Erwerbstätigen, es sinkt die Zahl der Arbeitslosen, es sinkt die Zahl der Unterbeschäftigten und der Stillen Reserve, zahlreiche Branchen vermelden Wachstum und volle Auftragsbücher. Aller Krisenhaftigkeit um Deutschland herum zum Trotz – eine wirtschaftliche Besserung hebt an, so wenig ihre Lebensdauer auch absehbar ist.
Selbst wenn all die Kritik über schöngerechnete Zahlen oder versteckte Arbeitslosigkeit, die nun auch die konservative Presse entdeckt hat einbezogen wird: Reichlich Zahlen künden von einer wirtschaftlichen Belebung.
Alles auf bestem Wege also? Den Eindruck kann gewinnen, wer die Reaktionen aus der politischen Klasse studiert. Einige Auszüge aus den Pressemeldungen der Parteien:
Angesichts der guten Konjunktur im November zeigt sich der Arbeitsmarkt weiter in guter Form.
Die zuständige Arbeits- und Sozialministerin Ursula Von der Leyen (CDU)
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) spricht von einem "Fest der Freude am Arbeitsmarkt"::
Nach der Drei-Millionen-Grenze bei der Arbeitslosigkeit wurde nun die 41-Millionen-Grenze bei der Beschäftigung im Inland geknackt.
Rainer Brüderle
Damit zeige sich der Arbeitsmarkt in der besten Verfassung seit der Wiedervereinigung.
Für den arbeitsmarkpolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel, bietet "der Aufschwung XL" weiterhin die Chance, noch mehr Menschen bessere Perspektiven zu eröffnen. Bayern bleibt auch im November der Jobmagnet Deutschlands. In keinem anderen Bundesland ist die Arbeitslosigkeit niedriger, freut sich Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU).
Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist erfreulich, aber sie muss endlich genutzt werden, um eine faire Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen ... Jetzt kommt es darauf an, dass dies ein Aufschwung für alle wird und die Weichen für einen höheren und nachhaltigen Wachstumspfad gestellt werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen über Lohnerhöhungen angemessen beteiligt werden. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der ökonomischen Vernunft. Die wirtschaftliche Erholung beruht auf dem starken Export und ist daher auch mit hohen Risiken behaftet. Darum müssen wir die Binnennachfrage als zweites Standbein unseres Wohlstandes stärken.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles
Zu den Arbeitsmarktzahlen für den Monat November erklärt Brigitte Pothmer (Grüne), Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik:
Auch wenn der Trend auf dem Arbeitsmarkt erfreulich ist - die Probleme bleiben.
Brigitte Pothmer
Zur Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Monat November erklärt die Bundesgeschäftsführerin der Partei Die Linke, Caren Lay::
Ministerin von der Leyen malt sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Zu dem viel beschworenen Aufschwung gehört natürlich eine ebenso positive Arbeitsmarktstatistik.
Caren Lay
Gefangen im Hier und Heute
Allesamt Bekundungen, die nichts Anderes als die leidige Befangenheit im Hier und Heute sowie in den unsäglichen Ritualen des Parteienhickhack offenbaren. Selbst das, was Andrea Nahles als "Wachstumspfad" beschwört, wird flugs instrumentalisiert, um Wohltaten für die eigene Klientel zu begründen.
Wer nach Reaktionen sucht, die die aktuellen Zahlen und deren Implikationen in größere als kurzsichtige Zusammenhänge einordnen, landet kurz vor dem Aufgeben bei der ... Bundeskanzlerin. Sie ist eine der wenigen innerhalb der politischen Klasse, die in größeren Dimensionen zumindest zu denken vermag – ihre politischen Taten stehen auf einem anderen Blatt. Anfang November 2010, als die Arbeitslosenzahl erstmals seit 2008 wieder unter drei Millionen gesunken war, ordnete sie die Entwicklungen im Interview mit dem "Focus" ein.
Kurzentschlossen leitete Angela Merkel aus dem positiven Trend ein politisches Projekt her: "Ich will dem Ziel 'Arbeit für alle' Schritt für Schritt näherkommen." Vollbeschäftigung als politisches Ziel ... seit vielen Jahren mochte sich niemand Verantwortliches mehr dazu bekennen. Entsprechend skeptisch war die nächste Frage des Focus: "Für dieses Ziel hätte Sie vor Kurzem fast jeder für verrückt erklärt. Ist das nicht trotz des Aufschwungs weiter utopisch?" Merkel: "Eben nicht." Klar, dass sie "Arbeit für alle" im Sinne eines Wählerauftrages interpretiert und dessen Verfolgung bei allen anstehenden Wahlen für sich, ihre Partei und ihre Regierung reklamieren wird. Ebenso wie sie unablässig die Heraushebung Deutschlands als Stabilitätsgarant einsetzt:
Ihre Einschätzungen klingen nach politischer Normalität. Halten Sie die Finanzkrise für ausgestanden?
Merkel: Wir haben wohl das Schlimmste hinter uns, aber von einer stabilen Weltwirtschaftslage kann noch nicht die Rede sein. Stabil scheint die Lage in Asien zu sein, aber in den USA und Teilen der EU gibt es noch schwerwiegende Probleme. Wir müssen den Weg aus der Krise sehr vorsichtig gehen. Und vor allem müssen wir die richtigen Lehren aus ihr ziehen.
Dass sie damit vor allem das meint, was sie im nächsten Satz als "eine viel ernsthaftere Stabilitätskultur" bezeichnet, gehört zu ihrem Standardrepertoire (Stolz auf Stabilitätskultur).
Und genau hier begibt sich Merkel abermals in die bekannte Status-quo-Falle, in der ihre Taten seit langem gefangen sind:
Merkel: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat Spuren hinterlassen. 2010 läuft zwar viel besser als befürchtet. Aber wir landen am Jahresende immer noch bei um die 50 Milliarden Euro Neuverschuldung. Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Aus der weltweiten Krise müssen wir die richtigen Konsequenzen ziehen.
Focus: Welche denn?
Merkel: Wir müssen das tun, was unseren Wohlstand und damit auch unseren Sozialstaat dauerhaft sichert.
Alles soll wieder so werden, wie es war
Wieder und wieder wird sie betrieben, die Vergötzung des Status quo. Bewahrung, Sicherung, Erhaltung – wo diese Schlüsselbegriffe auftauchen, ist der Status quo in aller Stille zur obersten Priorität nicht nur allein der politischen Klasse, sondern womöglich auch der Mehrheit des Wahlvolkes aufgestiegen. Dies geht wechselwirkend einher mit jenen kollektiven Meinungstendenzen, die der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer kürzlich bei der Vorstellung der 2001 begonnenen Langzeitstudie Deutsche Zustände benannte.
Die wirtschaftlich begründete Spaltung der Gesellschaft nimmt zu und vertieft die Gegensätze: Diejenigen, die sich "Leistungsträger" zu nennen belieben, verabschieden sich zunehmend vom Gemeinsinn. Ihre eigene Position und ihre eigenen Ängste reflektierend, werten sie "die Schwachen" mehr und mehr ab, seien es nun Langzeitarbeitslose, Zuwanderer oder Obdachlose. Erschreckend sei vor allem, so die Forscher, wie rasch Toleranz und Solidarität preisgegeben werden, wenn Risiken für den eigenen Status aufkommen. Vorurteile, Abwertungen und Ausgrenzungen sind in der "Mitte" der Gesellschaft angekommen.
Alles soll so bleiben, wie es ist – dies denken und hoffen viele, die die Risiken nur gewärtigen. Alles soll wieder so werden, wie es war – dies denken und hoffen diejenigen, die von den Risiken bereits getroffen sind. Nur Veränderungen, die diesen Imperativen dienlich sind, werden hingenommen. Selbst im Gegensatz zu bisheriger Politik und bisherigen Prinzipien stehende sowie gigantisch teure Kraftakte zählen dazu. Zum einen, weil sie etwa in der Euro-Krise tatsächlich vonnöten sind. Zum anderen, weil die Politik allein an ihnen noch zeigen kann, dass sie zu irgendetwas in der Lage ist. Gleichsam ein von Verzweiflung geprägter Nachweis einer Existenzberechtigung, der indes rein symbolischer Natur bleibt, aber den Erwartungen der Bürger einen wenn auch trügerischen Strohhalm bietet.
Nichts kann so bleiben, wie es ist
Denn hinter den Kraftakten türmen sich die unzähligen, aufgelaufenen Herausforderungen auf, deren selbst flüchtige Betrachtung nur einen einzigen Schluss zulässt: Nichts, aber auch reinweg gar nichts kann so bleiben, wie es ist – es gibt keinen einzigen Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft, der zukunftsfest wäre. Jedenfalls dann, wenn die Gesellschaft nicht durch die Brille partikularer Interessen, sondern als ganze betrachtet wird.
Fortentwicklung der Arbeitsgesellschaft? Erneuerung der Wirtschaft? Energie der Zukunft? Infrastruktur? Innovationen? Ökologischer Umbau? Verkehr und Transport? Digitale Revolution? Bildung? Gesundheitssystem? Alterssicherung? Alterspflege? Soziale Spaltung? Steuersystem? Staatsverschuldung? Wer wüsste einen einzigen Sektor zu nennen, der mit seiner heutigen Grundgestalt in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren angemessen funktionieren würde? Es gibt keinen. Von den wechselseitigen Zusammenhängen dieser Sektoren wollen wir erst gar nicht sprechen ...
Angesichts dieser offenkundigen Diagnose folgt aus der aktuellen wirtschaftlichen Belebung zwingend, dass Politiker, die einen Restbestand an Überblick und Verantwortungsbewusstsein verspüren, diese Belebung als Atempause begreifen – und nutzen. Wenn sich die Politik nicht darin erschöpfen will, von Brandherd zu Brandherd zu hecheln, derweil sie das Große und Ganze treiben lässt; wenn sie nicht weiter warten will, bis auch das letzte Kind in den Brunnen gefallen ist; wenn sie noch eine dunkle Erinnerung daran hegt, dass Gestaltung ihr Auftrag und Verantwortung ihr Mandat ist – dann kann es nur Eines geben: Zu Zeiten vergleichsweise guter ökonomischer Bedingungen beginnen, zentrale Weichenstellungen einzuleiten.
Der Grund ist ein ganz und gar pragmatischer. Je heftiger der Problemdruck wird, desto geringer werden die Gestaltungsspielräume – irgendwann zwingt die Not die nächstgreifbare Lösung herbei, die sich obendrein rasch als Fehlschuss oder Scheinlösung entpuppen könnte. Angela Merkel weiß dieses, doch als gewitzte Pragmatikerin verklärt sie das Naheliegende zum Ausweis historischer Gestaltungskraft: "
Dazu gehört, dass wir die Fähigkeit zu großen Projekten behalten, auch deshalb habe ich mich für Stuttgart 21 ausgesprochen oder plädiere für den Bau von Hochspannungsleitungen oder für Kohle und für Kernkraft als Brückentechnologien. Das mögen im Moment unpopuläre Entscheidungen sein, sie werden sich aber auszahlen. Sie sind notwendig, wie gesagt, damit wir auch in Zukunft ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort sind. Und das ist die Grundlage unseres Wohlstands.
Angela Merkel
Wenn die Bundeskanzlerin vor diesem Hintergrund konstatiert "Die Welt um uns herum schläft nicht" – dann kann man sich nur noch an den Kopf fassen. Wer hier schläft, das wissen wir alle: Mit unserem unausgesprochenen Einverständnis agiert die politische Klasse selbstbezogen und kleinkariert, vereinsmeiernd und provinziell, veränderungsscheu und zukunftsängstlich. Kurz, sie meidet die Herausforderungen, wo sie nur kann. Und in der verfehlten Hoffnung, irgendwie könne alles doch so bleiben, wie es ist, lassen wir BürgerInnen sie gewähren. Unsere Verzagtheit wird uns noch teuer zu stehen kommen.
Ach, übrigens: Die anfangs erwähnte, so aufgewühlte Bundestagsdebatte ging um eine Änderung, die die Politik mitnichten von sich aus betrieben hatte, sondern die ihr vom Bundesverfassungsgericht diktiert worden war. Nun soll das Arbeitslosengeld II für fast fünf Millionen erwachsene Hartz-IV-Bezieher erhöht werden, um fünf Euro auf 364 Euro im Monat. Für zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Hartz-IV- und Geringverdienerfamilien soll ein Bildungs- und Teilhabegutscheinsystem geschaffen werden.
Dieses Gesetz hat gute Chancen, entweder im Bundesrat zu scheitern oder vom Bundesverfassungsgericht kassiert zu werden. So viel zur Gestaltungskraft der derzeitigen Politik.