Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht
- Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht
- Die Schwächen des identitären Klassenkonzepts
- Ware Wohnen
- Arbeitszeit
- Nostalgie verliert. Identitätspolitik links und rechts
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"Wir aber haben mit dem neuen Hype um die Klasse massive Probleme." Zur Kritik der "neuen Klassenpolitik"
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Wir bestreiten nicht die Existenz von Klassen. Dies ist weder ein Beitrag gegen die Arbeiterklasse noch gegen Klassenkämpfe, schon gar nicht gegen die Solidarität mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten und erst recht ist es keine Rede für den Kapitalismus.
Wir sind davon überzeugt, dass der Kapitalismus dringend überwunden werden muss und beziehen uns auf Marx. Wir halten große gesellschaftliche Gegenbewegungen und harte soziale Kämpfe für nötig und machbar.
Wir glauben aber, dass der Bezug auf Klasseninteresse und Klassenidentität die Entfaltung der dringend notwendigen antikapitalistischen Kämpfe alles in allem eher behindert als fördert. Er vermag weder deren Herausforderungen theoretisch genügend tief zu erfassen, noch praktisches Rüstzeug dafür an die Hand zu liefern, die Systemfrage wirklich auf die Tagesordnung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu stellen.
Rückbesinnung auf Klassen ist kein Ausweg
Linke, die jahrzehntelang vor allem auf Identitätspolitik gesetzt und die soziale Frage vergessen haben, üben sich zu Recht in Selbstkritik; denn mit dieser Ausrichtung überließen sie die Deutung wichtiger gesellschaftlicher Konflikte den Liberalen und Konservativen. Viele erhoffen sich von der Rückbesinnung auf die Klasse und ihre Kämpfe einen Ausweg aus dieser Sackgasse. Wir nicht.
Zunächst befassen wir uns mit dem fundamentalen Unterschied zwischen einem analytischen und einem identitär aufgeladenen Klassenbegriff. Sodann wollen wir anhand dreier zentraler Konfliktfelder - Wohnen, Arbeitszeit und Klima - skizzieren, warum nur solche Kämpfe, deren Akteure sich nicht in den theoretischen wie praktischen Fesseln von Identität und Interesse bewegen, wirklich antikapitalistischen Charakter annehmen können.
Der Klassenbegriff gehört zwei unterschiedlichen Feldern an. Er hat sowohl einen emanzipationstheoretischen als auch einen polit-ökonomischen Gehalt. Beide gehen auf Marx zurück. Der emanzipationstheoretische wird vor allem in den Frühschriften entwickelt und im Kommunistischen Manifest präsentiert. Der politökonomische Klassenbegriff findet sich in erster Linie im Marx'schen Hauptwerk, dem Kapital.
Für das Emanzipationskonzept war die Klassenfrage zentral; denn die Arbeiterklasse als die große Gegenspielerin der Bourgeoisie könne sich, so Marx, aufgrund ihrer besonderen Stellung im System des kapitalistischen Reichtums nicht befreien, ohne "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist". Das Klasseninteresse des Proletariats beinhaltet demzufolge seine eigene Abschaffung.
Die Kritik der Politischen Ökonomie beschäftigt sich bekanntlich nicht mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern analysiert deren innere Logik und Funktionsweise. Entsprechend ist auch ihr Klassenbegriff ausgerichtet. Es geht darum, die Position der Hauptklassen innerhalb des kapitalistischen Gefüges zu klären. Gegenüber der emanzipationstheoretischen Klassenvorstellung führt das zu entscheidenden Veränderungen.
"Personifikationen ökonomischer Verhältnisse"
Die erste betrifft die Anzahl der Klassen. Als Emanzipationstheoretiker kennt Marx nur zwei Hauptklassen, die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse. In der Kritik der Politischen Ökonomie zerfällt die kapitalistische Gesellschaft dagegen in drei Grundklassen. Zur Kapitalisten- und Arbeiterkasse tritt noch die Klasse der Grundeigentümer hinzu.
Wichtiger ist aber, dass sich der Status des Klassenbegriffs selbst verändert. Im Marx'schen Emanzipationskonzept sind die Arbeiterklasse und ihr antagonistisches Verhältnis zur Kapitalistenklasse A und O. In der Marx'schen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise wird der Klassenbegriff dagegen als eine logisch nachgeordnete Kategorie behandelt. Denn da die Klassen "Personifikationen ökonomischer Verhältnisse"1 sind, lassen sie und ihre Beziehungen sich erst nach der Klärung der ökonomischen Kategorien und ihres Zusammenspiels richtig fassen.
Die Klassen und ihre Interessen
In der Kapitalistenklasse personifiziert sich das Kapital, also die Selbstzweckbewegung der Verwandlung von Geld in mehr Geld. Das gemeinsame Klasseninteresse aller Kapitalisten ist darauf gerichtet, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Tauschwertakkumulation zu optimieren.
Die Grundeigentümerklasse personifiziert die in Privateigentum verwandelte Naturressource Grund und Boden. Ihr Klasseninteresse besteht darin, einen möglichst hohen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum für die Besitzer dieser Naturressource zu reservieren.
Und auch in der Arbeiterklasse personifiziert sich eine ökonomische Kategorie, nämlich die besondere Ware Arbeitskraft. Der einzelne Arbeiter hat das profane Interesse, seine persönlichen Verkaufsbedingungen zu verbessern, und das Klasseninteresse besteht in einer möglichst günstigen Ausgestaltung der kollektiven Verkaufsbedingungen.
Als Personifikationen ökonomischer Kategorien vertreten alle drei Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft rein immanente Interessen, die die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise voraussetzen. Das gilt auch für die Arbeiterklasse.
Trotzdem weist die Arbeiterklasse gegenüber den beiden anderen Klassen eine fundamentale Besonderheit auf. Die Angehörigen dieser Klasse sind von allen Reproduktionsmitteln abgeschnitten und deshalb gezwungen, die einzige Ware zu verkaufen, die sie ihre eigene nennen können, ihre Arbeitskraft.
Die Arbeiter
Die Arbeiterklasse war für Marx deshalb prädestiniert, die kapitalistische Gesellschaft umzuwälzen, weil er in ihr gleichzeitig einen Teil und das Gegenteil der bestehenden Ordnung sah: Teil, weil die lebendige Arbeit aufgrund ihrer Fähigkeit Mehrwert abzuwerfen, die Schlüsselware des kapitalistischen Systems darstellt.
Die Mensch gewordene Negation der kapitalistischen Ordnung: Weil die Angehörigen der Arbeiterklasse als Arbeitsvieh von den Segnungen des Systems des kapitalistischen Reichtums systematisch ausgeschlossen bleiben.
Auch die Arbeiterbewegung schrieb der Arbeiterklasse die besondere historische Mission der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise zu - allerdings mit einer diametral entgegengesetzten Begründung. Bei Marx firmierte das Lohnarbeiterdasein als der absolute Tiefpunkt der menschlichen Existenz und als Höhepunkt aller "Entfremdung". Die Arbeiterklasse hatte dementsprechend in seiner Sicht letztlich nur ein Interesse: ihre eigene Abschaffung.
Die Arbeiterbewegung bezog sich dagegen affirmativ auf die Arbeit und das Arbeiterdasein. Sie betrachtete sich als Inkarnation des heiligen Prinzips der Arbeit und trat an, "die Müßiggänger" beiseite zu schieben, wie es bezeichnenderweise im Text der "Internationalen" heißt, um die Gesellschaft nach ihrem eigenen Bilde umzugestalten.
Das geschichtsphilosophische Konstrukt eines negativ auf die kapitalistische Ordnung bezogenen Klassenstandpunkts wurde durch eine positive, arbeitsreligiös begründete Klassenidentität ersetzt.
Immanente Emanzipation
Die Arbeiterklasse hat ihre Emanzipation im ausgehenden 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts erkämpft. Anders als Marx angenommen hatte, musste sie dazu die kapitalistische Produktionsweise aber keineswegs sprengen. Den Arbeitskraftverkäufern gelang es vielmehr, auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung ihre Anerkennung als freie und gleichberechtigte Interessensubjekte durchzusetzen und sich ein Stück vom kapitalistischen Kuchen zu sichern.
Für diese Art von immanenter Emanzipation war die Überhöhung einer positiven Arbeiterklassenidentität viel besser geeignet als die negative Klassenemphase der Marx'schen Frühschriften. Aus diesem Grund wurde erstere geschichtsmächtig.
Gleichzeitig hat sich aber mit der Integration der Arbeitskraftverkäufer in die kapitalistische Gesellschaft das gemeinsame Klasseninteresse auf das reduziert, was es der Logik der Kritik der Politischen Ökonomie nach eigentlich schon immer war: ein bloßes Binneninteresse, das in keiner Weise über die kapitalistische Gesellschaft hinausweist.
Wenn man sich heute positiv auf das Klassenkonzept bezieht, stellt sich die Frage: auf welches?
Missversteht man den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit als Antagonismus und sieht in der Klasse ein wachzuküssendes emanzipatorisches Kollektivsubjekt, dann muss man den klaren analytischen Klassenbegriff opfern.
Oder man orientiert sich am Klassenbegriff der Marx'schen Kritik der Politischen Ökonomie. Dann lässt sich die Negation der kapitalistischen Zumutungen allerdings nicht mehr als Standpunkt eines gemeinsamen Klasseninteresses fassen. In diesem Fall kommt man nicht umhin, die Frage der emanzipativen Perspektive neu zu denken.
Wir plädieren für diesen zweiten Weg. In unseren Augen bleibt der Klassenbegriff der Kritik der Politischen Ökonomie für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft unerlässlich. Genau aus diesem Grund haben wir aber mit dem neuen Hype um die Klasse massive Probleme.