Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht

Seite 5: Nostalgie verliert. Identitätspolitik links und rechts

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Vierzig Jahre neoliberaler Zurichtung haben tiefe Spuren hinterlassen. Vor allem der Individualisierungsprozess hat eine ganz neue Qualität angenommen.

Während sich früher der keynesianische Interventionsstaat und kollektive Interessenvertretungen wie die Gewerkschaften zwischen den Weltmarkt und den Einzelnen schoben, haben wir es heute mit einer extrem atomisierten Konkurrenz zu tun, was natürlich auch das Denken und Fühlen prägt.

Das stellt das emanzipative Lager vor eine extreme Herausforderung: Wie lässt sich in einer von Vereinzelung und Konkurrenz geprägten Gesellschaft, die in der Krise und einem galoppierenden Verwilderungsprozess steckt, ein Prozess gesellschaftlicher Resolidarisierung in Gang setzen?

Diese Frage ist nicht zu beantworten ohne eine inhaltliche Neubestimmung des emanzipativen Ziels, die sowohl eine Antwort auf die fundamentale Krise des kapitalistischen Systems als auch des Bankrotts des Realsozialismus liefert.

Die Wiederentdeckung der identitären Klassenvorstellung ist eine Art Ersatzhandlung angesichts dieser historischen Aufgabe. Wer Klasse und Klassenkampf bemüht, kann den Anspruch erheben, sich zu den Konflikten unserer Zeit klar zu positionieren und dabei auf sicherem, weil irgendwie vertraut anmutendem Terrain verbleiben.

Allein schon deshalb, weil derlei Begriffe ihrer Geschichte wegen einen linken Standpunkt signalisieren, verbreiten sie eine gewisse Heimeligkeit. Gleichzeitig umweht sie der Hauch des Revolutionären. Auf dieser Selbstvergewisserung beruht die Attraktivität des "neuen" Klassendiskurses wesentlich mit.

Natürlich spielen bei der Wiederentdeckung der Klasse neben ihrer ererbten identitären Aufladung auch ehrenwerte Motive eine Rolle, insbesondere die Hinwendung zur sozialen Frage. Allerdings hat die Art der Hinwendung mehr mit Nostalgie zu tun als mit einer adäquaten Erfassung der heutigen Situation.

Mit dem Rekurs auf die Klasse wird die Erinnerung an eine bessere Vergangenheit abgerufen. Um die Linke und ihren Einfluss war es im Zeichen des Klassenkampfs in ferner Vergangenheit weit besser bestellt als heute. Ergo, so die implizite Hoffnung, verbessert sich mit dem Rückgriff auf die Klasse der Einfluss der Linken auch wieder. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich das identitäre Klassenkonzept noch auf so etwas wie eine "materielle" Grundlage stützen können. Im Zeitalter der großen Industrie und der Massenarbeit war das Hohelied auf das klassenstolze Proletariat ideologische Begleitmusik zu einer tatsächlichen Interessenkonvergenz breiter Schichten in den Verteilungskämpfen zwischen Kapital und Arbeit.

Hinzu kam, dass die Arbeiterschaft bis tief ins 20. Jahrhundert hinein noch ein relativ homogenes Sozialmilieu bildete und dieser lebensweltliche Hintergrund die Entfaltung kollektiver Gegenmacht zum Kapital erleichterte. Diese Konstellation hat sich aber längst aufgelöst und das macht die "neue Klassenpolitik" zu einer reinen Luftnummer.

In der einen Hand ein As, in der anderen eine Lusche

Heute schließt die Beschwörung eines "gemeinsamen Klassenstandpunkts" Gruppen und Schichten, die in der kapitalistischen Wirklichkeit auseinanderstreben, nur noch phantasmagorisch zusammen. Das mag die identitätspolitischen Bedürfnisse von linken Gruppen befriedigen, trägt aber zur überfälligen Neuformierung des emanzipativen Lagers wenig bei.

Nicht dass sich mit der Beschwörung phantasmagorischer Großsubjekte heute nicht erfolgreich Politik machen ließe. Gerade angesichts der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der liberalen Demokratie hat diese Art von Identitätspolitik sogar Konjunktur. Mit ihrem Feldzug für die Wahnvorstellung eines ethnisch homogenen Volkes hat die Rechte einen erschreckenden gesellschaftlichen Einfluss gewonnen.

Die Linke sollte sich aber davor hüten, die Rechte mit ihrer eigenen Waffe schlagen zu wollen und dem rechten Volkskonzept ein nur scheinbar neues, in Wirklichkeit längst von der Geschichte überholtes Klassenkampfkonzept entgegenzusetzen. Identitätspolitik ist zwar das As im Blatt der neuen Rechten, in der Hand der Linken verwandelt sich die identitätspolitische Karte aber in eine Lusche.

Das hat einen einfachen Grund. Angesichts der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der liberalen Demokratie stehen das rechte und das linke Lager mehr denn je für völlig unterschiedliche Versprechen.

Die Rechte liefert der Unzufriedenheit von eingefleischten Konkurrenzsubjekten mit den Ergebnissen der globalen Konkurrenz ein Ventil, indem sie für die Resultate die "volksvergessenen" Eliten verantwortlich macht und zum Halali auf "volksfremde" Elemente bläst.

Für diesen verheerenden historischen Bullshit-Job ist die Anrufung eines kulturalistisch gedachten Volkes wie gemacht. Diese erlaubt es der Rechten, als Anwalt des gesunden Volksempfindens gleichzeitig den Geist der entfesselten Konkurrenz und Rücksichtslosigkeit zu bedienen und den Traum von der Überwindung der Vereinzelung.

Die Linke repräsentiert dagegen den Traum von einem guten Leben für alle. Ihr Einfluss steht und fällt damit, ob es ihr gelingt, dieses Versprechen plausibel zu machen oder nicht. Was das angeht hat der neue Rekurs auf die Klassenpolitik aber den Nährwert von Styropor.

Wenn die Rechte im Zeichen von Nation und Volk mobilisiert und die Linke im Zeichen der Klasse, kann man absehen, wer als Sieger vom Platz gehen wird.

Ernst Lohoff ist freier Autor und Redakteur der Zeitschrift krisis. Lothar Galow-Bergemann ist langjähriger Gewerkschafter. Er schreibt auf Emanzipation und Frieden.