Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht

Seite 3: Ware Wohnen

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In den letzten 40 Jahren sind in den kapitalistischen Kernstaaten die Preise für die Güter des täglichen Bedarfs insgesamt nur moderat gestiegen. Es gibt allerdings eine Ware, bei der das ganz anders ist - Wohnraum. Im gleichen Zeitraum sind die Preise für Wohnimmobilien und die Mieten weltweit explodiert, inzwischen auch im traditionellen Mieterland Deutschland.

Diese Preisexplosion teilt die Gesellschaft in Profiteure und Verlierer. Das reicht den Liebhabern des identitären Klassenkonzepts, um die Wohnungsfrage zur Klassenfrage zu erklären. Allerdings hat das seinen Preis. Denn damit erhält das Wort Klasse sogar auf seinem ureigensten Gebiet, den ökonomischen Beziehungen, plötzlich zwei unterschiedliche Bedeutungen.

Das klassische Klassenkonzept bestimmt die Arbeiterklassen bekanntlich über ihre Stellung im Produktionsprozess. Auf dem Feld des Wohnens geht es jedoch nicht um die Produktion, sondern um ein spezielles Konsumgut, das für breite Bevölkerungsteile unerschwinglich wird.

Um aus der Wohnungsfrage eine Klassenfrage zu machen, muss man schon auf der Ebene der rein ökonomischen Klassenbestimmung inkonsistent argumentieren. Während die Klassenposition sonst immer über die Stellung zu den Produktionsmitteln begründet wird, ist beim Wohnen plötzlich diejenige zu den Konsumtionsmitteln entscheidend.

Über diese ins Auge springende Ungereimtheit hilft sich der identitäre Klassenbegriff assoziativ hinweg. Die Arbeiterklasse verfügt über keine Produktionsmittel, der Mieter verfügt über kein Wohneigentum. Da wie dort sind die Eigentumslosen die Verlierer. Außerdem überschneiden sich diese beiden Formen von Eigentumslosigkeit häufig und so unterliegt die subalterne Klasse eben einer doppelten Ausbeutung. Einmal in der Arbeit und dann nach der Arbeit, als Konsument.

Diese Argumentation bleibt aber aus mehreren Gründen unbefriedigend. Schon die Deckungsgleichheit der beiden Ausbeutungsformen haut nicht so richtig hin. Am ehesten übrigens noch in Deutschland, wo die Wohneigentumsquote in der Bevölkerung lediglich 45 % beträgt im Unterschied zu 70 % im EU-Schnitt. Dass aber selbst in Deutschland etliche Lohnabhängige auch eigene vier Wände besitzen und der eine oder andere Manager auch zur Miete wohnt, ist noch das geringste Problem.

Preise und Mieten explodieren nicht für sich allein

Wichtiger ist, dass die Preise und Mieten für Wohnimmobilien nicht für sich allein explodieren. Bei fast allen Immobilienbooms der letzten 40 Jahre sind zusammen mit den Mieten für Wohnraum auch die für Büro- und Gewerberäume steil angestiegen, in der Regel sogar noch steiler. Auf all diesen Märkten tummeln sich aber überhaupt keine Lohnabhängigen. Stattdessen stehen sich dort fungierendes Kapital und Immobilienbesitzer als Käufer und Verkäufer, als Mieter und Vermieter gegenüber.

Die Preisentwicklung beim Wohnraum trifft die breite Masse der Bevölkerung direkt. Deshalb steht sie in Deutschland zu Recht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und nicht die Mietpreisexplosion bei Büros und Gewerberäumen. Trotzdem muss eine tragfähige Analyse die Mietpreisexplosion in ihrem politökonomischen Kontext fassen, und das ist nun einmal das sämtliche Sektoren übergreifende Abheben der Immobilienpreise.

Mit der Apostrophierung der in die Höhe schnellenden Wohnkosten als Klassenfrage ist aber der Blick auf diesen Zusammenhang verstellt.

Wir sehen in der Kollision von Warenreichtum und sinnlich-stofflichem Reichtum die grundlegende Konfliktlinie unserer Epoche.

Betrachtet man aus dieser Perspektive die explodierenden Wohnraumpreise, ergibt sich ein überzeugenderer Zugang zu dem zu erklärenden Gesamtphänomen: Immobilien haben eine besondere Stellung im Warenuniversum. Sie sind gleichzeitig Güter des täglichen Bedarfs und Anlagegegenstand. Das ist aber für deren Preisbildung entscheidend.

Die Wohnungsmieten explodieren, weil die Immobilienpreise und damit die Preise für neuen Wohnraum explodieren. Die Immobilienpreise gehen aber wiederum in erster Linie aufgrund der allgemeinen Entwicklung auf den Anlagemärkten durch die Decke.

In dem Maß wie die Renditen bei den konkurrierenden Anlageformen sinken und vor allem die zinstragenden Papiere wenig bis nichts abwerfen, strömt massenhaft anlagesuchendes Kapital in den Immobiliensektor.

Insbesondere wenn - wie in den letzten zehn Jahren - angesichts der Nullzinspolitik der Zentralbanken festverzinsliche Papiere nichts mehr abwerfen. Im Immobiliensektor steht dem wachsenden Kapitalzustrom eine unvermehrbare Naturressource gegenüber, nämlich Grund und Boden. Vermehrt sich der Geldkapitalzustrom, weil die Renditen anderer Anlageformen sinken, dann treibt das den Bodenpreis nach oben.

Und sinken die Zinsen gegen Null, erklimmen die Bodenpreise schwindelerregende Höhen. Die steigenden Preise für die Naturressource Boden sind letztlich für die Unbezahlbarkeit des Wohnens verantwortlich. Wer heute in München für eine Eigentumswohnung 10.000 Euro pro Quadratmeter zahlt, zahlt 6.000 Euro davon für den Boden.

Von einer Kritik der Ware aus betrachtet, entpuppt sich die heutige Wohnungsfrage im Kern als Bodenfrage. So verstanden, lässt sich eine Brücke von der hiesigen Mietpreisentwicklung zu anderen fatalen Entwicklungen in der Welt schlagen. Unmittelbar ins Auge springt etwa die Verbindung zum Phänomen des Landgrabbing.

Reichtum: Die Bodenfrage

Vor allem in den Ländern der Dritten Welt steigen die Preise für landwirtschaftliche Nutzflächen, weil das anlagesuchende Kapital auch diese attraktive Ressource für sich entdeckt hat. Dadurch wird das Kleinbauerntum vernichtet; Millionen Menschen wehren sich verzweifelt gegen diesen Verlust ihrer Lebensgrundlage.

Geht man vom Gegensatz von stofflichem Reichtum und abstraktem kapitalistischem Reichtum als dem Kernproblem unserer Epoche aus, liegt der enge innere Zusammenhang zwischen dem Schicksal eines indigenen peruanischen Kleinbauern und einer Mieterin in Marzahn auf der Hand.

Es ist derselbe für die heutige Entwicklungsphase des warenproduzierenden Weltsystems charakteristische Mechanismus, dessentwegen der eine sein Land verliert und der anderen, 11.000 Kilometer entfernt, eine satte Mieterhöhung ins Haus flattert. Vom Standpunkt eines identitären Klassenkonzepts lässt sich demgegenüber nur deklamatorisch ein Zusammenhang zwischen beiden stiften.

Entweder wird dem indigenen Kleinbauern und der Marzahner Mieterin irgendeine wolkige gemeinsame positive Klassensubjektivität zugeschrieben oder man zieht sich darauf zurück, dass die Herrschaft der Kapitalistenklasse letztlich die Quelle aller gesellschaftlichen Übel sei.

Warum ausgerechnet heute unter den Bedingungen des finanzmarktdominierten Kapitalismus die Bodenfrage zu einer Überlebensfrage wird, können die Vertreter des identitären Klassenkonzepts nicht erklären.

Um gesellschaftliche Ausstrahlung zu gewinnen, muss die Linke die Konfliktlinie zwischen emanzipativen Lösungen und dem kapitalistischen Irrsinn klar benennen können. Was das Wohnen angeht, trägt das identitäre Klassenkonzept dazu nichts bei.

Rückt man dem Thema hingegen vom Standpunkt der Kritik der Ware zu Leibe, dann steckt die Konfliktlinienbestimmung implizit bereits in der Analyse und lässt sich leicht auf den Punkt bringen: Darf Grund und Boden weiterhin Privateigentum und handelbare Ware sein - mit der Folge, dass das elementare Bedürfnis nach adäquatem Wohnraum unerfüllbar wird?

Oder ist der Boden aus der Reihe der möglichen Anlagegegenstände herauszunehmen und in gesellschaftliches Eigentum zu überführen?