Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht

Seite 2: Die Schwächen des identitären Klassenkonzepts

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Wer der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einem identitären Klassenkonzept zu Leibe rücken will, handelt sich eine Reihe von Problemen ein. Seit den Tagen der Arbeiterbewegung sind bekanntlich neue gesellschaftliche Konfliktfelder und Emanzipationsbewegungen aufgetaucht.

Dazu zählt u.a. die feministische Bewegung, der Kampf gegen rassistische Diskriminierung und Homophobie und die Ökologiebewegung, um nur ein paar der wichtigsten zu nennen. Damit geraten die Vertreter eines identitären Klassenkonzepts in eine Zwickmühle.

Entweder verhalten sie sich ignorant gegenüber den von diesen Bewegungen aufgeworfenen Fragen - der berühmt-berüchtigte Nebenwiderspruch lässt grüßen - oder sie versuchen, das Klassenkonzept anzupassen und diese Konfliktfelder als Teil der Klassenauseinandersetzung zu deuten.

Labels

So sprechen einige von einer "ökologischen Klassenpolitik" und sogar von einer "queeren Klassenpolitik". Diese Vorgehensweise ist natürlich wesentlich sympathischer. Allerdings hat sie einen Pferdefuß. Wer in die Bestimmung des Klasseninteresses Zusatzkriterien wie Antirassismus, Antisexismus etc. einführt, verabschiedet sich zwangsläufig von der klaren analytischen Bedeutung des Klassenbegriffs als Personifikation ökonomischer Kategorien:

Das Klasseninteresse verkommt zu einem beliebigen Label für jede Form von Gegenwehr.

Das ist aber beileibe nicht das einzige Problem an der Wendung hin zu einer "neuen Klassenpolitik". Das gemeinsame Klasseninteresse wird bemüht, um eine Einheit der emanzipativen Kämpfe herzustellen.

Beschwörung einer Einheit und zentrifugale Kräfte

Doch diese Einheit wird eher beschworen denn begründet. Denn schon wenn man lediglich das Verhältnis der verschiedenen Arten von Arbeitskraftverkäufern in den Blick nimmt, wird klar: Die zentrifugalen Kräfte, die die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse auseinandertreiben, sind heute viel stärker als die zentripetalen.

Den Kernbelegschaften ist das Schicksal der Prekären gleichgültig. Die Interessen von Langzeitarbeitslosen und Beschäftigten streben auseinander. Sieht man über den einzelstaatlichen Tellerrand hinaus, fällt die Bilanz noch verheerender aus. Internationalismus war schon in den Hochzeiten der Arbeiterbewegung eine Angelegenheit für sozialistische Sonntagsreden. Die praktische Klassensolidarität beschränkte sich immer schon bestenfalls auf den nationalstaatlichen Rahmen.

Der Globalisierungsprozess hat diesen Rahmen gesprengt, und das Kapital agiert als vaterlandsloser Geselle. Das führt aber auch nicht ansatzweise zu einer transnationalen Solidarität der Arbeitskraftverkäufer: Der deutsche Facharbeiter betrachtet den chinesischen Wanderarbeiter nicht als potentiellen Kampfgenossen, sondern als Schmutzkonkurrenz.

Diese Tatsachen kennen natürlich auch die Vertreter der "neuen Klassenpolitik". Doch wer Emanzipation auf Klasseninteresse reimt, muss diese Gegensätze innerhalb der Klasse eigentlich für sekundär erklären. Dementsprechend bleibt klassenidentitären Linken nichts anderes übrig, als die Trübung des Klassenbewusstseins als das Grundproblem unserer Zeit zu behandeln.

Durch eine geschickte Kapitalstrategie lasse sich die Arbeiterklasse über ihre wahren Interessen hinwegtäuschen und vergesse, sich gegen den seit Jahrzehnten tobenden Klassenkrieg des Kapitals zu wehren. Für so dumm halten wir die Arbeiterklasse nicht. Bereits die Vorstellung, dass aus gleicher Interessenlage ein "gemeinsames Interesse" folgen müsse, ist wenig überzeugend.

Man denke nur an die Teilnehmer eines Autorennens. Alle wollen als erster über die Ziellinie. Genau aus diesem Grund wird der Misserfolg der anderen zur Voraussetzung des eigenen Erfolges.

Geht man hingegen vom analytischen Klassenbegriff aus, muss man nicht mit Hilfskonstruktionen hantieren wie der des angeblichen "Vergessens der wahren gemeinsamen Interessen". Denn das Überhandnehmen der zentrifugalen Kräfte in der Arbeiterklasse hat strukturelle Ursachen.

Es lässt sich letztlich darauf zurückführen, dass sich mit der Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte die Stellung der Ware Arbeitskraft im System des kapitalistischen Reichtums grundlegend verändert hat.

Veränderungen: Arbeitskraft, lebendige Arbeit und fiktives Kapital

Bis in die 1970er-Jahre hinein war die lebendige Arbeit die mit Abstand wichtigste Produktivkraft. Im Zentrum der kapitalistischen Akkumulation stand die industrielle Mehrwertabpressung in relativ geschlossenen Nationalökonomien. Das Kapital war damit auf vergleichsweise homogene Armeen der Arbeit angewiesen. Diese Schlüsselstellung der Massenarbeit bildete die materielle Grundlage für die Erfolge der Arbeiterbewegung.

Die Verwissenschaftlichung der Produktion im Gefolge der dritten industriellen Revolution hat diese Konstellation indes unwiederbringlich zerstört und wachsende Teile der Arbeiterklasse in eine gegenüber dem Kapital prekäre Lage gebracht. Das Kapital vermag die verschiedenen Glieder der Produktionsketten über den Erdball zu verteilen und Lohnkostengefälle gnadenlos zu nutzen.

Noch wichtiger ist der Aufstieg der Wissenschaft zur Hauptproduktivkraft. Mit ihm geht ein Bedeutungsschwund der lebendigen Arbeit für das Kapital einher. Gerade im Bereich der Schlüsseltechnologien kommen Riesenunternehmen mit homöopathischen Dosen an lebendiger Arbeit aus. Die beiden mit weitem Abstand umsatzstärksten Unternehmen dieser Welt, Microsoft und Apple, bringen es zusammen gerade einmal auf 250.000 Mitarbeiter weltweit.

Vor allem aber ist die gesamte sogenannte Realwirtschaft zu einem Anhängsel der Finanzwirtschaft herabgesunken. Der Motor der Weltwirtschaft ist nicht mehr die industrielle Mehrwertabpressung, sondern die Vermehrung von fiktivem Kapital an den Finanzmärkten. Natürlich gibt es immer noch Lohnarbeitersegmente, auf die das Kapital dringend angewiesen bleibt und die deshalb eine starke Verhandlungsposition besitzen.

Immer größere Teile der Arbeiterklasse leben aber unter dem Damoklesschwert der Substituierbarkeit. Solange der Arbeitskraftverkauf als unhintergehbare und selbstverständliche Grundlage unserer gesellschaftlichen Existenz akzeptiert bleibt, treiben die Interessen innerhalb der Arbeiterklasse immer weiter auseinander.

Brücken schlagen

Die Beschwörung eines gemeinsamen Klasseninteresses aller Lohnabhängigen taugt nicht als Ausgangspunkt für einen Prozess der gesellschaftlichen Resolidarisierung. Soll der in Gang kommen, muss gerade die Abhängigkeit vom Zwang, Geld zu verdienen, ins Zentrum der Kapitalismuskritik gerückt werden. Die Lohnarbeit lässt sich freilich nicht isoliert infrage stellen.

Die Befreiung von ihr lässt sich ohne die Befreiung des gesellschaftlichen Reichtums von der Warenform gar nicht denken. Eine auf universelle Emanzipation gerichtete Kapitalismuskritik müsste sich heute kein geringeres Ziel setzen als die Dekommodifizierung des gesellschaftlichen Reichtums.

Ist ein Antikapitalismus, der die Herrschaft der Ware problematisiert und attackiert, nicht völlig weltfremd?

Wer das vermeintlich Selbstverständliche infrage stellt, stellt sich erst einmal diskursiv ins Abseits. Allerdings bietet diese Neuausrichtung auch einen großen Vorteil. Die systematische Unterscheidung von abstraktem Warenreichtum und sinnlich-stofflichem Reichtum eröffnet einen Zugang zu einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Konfliktfelder, die sonst als disparat erscheinen und gegeneinander ausgespielt werden.

Eine Kritik der kapitalistischen Reichtumsform der Ware erlaubt es dagegen in der Sache Brücken zu schlagen. Dies sei anhand dreier Themen ausgeführt, die derzeit breit diskutiert werden und die Gemüter erhitzen: Der Unbezahlbarkeit des Wohnens, dem Problem der Arbeitszeit und dem des Klimawandels.