Die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht

Seite 4: Arbeitszeit

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Zum unmittelbaren Lohnarbeiterinteresse gehört neben der Lohnhöhe auch die Frage der Arbeitszeit. Schon bei der Formierung der Arbeiterbewegung spielte die Forderung einer Arbeitszeitbegrenzung eine Schlüsselrolle.

An ihrem Anfang stand in den 1830er-Jahren der Kampf gegen die Kinderarbeit und für den Zehnstundentag. Handelt es sich also wenigstens beim Kampf um Arbeitszeitverkürzung um Klassenkampf pur? Im 19. und 20. Jahrhundert hatte der Kampf um Arbeitszeitverkürzung in der Tat den Charakter eines Interessenkampfes der Lohnabhängigen und auch heute noch können Gewerkschaften - eine günstige Verhandlungsposition vorausgesetzt - die eine oder andere kleinere Arbeitszeitreduktion erkämpfen.

Wie viel Sprengkraft gerade heute in der Arbeitszeitfrage steckt, wird aber erst sichtbar, wenn man über den bloßen Interessenstandpunkt hinausschaut und die Arbeitszeitfrage von vornherein mit allgemeinen gesellschaftlichen Fragen verbindet. Das betrifft nicht zuletzt das Problem der ökologischen Zerstörung.

Wie schon erwähnt, bedeutete die dritte industrielle Revolution einen Wechsel der Hauptproduktivkraft. Stand bis in die 1970er-Jahre hinein die Anwendung lebendiger Arbeit im Zentrum der Produktionsprozesse, so wurde nun die Anwendung der Wissenschaft zum eigentlichen Agens.

Das Herausdrängen der Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess verändert aber nachhaltig die Bedeutung von Arbeitszeitverkürzungen. Im Zeitalter der industriellen Arbeit ging es darum, den Arbeitskraftverkäufern neben einem monetären auch einen lebenszeitlichen Anteil an den "Rationalisierungsgewinnen" des Kapitals zu sichern.

Die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft setzte durch, dass Arbeiter in ihrem Leben noch etwas anderes sein können als nur Arbeiter. Weil die Arbeit die Quelle allen Klassenstolzes war, wären sie aber niemals auf die Idee gekommen, deren Stellung als Zentrum ihres Daseins infrage zu stellen.2

Die heutige Diskussion über Arbeitszeitverkürzung muss aber darauf gerichtet sein, diese gesellschaftliche Norm anzugreifen und über den Haufen zu werfen.

Was den stofflichen Reichtum angeht, ist mit dem Aufstieg der Wissenschaft zur Hauptproduktivkraft die Produktivität geradezu explodiert. Auf dem heute erreichten Niveau ist es völlig irrwitzig, dass Menschen weiterhin 40 Stunden und mehr in der Woche mit Herstellung und Vertrieb irgendwelcher Dinge zubringen. Schon deswegen, weil in einer an den Bedürfnissen statt am Tauschwert orientierten Gesellschaft ein Bruchteil dieses Zeitaufwandes für diesen Zweck reichen würde.

Arbeitszeitreduktion: Gebot der ökologischen Vernunft

Irrsinnig aber auch noch in einer zweiten Hinsicht. Wenn weiterhin die explodierende stoffliche Produktivität in eine permanente entsprechende Vermehrung der Güterberge übersetzt wird anstatt in eine Vermehrung der "disponiblen Zeit", dann führt das unweigerlich zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Angesichts der Produktivkraftentwicklung ist es also nicht nur keine Utopie mehr, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf fünf Stunden zu reduzieren.

Eine Arbeitszeitreduktion in so einer Dimension hat sich längst in ein Gebot der ökologischen Vernunft verwandelt. Wie schon Marx betonte, bemisst sich der eigentliche gesellschaftliche Reichtum nicht in der Höhe der Güterberge, sondern in der den Individuen für ihre freie Entwicklung zur Verfügung stehenden Zeit.

Diese Gesellschaft hat die Wahl. Entweder sie bestimmt in diesem Sinne den Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums neu. Das würde allerdings den Bruch mit der Herrschaft von Ware und Lohnarbeit voraussetzen. Oder sie hält an beidem fest und setzt ihren Kurs der Selbstzerstörung durch Arbeit fort.

Neben höheren Löhnen bleibt das Streben nach Arbeitszeitverkürzungen auch weiterhin Bestandteil des Klasseninteresses. Das Problem ist allerdings, dass es in diesem Rahmen bestenfalls nur noch um homöopathische Dosen gehen kann, die dem, was heute möglich und notwendig wäre, in keiner Weise angemessen sind.

Der Spielraum

Dagegen sprengt eine radikale Arbeitszeitverkürzung, wie sie der Übergang zur "Wissensgesellschaft" auf die historische Tagesordnung setzt, den Klassenstandpunkt - es sein denn, man löst ihn vollständig von seiner politökonomischen Bedeutung ab. Solange man am analytischen Klassenbegriff festhält, statt ins Wolkenkuckucksheim der identitären Klassenvorstellung der "neuen Klassenpolitik" auszuweichen, liegt zweierlei auf der Hand.

Zum einen bildet die Verkäuflichkeit der Ware Arbeitskraft die Grundlage des Klasseninteresses. Zum anderen steht und fällt die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse mit dem Organisations- und Beschäftigungsgrad. Solange die Arbeiterklasse sich an ihr besonderes Interesse klammert, ihre besondere Ware an den Markt zu bringen, stellt sie alles andere als die Vorhut der Emanzipation dar.

Auch die kämpferischste Belegschaft und die "revolutionärste" Gewerkschaft werden, solange sie bei Sinnen sind, nicht ihre "eigenen" Betriebe kaputtstreiken. Schließlich hängt die Verkäuflichkeit ihrer Arbeitskraft von deren Fortbestehen auf dem Markt ab. Je mehr sich die Bedingungen der Kapitalverwertung verschlechtern, umso enger wird der Spielraum für den Klassenkampf.

In der Aufstiegsphase des Kapitalismus konnten Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, die sich auf Klassenidentität und -interesse beriefen, Erfolge erzielen. In dem Maße jedoch, wie das Privatinteresse der Arbeitskraftverkäufer an die Grenzen des marktwirtschaftlich überhaupt noch Möglichen stößt, müssen Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, wollen sie erfolgreich sein, ihren bornierten Klassencharakter sprengen und die grundlegenden Strukturen der gesamten auf Kapitalverwertung beruhenden Wirtschafts- und Lebensweise in Theorie wie Praxis angreifen.

Das Interesse der Anbieter der Ware Arbeitskraft ist primär ein Interesse an möglichst hohen Einkommen. Dementsprechend tritt die Forderung im gewerkschaftlichen Kontext in der Regel kombiniert mit der Forderung nach "vollem Personal- und Lohnausgleich" auf.

Aber worauf es wirklich ankommt, ist weder die Höhe des Einkommens noch die Anzahl der Arbeitsplätze, sondern der Zugang aller Menschen zu den Gebrauchsgütern, die sie für ein gutes Leben benötigen.

Eine Bewegung für Arbeitszeitverkürzung auf der Höhe der Zeit muss sich deswegen in zweierlei Hinsicht radikal von ihren Vorgängerinnen unterscheiden: Sie muss sowohl die herrschende Art des Wirtschaftens prinzipiell infrage stellen als auch eine Arbeitszeitverkürzung in bisher ungekanntem Ausmaß fordern.

Sie kann nur eine gesamtgesellschaftliche Bewegung sein, die die Fesseln des immer aussichtsloser werdenden "Einkommens" sprengen und stattdessen ein gutes "Auskommen" für alle etablieren will. Wenn etwa der Wohnraum ganz oder teilweise seines Warencharakters entkleidet wird, sinkt der Geldbedarf der Individuen ganz erheblich.

Anstelle der Illusion vom "vollen Personal- und Lohnausgleich" muss eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei Ausstieg aus dem Lohnsystem und abstrakter Reichtumsproduktion und der Einstieg in die gesellschaftliche Aneignung und Selbstorganisation des stofflichen Reichtums treten.

Klima

Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist schon aus Klimaschutzgründen unerlässlich. Das Klasseninteresse der Arbeitskraftverkäufer steht der Dringlichkeit des Kampfes gegen den Klimawandel aber ganz offensichtlich im Weg.

Der legendäre Vorstandsvorsitzende von BMW, Eberhard von Kuenheim, brachte die Perspektivlosigkeit und das zerstörerische Potential der kapitalistischen Produktionsweise bereits in den 70er-Jahren, natürlich unbeabsichtigt, auf den Punkt.

Gefragt, ob ihm denn nicht klar sei, dass man die ganze Welt nicht mit so vielen Autos wie in Westeuropa und Nordamerika zuschütten könne, antwortete er: "Es mag zwar zu viele Automobile auf der Welt geben, aber noch zu wenige BMWs"2

Nach dieser Logik müssen aber nicht nur die Manager sämtlicher anderer Automobilkonzerne reden und handeln, sondern auch die Gewerkschaften, Betriebsräte und die Lohnabhängigen, deren Lebensunterhalt davon abhängt, dass möglichst viele "ihrer" Produkte auf dem Markt abgesetzt werden. Dass "der ganze Laden irgendwann an die Wand fährt", ist fast zu einer Art Allgemeinwissen geworden.

Aber die systemimmanente Antwort darauf lautet: "Wir müssen weiter auf die Wand zurasen, weil unser Leben davon abhängt." Die Zerstörung der Erde ist in diesem System programmiert. Der Standpunkt des Interesses der Arbeitskraftverkäufer weicht keinen Millimeter von dieser Logik ab.

Das ist auch der Grund dafür, warum eine Bewegung wie Fridays For Future regelmäßig an eine Gummiwand stößt, sobald es um Arbeitsplätze geht: "Wahrscheinlich habt ihr Recht und eigentlich sympathisiere ich ja mit euch, aber sagt mir doch mal, wovon meine Familie und ich in Zukunft leben sollen."

Der Kampf gegen den Klimawandel bedarf deswegen der Ergänzung durch einen breiten, weit über den klassischen gewerkschaftlichen Rahmen hinausgehenden gesamtgesellschaftlichen Kampf um radikale Arbeitszeitverkürzung.

Gerade weil diese beiden Kämpfe ihre Ziele nicht im Rahmen der Logik der Kapitalverwertung und seiner immanenten Klasseninteressen verwirklichen können, könnten sie sich gegenseitig befeuern und eine enorme Sprengkraft entwickeln. Noch ist das den wenigsten der jeweiligen Akteure bewusst.

So bleiben z.B. die zaghaften Annäherungsversuche von Gewerkschaften und Umweltverbänden der allerjüngsten Zeit in der Illusion befangen, Klimaschutz und "Vollbeschäftigung" gingen zusammen. Bedauerlicherweise wird in keiner der entsprechenden Initiativen die Frage der Arbeitszeitverkürzung , geschweige denn diejenige der radikalen Arbeitszeitverkürzung, die heute möglich und nötig wäre, mitgedacht.