Die Wut und die Hilflosigkeit

Amok macht sich immer gut - Teil 2

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Der „Expertenkreis Amok“ hat als Konsequenz aus den Vorgängen in Winnenden und Wendlingen 83 Empfehlungen herausgearbeitet, die helfen sollen, „Amokläufe“ an Schulen zu verhindern bzw. im Falle des Falles besser eingreifen zu können. Ein paar Betrachtungen dazu.

Teil 1: Amoklauf, Amoklauf...

Mit lauter Fahrt da kommt die Polizei

Da die Expertengruppe sich auf die „Amokläufe an Schulen“ bezieht, ist festzustellen: Polizei und Schulbehörden, genauso wie Mitschüler, sind aber, auch durch die mediale Aufblähung der Vorfälle, die letztendlich, egal wie traurig sie sind, Einzelfälle darstellen, in einer Situation gefangen, die sie, ähnlich wie Odysseus bei Scylla und Charybdis, nur zwischen zwei gleichermaßen schlimmen Übeln wählen lässt. Werden bestimmte Äußerungen oder vermeintliche Verdachtsmomente, nicht gemeldet und kommt es später zu einer Gewalttat, so werden die Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfe groß sein, werden sie aber gemeldet, so führt dies ggf. dazu, dass aus jeder unbedachten, wutentbrannten Äußerung eines Schülers bereits eine Ankündigung eines Amoklaufes wird, die nicht zuletzt Einsatzkräfte und andere Resourcen bindet, sondern natürlich auch Nachahmer oder „Witzbolde“ auf den Plan ruft.

...ich hab´ sein Leben soeben total versaut

Amoklauf an Berufsschule vereitelt“ lautet beispielsweise eine Schlagzeile. Was sich jedoch anhört als hätte die Polizei hier gerade noch rettend eingegriffen, wird zur Farce. Zwar wurde die Berufsschule umstellt, der Jugendliche in Gewahrsam genommen, doch: Waffen oder andere gefährliche Gegenstände hatte der Schüler des Berufsschulzentrums für Bau- und Oberflächentechnik nicht bei sich. Gegenüber Mitschülern hätte er jedoch Andeutungen gemacht, die auf einen Amoklauf hätten schließen lassen können. Auch hätte er einem Lehrer Gewalt angedroht, nachdem ihm dieser eine Strafe wegen Zuspätkommens auferlegte.

Es ist nicht wirklich selten, dass Schüler bei einer (vermeintlich) ungerechten Behandlung verbal ausfällig werden. Hier unterscheiden sie sich keineswegs von Erwachsenen, die in bestimmten Situationen ihrer Wut Ausdruck verleihen. So wie Ehemänner in bekannten Sketchen nach einer Konfrontation mit ihren Ehefrauen durchaus schon einmal ankündigen, diese zu töten, so werden auch Schüler in diversen Situationen solcherlei Drohungen ausstoßen. Dies muss nicht in dem üblichen „isch stesch dich ab, Alda“ münden, wie es von einigen Menschen, die die Gewalt zugleich mit dem Ort der Geburt, der „Nationalität“, Religion oder Bildung in Beziehung setzen, münden. Dass Schüler, die als „anders“ gelten (wobei „anders“ ein Sammelbegriff für sämtliche Diversität ist, egal ob es sich um die finanziellen, körperlichen, geistigen,

Der Wunsch, dem Peiniger, als der der Lehrer dann empfunden wird, Angst einzujagen bzw. es „ihm zu zeigen“ ist weder neu noch wirklich ein Zeichen dafür, dass es zu einer tatsächlichen Gewalttat kommen wird. Bereits in alten Tagebüchern finden sich Einträge von Schülern, die ihrer Hilflosigkeit gegenüber Lehrern Ausdruck verleihen und von Gewalttaten phantasieren. Gerade in diesen Einträgen finden sich oft sehr explizite Schilderungen der Strafen an den Peinigern, wobei hier zu bemerken ist, dass in früheren Zeiten gerade auch die körperliche Züchtigung von Schülern eine Rolle spielte, die von den Eltern toleriert wurde. Die Abhängigkeit der Schüler von Lehrkräften, die letztendlich durch die Zensurenvergabe über die weiteren Chancen im Leben bestimmen, ist hoch und nicht selten wirkt eine Zensur eher wie erwürfelt, denn mit Bedacht vergeben. Viele Aspekte wie persönliche Antipathien oder Sympathien der Lehrer, Vorurteile, Druck von Außen (in Zeiten, in denen Schulen oftmals auch auf Spenden oder Selbstinitiative angewiesen sind um Reparaturen usw. ausführen zu können) oder Lerninhalte, die eher ein geistloses Nachplappern denn eine bedachte Äußerung erfordern, spielen gerade bei den Zensuren eine große Rolle.

Exkurs: My name is...

Erst jüngst ergab eine Online-Umfrage, dass Grundschullehrer bei bestimmten Namen bereits gewisse Verhaltensweisen erwarten und entsprechend (re)agieren. „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“ urteilte ein Lehrer.

In einer Gesellschaft, in der, anders als in anderen Kulturkreisen bzw. auf anderen Kontinenten, Vornamen, die sich auf Städte (Paris), Länder (Ireland), Gewürze (Cinnamon), Obst (Peaches, Apple) beziehen oder schlichtweg auf starke Kreativität der Eltern hinweisen (Heavenly Hirani Tiger Lily, Mysty Kyd) als Anzeichen für eine „geistige Verwirrung der Eltern“ angesehen werden, ohne einmal darüber nachzudenken, was es über die Gesellschaft selbst aussagt, wenn sie Menschen auf Grund ihres Namens (vor)verurteilt, sind solche Vorurteile bei Lehrern für die Kinder fatal – ohne daran wirklich etwas ändern zu können, werden sie bis zu jenem Tag, an dem sie ggf. ihren Namen ändern können, schon gebrandmarkt. Hier wäre dann auch zu erwähnen, dass Namensänderungen in anderen Ländern weitaus einfacher zu bewerkstelligen sind als in Deutschland, wo diese ausführlich begründet und oft aus den absurdesten Gründen abgelehnt werden. Auch die Änderung eines Nachnamens gestaltet sich abseits von Deutschland/Europa weitaus einfacher. Hier stellt sich die Frage, wieso Menschen nicht das Recht erhalten, spätestens ab Eintreten der Volljährigkeit, über eine so wichtige Basisinformation über sich selbst wie den Namen selbst zu entscheiden, anstatt diese freie Entscheidung als Ausnahme zu betrachten.

Hey, teacher, leave us kids alone

Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern werden weitgehend als gegeben angesehen, ohne hier in irgendeiner Form einmal eine stärkere Vertretung der Schüler zu ermöglichen. Die Sorgen der Kinder, ihre Ängste und Nöte werden oftmals eher als Einbildung abgetan, das Prinzip „da muss jeder“ durch, herrscht.

Als Gründe für seinen Hass soll der Täter in seinen Aufzeichnungen genannt haben, dass er sich ungerecht behandelt und ausgegrenzt fühle, Angst vor Perspektivlosigkeit, schweren Erkrankungen und einem Nichtbestehen des Abiturs habe und gerne eine Freundin gehabt hätte. Nach bisherigen polizeilichen Erkenntnissen gab es für diese subjektiven Ängste keinen konkreten Anlass.

Gerade für das Gefühl der Ausgrenzung in Bezug auf jemanden, der nach dem allgemeinen Informationsstand ein „Außenseiter“ war, keine konkreten Anlass zu sehen, ist zynisch und fällt in dem sonst eher positiv zu beurteilendem Bericht negativ auf. Hier fehlt die Reflektion der Gesellschaft, die auf Andersartigkeit mit Häme, Sarkasmus, mit Indoktrination und Ausgrenzung reagiert, komplett, was dem Bericht einen eher oberflächlichen Anstrich gibt, so als würden erneut Symptome, nicht jedoch Ursachen bekämpft.

Die Gedanken sind frei

Gerade auch die bereits dargestellte Situation, dass jede nur entfernt auf einen „Amoklauf“ deutende Äußerung bereits einen Einsatz mit sich bringt um zu vermeiden, dass eine Nichtreaktion in fatalen Folgen resultiert, bringt für diejenigen, die sich hilflos, wütend, alleingelassen fühlen, eine weitere Verschärfung der Lage mit sich.

Ähnlich wie bei den sogenannten „Selbstmordforen“, in denen sich Menschen über ihre Selbstverletzungsphantasien sowie deren Umsetzung, ihre Selbstmordwünsche oder auch die Planung des Todes austauschen, wird hier suggeriert, jede solche Äußerung würde bereits in einem tatsächlichen Selbstmord münden. Dabei wird außen vor gelassen, dass solche Phantasien nicht nur weit verbreitet sind, sondern auch oftmals eine therapeutische Wirkung haben. Dazu kommt, dass der Austausch mit anderen, die ähnliche Ideen hegen, das Gefühl des Alleinseins, des „Andersseins“ dezimiert. Während in den Medien oft lediglich die „Triggerfunktion“ thematisiert wird, wird gerade diese Funktion in vielen Foren stark vermieden, im Vordergrund steht die Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten, das Suchen nach Gemeinsamkeiten und der Trost, der durch diese Gemeinsamkeiten entsteht.

So für den potentiellen „Amokläufer“ jedoch diese Möglichkeiten immer stärker im Sinne eines Jugendschutzes beschnitten werden, ein „ich bring sie alle um“ schon zu Großeinsätzen führt und durch eine auch medial inszenierte Hysterie jegliches Verhalten, was dem der früheren „Amokläufer“ ähnelt, bereits als verdächtig behandelt wird, ist dies für ihn ein stärkerer Druck, der auf ihn ausgeübt wird. Zum einen wird er auf Grund seines „Andersartigkeit“ bereits ausgegrenzt, zum anderen als „potentieller Amokläufer“ gehandelt, der insofern weder schriftlich noch mündlich einmal in einer Art „Urschreitherapie“ seiner Wut Ausdruck geben kann. Zwar kann er diese Gedanken hegen, sie jedoch nicht äußern.

Je stärker somit, ähnlich wie bei den teilweise abstrusen Regelungen zur Erkennung von potentiellen Terroristen, die Panik hinsichtlich möglicherweise stattfindender Gewalttaten geschürt wird, desto stärker werden gerade die, denen die Prävention helfen sollte, weiter eingeengt, was durch die vorgeschlagenen Empfehlungen wie mehr Sozialarbeiter, -betreuer usw. nur wenig aufgefangen werden kann. Der jugendschützerische Maulkorb im Netz wird sein Zusätzliches tun um die Katharsis einzuschränken oder unmöglich zu machen.

Zwar beschäftigt sich der Expertenkreis mit der Prävention von Gewalttaten, mit dem Wunsch nach einer Gestaltung eines fairen Miteinanders, nach neuen gemeinsamen Werten in der Schule usw, doch eine generelle Kritik an der Gesellschaft, dem Versagen der Politik und nicht zuletzt an teuren Placeboprogrammen, die sich auf das Internet konzentrieren, während gerade die wichtigen Gelder für Bildung und Familienhilfe fehlen, wird schmerzlich vermisst. Die Empfehlungen sind somit letztendlich größtenteils (auch finanziell nicht umsetzbares) Placebo bzw. reine Symptombekämpfung, es wird lediglich an der Oberfläche gekratzt.