Die andere Sicherheitspolitik: Soziale Infrastruktur rettet Leben

Blick aus einem Fenster auf Wohnhäuser, die renovierungsbedürftig sind

Bild: krsmanovic /Shutterstock

Was, wenn leer stehende Immobilien mehr von der Aufmerksamkeit erhalten, die der Kleinkriminalität zukommt? Über einen Paradigmenwechsel.

Im Sommer 1995 wurde Chicago von einer extremen Hitzewelle erfasst. Allein in der Woche zwischen dem 14. und 20. Juli kam es zu einer Übersterblichkeit von 739 Menschen. Zum Vergleich: Das ist etwa siebenmal so viel wie bei Hurrikan Sandy.

Der Soziologe Eric Klinenberg, der in Chicago aufgewachsen ist, untersuchte die dortige Sterblichkeit und schrieb über seine Entdeckungen zwei faszinierende Bücher: "Heat Wave" und "Palaces for the People".

Unterschiede in Nachbarschaften und Werten

Einige Stadtteile waren deutlich stärker von den Folgen der Hitzewelle betroffen und beklagten mehr Opfer. Der Bürgermeister kritisierte die Menschen, weil sie sich in diesen Vierteln offenbar nicht um ihre Nachbarn gekümmert und diese allein ihrem Schicksal überlassen hatten.

Als Klinenberg jedoch längere Zeit in den am meisten gefährdeten Vierteln Chicagos verbrachte, bemerkte er, dass die Menschen dort eigentlich dieselben Werte wie in anderen Stadtteilen vertraten und auch aufrichtig bemüht waren, einander zu helfen. Was konnte also den Unterschied erklären?

Klinenberg entdeckte:

Die Geografie der Sterblichkeitsrate während der Hitzewelle entsprach größtenteils der Geografie der Segregation und Ungleichheit in der Stadt: Acht der zehn Gebiete mit den höchsten Sterberaten waren praktisch alle afroamerikanisch, mit Bereichen konzentrierter Armut und Gewaltkriminalität, Orte, an denen alte Menschen Gefahr liefen, sich zu Hause zu verkriechen und während der Hitzewelle allein zu sterben.

Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Drei der zehn Stadtteile mit den niedrigsten Sterberaten während der Hitzewelle waren auch arm, gewalttätig und überwiegend afroamerikanisch. Das bedeutet, weder "Rasse" noch ethnische kulturelle Praktiken und Werte, noch Gewalt oder Armut reichen aus, um zu erklären, wer in dieser Woche lebte und wer starb.

Eric Klinenberg

Soziale Infrastruktur

Auf der Suche nach der Erklärung, die im wahrsten Sinne des Wortes Leben retten kann, erkannte Klinenberg, dass der Unterschied zwischen den Orten mit geringer und hoher Sterblichkeit etwas war, das er als soziale Infrastruktur bezeichnet:

Orte und Organisationen, die die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen miteinander umgehen.

Beispielsweise öffentliche Plätze, aber auch öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Spielplätze, Parks, Sportplätze und Schwimmbäder. Des Weiteren auch Bürgersteige, Höfe, Gemeinschaftsgärten und andere Grünflächen, die die Menschen in den öffentlichen Raum einladen. Und nicht zuletzt Gemeinschaftsorganisationen, einschließlich Kirchen und Vereine.

Der Unterschied in der Sterblichkeit lag also nicht in gesellschaftlichen Werten, einem verortbaren grassierenden Desinteresse am Mitmenschen begründet, sondern in einigen Gegenden erschwerte die mangelhafte soziale Infrastruktur schlicht die Interaktion der Menschen.

Begegnungen im realen Raum

Man begegnete sich seltener, kannte seine Nachbarn nicht, war und blieb sich fremd, wodurch auch nicht zuletzt die gegenseitige Unterstützung erschwert wurde. An anderen Orten hingegen förderte die soziale Infrastruktur gezielt menschliche Begegnungen, man kannte sich, vertraute einander und konnte sich helfen. Auch und gerade in den Wochen größter Not im Sommer 1995.

Klinenberg gibt zu bedenken:

Wenn die soziale Infrastruktur robust ist, fördert sie den Kontakt, die gegenseitige Unterstützung und die Zusammenarbeit zwischen Freunden und Nachbarn; wenn sie jedoch beeinträchtigt ist, hemmt sie soziale Aktivitäten und lässt Familien und Einzelpersonen sich selbst überlassen.

Die soziale Infrastruktur ist von entscheidender Bedeutung, da lokale, persönliche Interaktionen - in der Schule, auf dem Spielplatz und beim Imbiss um die Ecke – die Bausteine des gesamten öffentlichen Lebens sind.

Menschen knüpfen Bindungen an Orten, die über eine gesunde soziale Infrastruktur verfügen – nicht, weil sie eine Gemeinschaft aufbauen wollen, sondern weil Beziehungen unweigerlich wachsen, wenn Menschen dauerhaft und regelmäßig miteinander in Kontakt treten, insbesondere wenn sie Dinge tun, die ihnen Spaß machen.

Eric Klinenberg

Die Folge im Katastrophenfall ist extrem, wie Klinenberg über die Menschen schreibt, die in einer gesunden sozialen Infrastruktur leben:

Die Bewohner dort erzählten mir, dass sie während der Hitzewelle wussten, wer allein, wer alt und wer krank war. Sie führten Kontrollgänge durch und ermutigten die Nachbarn, gegenseitig an ihre Türen zu klopfen – nicht weil die Hitzewelle so außergewöhnlich war, sondern weil sie das immer tun, wenn das Wetter extrem ist.

Mit anderen Worten: Nicht wie sehr Menschen einander helfen möchten, ist entscheidend für die tatsächlich geleistete Hilfe, sondern die soziale Infrastruktur. Daher ist eine wichtige Katastrophenvorsorge die Stärkung der sozialen Infrastruktur einer Stadt. Dabei ist diese nicht nur in Zeiten von Katastrophen lebensrettend, sondern auch im Alltag.

Positive Auswirkung auf Gesundheit

Denn in Chicago lebten im Jahr 1990 beispielsweise Menschen in Vierteln mit einer guten sozialen Infrastruktur – unabhängig von Armut – im Schnitt bis zu fünf Jahre länger als Bewohner, die das Pech hatten, in Stadtteilen mit einer schlechten sozialen Infrastruktur zu wohnen.

Welche andere staatliche Maßnahme kann eine solche positive Auswirkung auf die Gesundheit nachweisen?

Sogar bei Medikamenten dürfte es wenige geben, die die Gesundheit so grundlegend positiv beeinflussen.

Basis der Demokratie

Die soziale Infrastruktur hat auch weitere fundamentale und positive Auswirkungen auf die Gesellschaft: Sie ist die Grundvoraussetzung für Demokratie, denn ohne "Orte und Organisationen, die die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen miteinander umgehen" kann es kein Miteinander, keine Diskussion und keine Kompromissfindung, kurz keine demokratische Partizipation geben.

"Die Demokratie muss zu Hause beginnen und ihr Zuhause ist die nachbarschaftliche Gemeinschaft", wie der US-amerikanische Philosoph John Dewey zu bedenken gab.

Eine soziale Infrastruktur, die eine Polis, einen öffentlichen Raum für Begegnungen schenkt, ist die Voraussetzung für soziale Teilnahme und erlaubt grundverschiedene Menschen, sich zu begegnen, anstatt dass die einen mehr oder minder in Gated Communitys abgeschlossen unter ihresgleichen leben und die anderen in mehr oder minder lebenswerten Gettos der Überflüssigen.

Wiederholte Begegnungen unterschiedlicher Menschen schaffen Toleranz und bauen die Polarisierung der Gesellschaft ab.

Sicherheitspolitik und die Theorie der zerbrochenen Fenster

Soziale Infrastruktur ist aber auch in einer weiteren Hinsicht von Bedeutung. Die Standardantwort auf Kriminalität ist seit Jahren das Mantra, mehr Ausgaben für Sicherheitskräfte und Überwachung sowie härtere Strafen zu fordern, auch wenn bis heute nicht belegt ist, dass diese massiven Ausgaben tatsächlich zu positiven Ergebnissen führen.

Grundlage für die Null-Toleranz-Haltung ist die sogenannte Broken-Windows-Theorie (Theorie der zerbrochenen Fenster). Die US-amerikanischen Soziologen James Q. Wilson und George L. Kelling entwickelten die Theorie, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und Kriminalität bestehe.

Daher solle eine zerbrochene Fensterscheibe schnell repariert werden, damit der Stadtteil nicht weiter verfällt und die Kriminalität steigt. James Q. Wilson und George L. Kelling schreiben:

Ein Grundstück wird verlassen, Unkraut wuchert, ein Fenster wird eingeschlagen. Erwachsene schimpfen nicht mehr mit ungehobelten Kindern; die Kinder werden ermutigt und werden noch ungehobelter. Familien ziehen aus, ungebundene Erwachsene ziehen ein. Teenager versammeln sich vor dem Laden an der Ecke.

Der Händler bittet sie, wegzugehen; sie weigern sich. Es kommt zu Schlägereien. Müll sammelt sich an. Die Leute fangen an, vor dem Lebensmittelgeschäft zu trinken; mit der Zeit sinkt ein Betrunkener auf den Bürgersteig und darf seinen Rausch ausschlafen. Fußgänger werden von Bettlern angesprochen.

James Q. Wilson und George L. Kelling

"Broken Windows" ist nicht nur einer der meistzitierten Artikel in der Geschichte der Kriminologie, sondern wohl auch eines der einflussreichsten Werke der politischen Forschung. Seit den 1980er-Jahren stützen sich Städte auf der ganzen Welt diese Theorie, indem Beamte Bagatelldelikte wie Graffitis sprühen, Herumlungern, Trunkenheit in der Öffentlichkeit und sogar Betteln sorgfältig überwachen und Gerichte diejenigen, die für diese Delikte verurteilt werden, streng bestrafen.

William J. Bratton, ehemaliger Polizeichef von Los Angeles und New York City, zeigt sich gewiss:

Wenn man sich um die kleinen Dinge kümmert, kann man viele der großen Dinge verhindern.

Tatsächlich gibt es aber einen deutlich kostengünstigeren Weg, der in jeder Hinsicht das Leben im Stadtviertel verbessert, der auch zu einer sinkenden Kriminalität führt: die Verbesserung der sozialen Infrastruktur.

Der US-amerikanische Kriminologe C. Ray Jeffrey, der die Idee "Crime prevention through environmental design" ("Verbrechensverhütung durch Umweltgestaltung") des Architekten Oscar Newman ausarbeitete und umsetzte, ist überzeugt:

Es gibt keine Kriminellen, sondern nur Umweltbedingungen, die zu kriminellem Verhalten führen. Unter den richtigen Umweltbedingungen kann jeder ein Krimineller oder ein Nicht-Krimineller sein.

C. Ray Jeffrey

Seine Grundidee: Menschen begehen Verbrechen in bestimmten Umgebungen, in anderen jedoch nicht. Nachweisbar haben nämlich der Gebäudezustand und die Infrastruktur einen deutlichen Einfluss auf Kriminalität.

Betrachtet man den Artikel "Broken Windows" fällt auf, dass die ersten beiden Sätze in Vergessenheit geraten sind und alle Welt nur über die eingeschlagenen Fenster diskutiert, aber übersieht, dass die Gegend zuerst verlassen und sich selbst überlassen wurde.

Verlassene Gebäude und Gewalt

1993 veröffentlichte der Kriminologe William Spelman eine Studie, die zeigte, dass in Austin, Texas, "die Kriminalitätsrate in Häuserblöcken mit offenen und verlassenen Gebäuden doppelt so hoch war wie in vergleichbaren Blöcken ohne offene Gebäude".

Im Jahr 2005 wies der Soziologe Lance Hannon nach, dass die Anzahl der verlassenen Häuser in einem bestimmten Zählbezirk mit der Mordrate in den Gebieten mit hoher und extremer Armut in New York City korreliert.

Ein Team um den Epidemiologen der Columbia-University Charles Branas hat in einer aufwendigen Analyse die Auswirkungen und wirtschaftlichen Investitionsrenditen von Programmen zur Sanierung von städtischem Brachland in Philadelphia von 1999 bis 2013 untersucht.

Die Ergebnisse sind beeindruckend: In und um verlassene Gebäude, die saniert worden waren, ging die Waffengewalt um 39 Prozent zurück. Sogar die Sanierung leer stehender Grundstücke hatte einen positiven Effekt und senkte die dortige Waffengewalt um 5 Prozent. Dabei verlagerte sich die Gewalt erstaunlicherweise auch nicht einfach an andere Orte.

"Der Effekt war größer, als wir erwartet hatten"

Die Erfolge hielten sogar zwischen ein und fast vier Jahren an, sodass der Nutzen weitaus nachhaltiger ist als bei anderen Programmen zur Verbrechensbekämpfung. Branas gesteht: "Ehrlich gesagt war der Effekt größer, als wir erwartet hatten."

Die Programme scheinen sich sogar selbst zu finanzieren. "Konservativen Schätzungen zufolge brachten einfache Behandlungen von verlassenen Gebäuden und unbebauten Grundstücken für jeden investierten Dollar einen Nettonutzen zwischen fünf und 26 Dollar für den Steuerzahler und zwischen 79 und 333 Dollar für die Gesellschaft als Ganzes", heißt es in der Veröffentlichung im American Journal of Public Health.

Welche Null-Toleranz-Politik kann diese Erfolge vorweisen?

Klinenbergs Frage drängt sich in diesem Zusammenhang geradezu auf:

Was wäre, wenn leer stehende Immobilien die Aufmerksamkeit erhielten, die jahrzehntelang der Kleinkriminalität gewidmet wurde?

Betrachtet man die zahlreichen und deutlichen Argumente für den Aufbau und die Erweiterung der sozialen Infrastruktur, so kann man sich dem Appell von Klinenberg nur anschließen:

Was wir jetzt mehr denn je brauchen, ist eine umfassende Diskussion über die Art der Infrastruktur - sowohl der physischen als auch der sozialen -, die uns am besten dienen, erhalten und schützen würde.

Literatur:
Eric Klinenberg: Heat Wave
Eric Klinenberg: Palaces for the People

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