Die beste Demokratie, die man für Geld haben kann
Teil 1: Johannes B. Kerner is watching you!
Wenn Sie mich vor anderthalb Jahren gefragt hätten, ob ich mir eine aktive Beteiligung der Bundesregierung auf dem Balkan unter rot-grüner Beteiligung vorstellen könnte, dann hätte ich Sie für nicht recht gescheit gehalten. Genauso aber kam es. Und es konnte nur von der rot-grünen Regierung kommen, sonst hätten wir in diesem Land eine Revolution gehabt. Ähnliches gilt wohl auch für die Veränderung des Sozialstaates. Wahrscheinlich müssen die heiligen Kühe von denen geschlachtet werden, die an ihrer Aufzucht am aktivsten beteiligt waren.
Hilmar Kopper, Chef der Aufsichtsräte von DaimlerChrysler und Deutsche Bank im Hamburger Abendblatt im November 1999
Dem Vernehmen nach ist die SPD bereit, die Auslagerung des Zahnersatzes zuzustimmen, wenn die Union einer Finanzierung des Krankengelds allein durch die Arbeitnehmer zustimmt.
FAZ, Ringen um Krankengeld und Zahnersatz, 15.7.2003, S.1
Die Agenda 2010 beinhaltet folgende, für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht ganz unerhebliche Punkte: "Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, Senkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, weitere Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien (von Arbeit, RJ) , Senkung des Rentenniveaus, Privatisierung des Krankengeldes, schrittweise Aufhebung des Kündigungsschutzes, Aushöhlung der Tarifautonomie."1
Weshalb ausgerechnet diese Punkte und nicht andere für den Aufschwung unabdingbar sein sollen versucht Schröder gar nicht erst zu begründen. Da passt es gut, wenn die Medien gerade zu diesem Zeitpunkt völlig versagen und sich in Neusprech üben: Von der ARD über RTL und N24, von der Bild, taz über die SZ bis zum Spiegel, von Manuel Andrack über Friedrich Nowotny bis Ulrich Wickert werden keine Ansätze zur Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst mehr vermittelt, sondern nur Phrasen, Schlagworte und mechanische Denkschemata im Sabine-Christiansen-Format produziert, die der Beeinflussung des Publikums im Sinne der Lobbies dienen. Es wird ein medialer Diskurs mit ein paar Schlagworten (Globalisierung, Standort, Flexibilisierung, Deregulierung, Eigenverantwortung, Differenzierung etc) erzeugt, der dem sozialen und politischen Prozess vorhergeht und den argumentativen Handlungsrahmen absteckt.
Alle weiteren Positionen hierzu formen sich um seinen Wirkungsrahmen und kreisen um diesen Diskurs. Dieser wirkt also gewissermaßen wie die Schwerkraft auf die Anschauungen der Anderen, die seine Positionen aufnehmen, seine Lösungen diskutieren und generell im begrifflichen Horizont seines Denkens verbleiben. Diese Positionen beeinflussen also nicht nur die Debatte, sondern sie definieren auch die Grenzen, in denen sie stattfindet, bestimmen ihren Knotenpunkt und stecken die Positionen ab, die von den Kontrahenten aufgenommen werden.
Auffallend ist, dass öffentliche, politische Diskurse wieder über die Agenda 2010 die ablaufenden ökonomischen Prozesse und gesellschaftlichen Sachverhalte und Tendenzen (wie etwa das Wirtschaftswachstum.) zu Prämissen und nicht mehr zum Gegenstand der Analyse machen. Begründet wird dies in der Manier einer Margret "TINA" Thatcher damit, dass es keine andere Wahl gäbe. Dies suggeriert man dem wählenden Volk, indem man es mit den "Fakten" konfrontiert, ohne es darüber aufzuklären, wie überhaupt diese Befunde zusammengekommen sind. Eine Art Begründung, bei der man auf das Vorhandene zeigt und sich somit die eigentliche Erklärung spart.
Rosenkranzartige Widerholungen
Zwar reagieren wirtschaftliche Theorien und mediale und politische Diskurse auf einen bestimmten Sachverhalt (wie etwa steigende Arbeitslosigkeit, Finanzierungsengpässe der gesetzlichen Krankenkassen), indem sie mantraesk und rosenkranzartig denkerische und theoretische Konventionen wiederholen und sich dabei auf "höhere" Instanzen und Autoritäten wie Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen berufen (ohne dass man über deren politische Lebensläufe Auskunft bekommt). Dies wiederum aber reflektiert weniger die soziale Wirklichkeit und ihre Machtstrukturen, sondern verfestigt sie oder setzt sie überhaupt erst in Gang.
Ein Sachverhalt ist heute nicht mehr wahr, weil er objektiven und strengen Kriterien genügt, die an der Quelle geprüft sind, sondern ganz einfach, weil andere Medien die gleichen Behauptungen wiederholen und bestätigen. Repetition tritt an die Stelle von Beweisführung; Information wird durch Bestätigung ersetzt.
Ignacio Ramonet
Dementsprechend ist der argumentative Gehalt solcher Ausführungen relativ gering. Wie einfach es sich momentan die Politik macht und mit welchen schlichten rhetorischen Tricks sie arbeitet verdeutlichen zwei Bemerkungen von Peter Glotz in einem ZEIT-Artikel:
(...) die Idee man könne sich die fehlenden Milliarden von den "Besserverdienenden" besorgen ist so populär wie stumpfsinnig. Sicher gibt es in Deutschland einige tausend Vermögensbesitzer, die leicht erhebliche Summen für die Staatskasse entbehren könnten. Aber hat je einer der Wortführer der "Vermögenssteuer-Debatte" einen operativen Vorschlag gemacht, wie man an dieses Geld kommt, ohne den Abfluss vieler Milliarden an Fluchtgeld zu provozieren und die gesamte Unternehmerschaft samt Manager samt Handwerk, samt vieler Kleinsparer bis aufs Blut zu reizen?
und:
Ein bestimmter Typus von anachronistischem Linksliberalismus legt (...) an die arme Bevölkerungsgruppen gönnerhaft niedrigere moralische Maßstäbe an als an andere Leute. Die politisch korrekte These lautet: "Alles Opfer."
Hokuspokus
Einmal verwandelt Glotz ein gesellschaftlich-moralisches lösbares Problem (Vermögenssteuer) in ein unlösbares, strukturelles (die Politik kann gegen Steuerflucht nichts ausrichten) und ein andermal transferiert er ein strukturelles Problem (Arbeitslosigkeit) in eine moralische Kategorie (Opfer) und Hokuspokus! schon hat man eine politische Strategie (Repressionen für die Armen, Vergünstigungen für die Reichen) aus dem Zylinder gezaubert und dabei das Kunststück vollbracht, zu ihrer Begründung kein einziges Argument gebraucht zu haben.
Ein anderes Beispiel sind die Debatten über die Rente: Suggeriert wird, dass sich die Rentenreform aus der Überalterung der Bevölkerung ergibt. Verschwiegen wird aber, dass über die Rentenkassen seinerzeit die deutsche Einheit finanziert wurde, dass von den inzwischen fünf Millionen Arbeitslosen, über eine Millionen davon unter 25 Jahren alt sind und dass man keine Misere in den Sozialkassen hätte, wenn der Bruttolohn in den letzten 15 Jahren im selben Maße wie zuvor am Wirtschaftswachstum beteiligt worden wäre. Außerdem ließe sich die Sicherheit der Renten politisch z.B. auch so bewerkstelligen, indem für jedes Kind ein Kindergeld ausgezahlt würde, das die tatsächlichen Kosten in einem Durchschnittshaushalt kompensiert und weiter freie Krippenplätze sowie die Rückkehr in den Beruf nach der Erziehungszeit verbürgt wären.
Tatsächlich werden also bei der Renten-Debatte politische Fehlentscheidungen und soziale Sachverhalte in einen biologischen Tatbestand umgebogen. Anscheinend hofft man, die bislang unter politischer Amnesie leidenden Menschen mögen sich weiterhin als gehorsame Schüler erweisen, die sich artig ihre Bedürfnisse von den Medien, den Institutionen und der Politik vorformulieren lassen und versucht ihnen weiszumachen, dass ihre gesellschaftliche Stellung jeweils ihren individuellen Fähigkeiten entspricht und dass sie sich dementsprechend selbst für die strukturellen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft verantwortlich zu zeichnen haben. Man soll sich frei fühlen, weil man die für die Bezeichnung der Unfreiheit nötigen Worte vergessen hat.
Aus dem Spagat aus politischem Moralismus nach Unten und zynischem Voluntarismus nach Oben resultiert ein pragmatischer Konsens, der sich u.a. in der permanenten Ersetzung der parlamentarischen Meinungsfindung durch unabhängige Kommissionen (z.B. Hartz, Rührup) äußert, in denen die Spitzen der Wirtschaft, denen jegliche demokratische Legitimation entbehrt eine leitende Rolle inne haben und darin - was nimmt es wunder - nicht ihren eigenen Standpunkten gegenläufige Positionen vertreten, sondern ihre Anliegen direkt in die Politik einbringen.
Ideologisches Doppelpass-Spiel
Ein Resultat dieses neuen Politik-Stils ist, dass in der politischen Debatte von der Existenz der Konzernen wie überhaupt von Produktivvermögen vornehm geschwiegen wird. Soziale Gegensätze, die sich mit der neoliberalen Politik vergrößern werden ebenfalls gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, außer wenn man sie als kreative Stimuli offen begrüßt. Dafür wird der schon beschrittene Weg, industrieller Projekte staatlich zu fördern und öffentliches Eigentum zu verhökern (auch wenn diese Politik bislang nicht den geringsten kompensatorischen Effekte auf dem Arbeitsmarkt gezeigt hat) weiter und mit erhöhtem Tempo fortgesetzt. Als wichtigstes Instrument um politische Debatten zu initiieren und auszutragen, dient nicht mehr das Parlament, sondern die Medien großer Konzerne, denen ein Populist wie Schröder seine Karriere verdankt und deren Anweisungen er befolgt. Hier findet ein ideologisches Doppelpass-Spiel zwischen Medien, Wirtschaft und Politik im Dienste der Ökonomie gleichzeitig auf mehreren Ebenen statt: Das größere Übel braucht das kleinere Übel, um sich überhaupt erst in Gang zu setzen und das kleinere Übel braucht das größere Übel um sich selbst zu legitimieren.
In Wirtschaft und Politik wird immer behauptet, dass man auf Sachzwänge reagiert. Das ist sowohl richtig wie falsch. Z.B. trügt der Eindruck nicht, dass die aktuellen Sachzwänge der Bundesregierung (momentan vor allem die Verscherbelung öffentlichen Eigentums) zwar mit dem wirtschaftlichen Sachzwangs der Erhöhung der Wirtschaftsleistung zu tun haben, diese aber eher Mittel als die Folge von letzterem sind: Der "Sachzwang" der bürgerlichen Parteien ist es, entgegen der offiziellen Rhetorik für den traditionellen Mittelstand, für optimale Rahmenbedingungen der möglichen Verwertung für die jeweils dominierende Kapitalfraktion zu sorgen. Und wenn das Auge nicht trügt, hat man sich jetzt einmal dafür entschieden (nachdem der Boom der New Economy geplatzt ist) durch Ausfall der Gewerbe- und der Körperschaftssteuer die Gemeinden zu ruinieren und damit öffentliches Eigentum an die Multis zu verscherbeln, damit neoliberale Abkommen wie das MAI oder GATS (vgl.Aus dem neoliberalen Gruselkabinett) ihre segnenden Wirkungen (z.. B. bei Bildung, Kultur, Energie, Wasserversorgung) erst recht entfalten können.
Dies wird mit dem Blick auf die leeren Staatskassen gerechtfertigt, verschwiegen wird aber, dass die Konzerne unter Rot-Grün Jahr für Jahr ca. 50 Milliarden Euro weniger als im Jahr 2000 an die Staatskassen entrichten müssen (Eine übrigens verfassungswidrige prozyklische Steuersenkung). Die Finanzkrise ist also nicht einer allgemein schlechten Konjunktur geschuldet , sondern hausgemacht und Folge der rot-grünen Jahrhundert-Reform.
Ob dies aus Korruptheit, Blödheit oder struktureller Handlungsfähigkeit geschieht - der Effekt ist der gleiche. Es kommt hier nicht auf die Motive an, sondern auf die Wirkungen und diese werden erstaunlicherweise in der öffentlichen Debatte in keiner Weise thematisiert. Fest steht, dass mit der bisherigen neoliberalen Politik der Bundesregierung, der Erfüllung von Arbeitgeberforderungen kein gegenläufiger Trend am Arbeitsmarkt geschaffen wurde. Man denkt aber nicht über eine Umkehrung ihrer politischen Strategie nach, sondern will sie im Gegenteil gegen den Widerstand der Gewerkschaften auch noch verstärken und dabei schildern die Medien (mit Ausnahme von Konkret, Magazinen wie Ossietzky oder Sozialismus, den Gewerkschaftlichen Monatsheften oder den Publikationen des ISW) diese arbeitgeberfreundliche Politik als einzig möglichen Weg.
Anders als man annimmt sind aber nicht die deutschen Wirtschaftsdaten besorgniserregend, das BIP stieg im Jahr 2001 immerhin um weitere 37,6 auf insgesamt 2063 Milliarden Euro, sondern die Verteilungsrelationen:
Insgesamt haben die Arbeitnehmer in den letzten elf Jahren einen realen Einkommensverlust von 4,4% erlitten, während die Unternehmergewinne real - d.h. unter Einbezug der Inflationsquote - um rund 40% stiegen. (...) Während 7% aller Haushalte überschuldet sind, vereinigen 365.000 Millionäre 26% des gesamten Geldvermögens auf sich. Diesem knapp halben Prozent der Bevölkerung stehen 50% gegenüber, die alle zusammen ganze 4,5% des Geldvermögens ihr eigen nennen können.
Conrad Schuhler, Demontage des Sozialstaats, Agenda 2010, Hartz, Rürup und die Folgen
Im post-postmodernen Zeitalter, auf dem Weg von der Demokratie zur Demoskopie nimmt die Politik selbst Warencharakter an: Die politischen Parteien werben wie Unternehmen um die Gunst der Wähler, wobei die wesentlichen politischen Inhalte - in die ja alle im Bundestag vertretenen Parteien (mehr oder minder deutlich) übereinstimmen - von Images und Werbeformen aufgelöst werden und die Ergebnissen der Wahlumfragen als mediale Aktienkurse fungieren.
Im Konsens-Dschungel
Gleichfalls gibt es die zunehmende Tendenz, die Informationen, anhand derer über die sozialen und politischen Prozesse aufgeklärt werden soll als Waren zu handeln: Sie gehorchen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und bekommen eine weitgehend von der informationstypischen Substanz abgekoppelte Funktion. Darüber hinaus entscheidet eine einzige Wirtschaftsgruppe, die Medienkonzerne nämlich, in deren Macht es steht, den Informationsfluss zu kontrollieren, über was und auf welche Weise die Bevölkerung instruiert wird. Nach dem Vorbild von Soap Operas oder der Sportberichterstattung nehmen die Medien in einer simplifizierenden, personalisierenden und emotionalisierenden Weise ihre Aufgabe zur Auskunft über soziale und politische Sachverhalte wahr.
Thematisiert wurde z.B. nicht, dass die SPD mit der "Agenda 2010" sämtliche Wahlversprechungen gebrochen hat, sondern es wurde in der Manier der Schilderung eines Boxkampfes darüber berichtet, ob und mit welchen erpresserischen Mitteln (ob z.B. Fraktionszwang oder Rücktrittsdrohungen) Schröder seine Standpunkte gegen seine eigene Partei (die anscheinend immer noch in der Illusion befangen ist, dass mit ihr der brutale und für die Volkswirtschaft ebenso unnötige und kontraproduktive Sozialabbau "moderater" abläuft) und seine Wähler durchsetzt. Wenn alle Medien, Institutionen und Parteien die gleichen Standpunkte vertreten, kann man weder durch Vergleich der unterschiedlichen Fakten aus den verschiedenen Medien auf den realen Sachverhalt schließen noch durch Wahlen diese Positionen beeinflussen. Aus diesem Konsens-Dschungel führt erst einmal kein Weg heraus. Johannes B. Kerner is watching you: Wahrlich! Hätte Adorno das noch erleben dürfen.
Zwar gibt es in Deutschland pro forma Pluralismus, der aber findet nicht statt: Die Medien-Giganten wie Bertelsmann, Springer und Kirch und mit ihnen verflochtene Unternehmen setzen sich und ihre Meinung immer mehr durch. Man kann sich darum schlecht des Eindrucks erwehren, als würde mittlerweile die reale Gewaltenteilung in Deutschland wie folgt aussehen: Die erste Gestaltungsmacht kommt der Wirtschaft zu, gefolgt von jener der Medien (die mit der Wirtschaft verkoppelt sind), die Diskurse inszeniert, die zwischen den Bedürfnissen der Multis und den politischen Rahmengestaltern und dem Publikum vermittelt. Und erst als drittes Glied dieser Triade präsentiert sich die Politik, die wiederum mit Wirtschaft und Medien verquickt ist, sich den Forderungen der Wirtschaft fügt und dieses mit den Medien als unausweichlich darstellt. Was in Italien in der Gestalt eines größenwahnsinnigen ehemaligen Staubsaugervertreters in Personalunion vonstatten geht, funktioniert in Deutschland getrennt eben auch nicht schlecht.