Die bewegten Blogs
Nach den Podcasts kommen nun die Vlogs
Was die Blogosphäre an Inhalten beschert, deckt so ziemlich alle Lebensbereiche ab. Es reicht von psychopatisch stammelnder Verbal-Diarrhoe über den Wortwitz des Alltäglichen bis zu themenzentrierten Fach- und Politikpublikationen teilweise höchster Qualität. Bisweilen findet sich Kunstträchtiges und Literaturverdächtiges. Doch was auch immer vermittelt werden soll, es musste bisher in möglichst treffende Worte gefasst werden. Das ändert sich derzeit: Nach den Podcasts machen nun die Vlogs, also Video-Blogs, von sich reden.
Vor einiger Zeit drängte es einen Blogger, vor der Welt zu bekennen, dass er Schwierigkeiten beim Öffnen eines BHs habe. Denn er sei bisher fast immer an busenlose Frauen ohne dieses Stützwerkzeug geraten und konnte daher keine spezielle Fingerfertigkeit erlangen. Für dieses Geständnis mäanderte er viele Worte umeinander. Und genau so machen es Millionen anderer, die irgendwelche Botschaften zur Kenntnis bringen möchten. Sie schreiben Texte. Möglicherweise exzentrisch oder gar poetisch, vielleicht durch ein Foto ästhetisiert.
Doch immer mehr amerikanische Blogger ersparen sich solche Wortwerke, sie stellen nun einfach Videos ins Netz. So können alle Interessierten mit eigenen Augen sehen, was gesagt werden soll - und vieles auch jenseits der Sprachbarrieren verstehen. Vor gut einem Jahr tauchten die ersten Vlogs in den USA auf, und inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Vloggern, die mehr oder minder regelmäßig ihre bewegten Bilder zur Schau stellen. Allertrivialstes ebenso wie kleine Kunstwerke.
Und wer oder was erwartet uns da? Da sind beispielsweise Steve und Carol in der The Carol and Steve Show. Ihnen dürfen wir bei alltäglichen Verrichtungen zusehen, etwa wie sie den gepflasterten Eingangsbereich ihres schmucken Vorgartens schrubben. Doch leider macht Steve schnell schlapp, so dass - könnte es anders sein? ?- er sich erst einmal im Liegestuhl erholen und Carol allein weiterputzen muss. Ganz anders bei Amanda Congdons Rocketboom. Hier gibt's mächtig was auf die Ohren, hier fetzt heißer Rock mit Showeinlagen, bei denen ein entfesselter Knabe Luftgitarre spielt. Mit einer erfrischend neuartigen Konversation überrascht Amyville. In „a brief conversation with a giraffe“ tritt ein niedliches großes Mädchen in einen nonverbalen Dialog mit einer niedlichen kleinen Stoffgiraffe.
Gut als Einstieg und für einen Überblick ist das Videoblogging-Universe, bei dem mehrere andere Vlogs in einer Art Inhaltsverzeichnis zusammengefasst sind. Fährt man mit der Maus über das jeweilige Bild, erhält man eine kleine Probesequenz von Bild und Ton. Mit gehobenem optischen Anspruch und einer stattlichen Vlogroll präsentiert sich The 05 Project. Schon fast entrückt surrealistisch dagegen präsentiert sich Hold my beer and watch this!. Ein Paar zeigt sich beim Essen, wohl dem Frühstück, so wie es aussieht, an einem Tag, an dem nicht gesprochen, sondern nur gestikuliert wird. Sind das möglicherweise die Bilder, die Erleuchtung bringen? Erleuchtung etwa, wie sich der Beziehungsspagat zwischen Liebe und dem ganz normalen Wahnsinn alltäglicher Routine bewegt. Und dass es bei anderen immer noch schlimmer ist - oder zumindest aussieht. Oder ist es ganz normaler Blödsinn? Und wir lassen uns zu Voyeuren dilletantischer Psycho-Exhibitionisten machen?
Wie auch immer: Allzu viel lässt sich über die neue Medien-Spezies noch nicht sagen. Zumal sich ihre Akteure nicht auf bestimmte Definitionen festlegen. Doch das war beim Aufkommen der Textblogs nicht anders. Auch hier wurde erst mal (und wird immer noch) munter darauf los experimentiert, und es verstreicht Zeit, bis sich viel Spreu von deutlich weniger Weizen sondert. Und mit der Definition hapert es bis heute. Warum sollte die Entwicklung bei den Vlogs anders verlaufen? Und dass die Videosequenzen und das darin Gesprochene oft äußerst banal wirken, basiert nicht immer auf geistiger Armut. Nicht selten sind es Anspielungen auf amerikanische Fernsehsendungen, teilweise also Wortspiele mit Dialogen aus Unterhaltungsshows oder Serien, die in Deutschland und Europa unbekannt sind und hier daher einfach unverständlich platt wirken.
Im Hinblick auf die Podcasts war mehrfach von der „Chance der Wiedergeburt des Radios“ zu hören und zu lesen. Beispielsweise dass Radiosender mit dieser Technologie die Möglichkeit ergreifen könnten, ihre Inhalte nicht nur live, sondern zusätzlich auch on-demand anzubieten. Wer weiß, welches Potenzial, dem Film und dem Fernsehen neue Impulse zu geben, in den Vlogs steckt? Noch ist die Szene sehr klein und extrem selbstreferenziell. Einfach mal abwarten - und ab und zu anschauen. Vielleicht keimt Sehenswertes. Ach ja, schöne neue Zuschauerwelt.