Die deutsche Angst vor Minderheitsregierungen

Bundeskanzleramt. Bundeskanzleramt,_Berlin_2017_003.jpg:Bild: Mike Peel/CC BY-SA-4.0

Politiker fürchten ihre Ungewissheit und Unkalkulierbarkeit

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Neuerdings diskutiert man in Deutschland über die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Doch wenn Politiker darüber sprechen, meinen sie das als abschreckendes Beispiel und Horrorvision. Von allen denkbaren Alternativen vor Neuwahlen wäre eine Minderheitsregierung die ultimativ allerletzte, betonen unisono alle Politiker. Das mag in anderen europäischen Ländern vielleicht mal funktionieren, aber doch nicht in einem wohlgeordneten Land wie Deutschland. Warum eigentlich?

Das deutsche Unbehagen vor Minderheitsregierungen wirft die Frage auf, welche tiefsitzende irrationale Angst dahintersteht und ob es wirklich vernünftige und nachvollziehbare strukturelle Argumente gegen Minderheitsregierungen gibt. Haben sie tatsächlich mehr Nachteile als Vorteile? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Eine Minderheitsregierung muss damit leben, dass sie nie per se eine Mehrheit kontrolliert. Sie muss in jedem Einzelfall, in dem sie für eine Entscheidung eine Mehrheit braucht, darum ringen und mit anderen Fraktionen verhandeln. Das verändert einschneidend die Kultur des Umgangs im Parlament. Die Angehörigen anderer Fraktionen müssen überzeugt werden. Man redet miteinander, nicht gegeneinander.

Eine strenge Fraktionsdisziplin, gar ein rigider Fraktionszwang, vergiftet von vornherein die parlamentarische Atmosphäre für Minderheitsregierungen. Es ist eine Kultur, zu deren strukturellen Wirkmechanismen es gehört, nach Lösungen in der Absicht zu suchen, sie auch wirklich zu finden und nicht dazu, die Vertreter anderer Fraktionen niederzumachen oder gar niederzubrüllen.

In Parlamenten mit Mehrheitsregierungen herrschen dagegen hierarchische Entscheidungswege, die als solche und für sich allein genommen zutiefst undemokratisch sind und die auch zusammen genommen nicht gerade zu den Meisterleistungen demokratischer Entscheidungsfindungskunst zählen: Die Regierung fasst einen Beschluss. Dann informiert sie die Fraktionsführung(en). Die Fraktionsspitze(n) sorgt(sorgen) dafür, dass die Mitglieder der Fraktion ausnahmslos im Sinne der Regierung entscheiden, notfalls mit Drohungen, Sanktionen, nacktem Zwang und Geld- oder Postenentzug. Das ist man gewohnt. So sind Entscheidungen im Bundestag schon immer gefällt worden. Das entspricht der vorherrschenden autoritären Mentalität.

"Eine Minderheitsregierung hat nicht die Stabilität, die man in Europa und in Deutschland und in der Welt im Moment braucht", tönt etwa NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und stößt damit auf große Zustimmung; denn alle sind natürlich für starke Regierungen in schweren Zeiten - als ob es jemals Zeiten gäbe, die nicht schwer sind. Die Lage ist doch immer ernst. Man fragt sich, wie jemand je auf die absurde Idee verfallen konnte, die Entscheidungsfindung in Mehrheitsregierungen mit ihrer rigiden Fraktionsdisziplin und dem Zwang zur Geschlossenheit sei ein demokratischer Vorgang. Sie ist das Gegenteil davon. Sie ist geprägt von autoritärem Denken und hierarchisch strukturierten Entscheidungswegen. Jeder einzelne Schritt in der Kette erfolgt von oben nach unten. Demokratisch wäre umgekehrt: von unten nach oben. In die parlamentarische Struktur eingebettet sind undemokratische Entscheidungsprozesse.

Bei Minderheitsregierungen besteht strukturell ein Zwang zu Lösungen Mit dem Parlamentarismus eng verknüpft war ja stets die naive Vorstellung, dass so etwas wie eine Regierung durch kultivierte Debatte möglich sei, dass also die Vernunft von Entscheidungen wie einst Phoenix aus der Asche aus Diskussionen emporsteigen könne - so wie das aus den geistreichen Debatten im antiken Athen und Rom möglich gewesen sein soll. In einem Parlament mit einer Minderheitsregierung käme man diesem demokratischen Ideal zumindest einen großen Schritt näher: Man würde wieder miteinander reden, um gemeinsam Lösungen zu finden.

Der Zwang zum lösungsorientierten Diskurs wäre in der Art der Mehrheitsverhältnisse und der strukturellen Entscheidungszwänge institutionalisiert - so wie der Zwang zum antagonistischen Fraktionsgegröle in den Verhältnissen der bisherigen Mehrheitsregierungen im Bundestag institutionalisiert ist. In den hoch ritualisierten Debatten moderner Parlamente ist von vornherein jede Hoffnung darauf begraben, dass aus dem primitiv-rechthaberischen und dennoch zahnlosen Parteiengebrüll auch nur Rudimente von Vernunft hervorgehen könnten.

Um überhaupt möglich zu sein, muss eine konstruktive Streitkultur in irgendeiner Weise institutionalisiert sein, also etwa dadurch, dass eine seriöse Debatte wenigstens dazu führen kann, dass einzelne Abgeordnete anders abstimmen und sich womöglich gar die Mehrheitsverhältnisse ändern. In einer Situation mit einer Minderheitsregierung wäre auf jeden Fall die strukturelle Voraussetzung für einen zivilisierten Umgang institutionalisiert. Und genau das befürchten die Gegner von Minderheitsregierungen. Die Feinde einer Minderheitsregierung sind beherrscht von der Angst vor den unordentlichen Entscheidungswegen. Man weiß nicht von vornherein, was dabei herauskommt. Das passt den Politikern grundsätzlich nicht in den Kram. Sie haben lieber klare Weisungen ihrer Fraktionsführungen.

Es ist natürlich klar und sogar nachvollziehbar, dass die Kanzlerin mit den klaren Entscheidungsstrukturen von Mehrheitsregierungen mit Fraktionszwang besser zurechtkommt, in denen ein Wadenbeißertyp wie der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder seine Fraktionsmitglieder mit mehr oder auch weniger Gewalt unter Kontrolle hält. Aber demokratischer und zugleich auch politisch zivilisierter sind die systemimmanenten Zwänge einer Minderheitsregierung.

Unter Minderheitsregierungen besteht ein lösungsorientiertes Klima des demokratischen Miteinanders, das Mehrheitsregierungen mit ihrem klamaukhaften Gegeneinander fremd ist. Der strukturelle Zwang zu Antagonismus und radikaler Abgrenzung besteht in dieser Konstellation nicht. Die Fraktionen stehen unter der Notwendigkeit, aufeinander zuzugehen und nicht unter dem Zwang, sich mit dröhnenden Redensarten voneinander abzuheben.

Zugleich aber besteht ja auch die reale Gefahr, dass das bestehende Gleichgewicht der Kräfte im Parlament zusammenbräche. Zum Mehrheitssystem gehören zwangsläufig hierarchische Strukturen in den politischen Parteien und den Fraktionen. Ohne diese Strukturen und ihre Befehlswege von oben nach unten sind Mehrheitssysteme kaum funktionsfähig; denn jede Änderung der Mehrheitsverhältnisse gefährdet die Regierung. Und weil das so ist, erscheint es den amtierenden Politikern aller politischen Parteien ausgeschlossen, dass man es einmal mit einer Minderheitsregierung versuchen könnten und zwar total.

Sie sind diese Entscheidungs- und Willensbildungsstrukturen nicht gewöhnt. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass Entscheidungen tatsächlich öfter mal von unten nach oben getroffen werden. Sie kennen das nur umgekehrt. Ihre Mentalität rebelliert dagegen.

Sie erkennen auch keinerlei Anreiz zur kultivierten oder auch nur halbwegs zivilisierten Debatte. Im Gegenteil, die "Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser", schreibt Roger Willemsen. Aber in der Theorie des Parlamentarismus verläuft die Chose eigentlich umgekehrt: Die Legislative kontrolliert die Exekutive.

Verbaler Schlagabtausch und dröhnende Rhetorik

Doch die Herren der Mehrheitskultur lehnen Minderheitsregierungen entschlossen ab. Die Kultur der Minderheitsregierungen ist ihnen schon von der Mentalität her suspekt. Man hat das hervorragend in der Bundestagsdebatte nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine mögliche Jamaika-Koalition verfolgen können. Da haben die verschiedenen Fraktionsvertreter den jeweiligen Gegnern lautstark vorgeworfen, dass sie - und sie allein - am Scheitern der Verhandlungen schuld seien. Die übliche verbale Keilerei: Die anderen sind schuld, und wir haben die besseren Konzepte: genau das einfältig rechthaberische Geschwätz, das die Wähler nicht mehr hören können und nicht mehr hören wollen.

Eine Minderheitsregierung könnte eine Chance darstellen, dem parlamentarischen Koloss in Berlin ein wenig demokratisches Leben einzuhauchen. Die Regierung müsste bei jedem Vorhaben und jeder Entscheidung die Abgeordneten anderer Parteien zu überzeugen. Sie hätte sogar die Möglichkeit, unter vielen möglichen Partnern mehrere auszuwählen. Das würde den Radius der an Entscheidungen im Parlament deutlich vergrößern. Und wenn die einen nicht wollen, dann könnten die anderen vielleicht wollen. Im Grunde genommen ist keiner zu jahrelanger Frustration in der Opposition verdammt. Potenziell sind die meisten sowohl an der Regierung wie an der Opposition beteiligt.

Denn bei parlamentarischen Debatten, wie man sie im Bundestag bisher erlebt hat, ging es vorwiegend nur darum, ein bisschen gegen die jeweiligen Gegner zu pöbeln. Und da primitive Pöbelei beim Publikum nicht so gut ankommt, findet im Plenum stets nur ein verbaler "Schlagabtausch" statt. Aber selbst den will das Publikum inzwischen auch nicht mehr hören. Er ist ja auch geistlos und langweilig und führt zu gar nichts. In der Konfiguration einer Minderheitsregierung wäre ein solcher Schlagabtausch ausgesprochen kontraproduktiv. Er würde strukturell nicht in die parlamentarische Atmosphäre passen.

Das Resultat dieses Verfalls der Debattenkultur ist ein niveauloses Schmierentheater, in dem die Beteiligten rabaukenhaft gegeneinander auskeilen - einer der Gründe für die in vielen Jahren gewachsene Politikverdrossenheit großer Teile der Bevölkerung: Das einfältig-rechthaberische und selbstgefällige Gewäsch parlamentarischer Debattenredner ist dem Publikum längst zuwider. Verbale Prügeleien und wechselseitige Schuldzuschreibungen sind das genaue Gegenteil dessen, was ein Volk mit Fug und Recht von einem Parlament erwarten kann. Aber die Politiker haben sich in Jahrzehnten der Mehrheitsregierungen daran gewöhnt und halten das wohl für zwingend notwendig.

Der Niedergang der Debattenkultur in den Parlamenten steht allerdings in eklatantem Gegensatz zu den Notwendigkeiten unserer Zeit. Auch dies ein Indiz dafür, dass die Welt der entwickelten repräsentativen Demokratien aus den Fugen geraten ist.

Das Ende einer Horde von Flegeln im Parlament

Niemand zeigt die unerträgliche Nichtswürdigkeit parlamentarischer Debatten in der klassischen Mehrheitsregierungskonstellation unverhohlener als die Abgeordneten selbst. Wer sich davon überzeugen will, sollte nur einmal in einer Plenardebatte des Bundestags dabei sein oder sie wenigstens im Fernsehen anschauen.

Während sich ein Redner einer Fraktion am Rednerpult abmüht, lümmeln sich die wenigen anwesenden Abgeordneten wie die Flegel von der letzten Bank in ihren Sitzen. Die meisten bleiben den Debatten sowieso fern. Diejenigen, die anwesend sind, lesen derweil in der Zeitung oder in sonst irgendetwas, fummeln wie die Pennäler an ihrem Handy, unterhalten sich mit anderen Kollegen, lachen blöd oder telefonieren. Der eine oder andere hält auch schon mal ein Nickerchen. Dass jemand einem Redner zuhört, kommt auch vor, ist aber eher selten.

Natürlich klatschen die schon aus Prinzip nur dann, wenn ein Vertreter der eigenen Fraktion spricht - egal, was der so sagt. Aber da klatschen sie viel. Schließlich ist der Laden ja dafür da, dass man immer nur den eigenen Leuten zujubelt. Wenn jemand von der Gegenfraktion spricht, gähnen alle anderen demonstrativ oder zerstreuen sich sonst wie, bloß nicht mit Zuhören. Und bei jemandem von der Gegenseite würden die anderen wohl nur dann klatschen, wenn der verkünden würde, er wolle seine Fraktion verlassen.

All dies verändert sich schlagartig unter einer Minderheitsregierung; denn dann besteht strukturell und institutionell eine gewisse Notwendigkeit zur Einigung und zu einer Form des Umgangs miteinander, die nicht prinzipiell die Möglichkeit ausschließt, dass man am Ende noch zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen findet.

Das Informations- und Kommunikationszeitalter erfordert eine neue Diskurskultur. Der banale Streit darum, wer jetzt gerade Recht hat und schon immer Recht hatte oder die besseren Konzepte verficht, ist nicht mehr zeitgemäß. Er ist verantwortungslos. Gebraucht wird eine Lösungskultur und ein gemeinsamer Lösungsdialog, der Parteigrenzen überwindet, nicht sie aber in Stein meißelt.

Aber eine Diskurskultur, die Lösungen für Probleme zu erarbeiten versucht, kann aus einer parlamentarischen Mehrheitsregierung mit Fraktionszwang aus strukturellen Gründen nicht hervorgehen. Man kann sich das von Herzen wünschen - so wie den Weltfrieden. Aber der wird deshalb auch nicht kommen. Die Struktur der Parlamente in Parteienstaaten mit ihren Regierungsmehrheiten und Oppositionsminderheiten, ihren Fraktionen und ihrem Fraktionszwang steht einer lösungsorientierten Diskurskultur entgegen und macht sie unmöglich.

Es hilft nicht, wenn man bloß über die Politiker und ihre nichtssagenden Reden in den Parlamenten schimpft; denn dahinter stehen institutionelle Zwänge, und erst wenn diese beseitigt sind, würde eine parlamentarische Redekultur möglich sein, bei der am Ende sinnvolle Ergebnisse herauskommen. Von selbst werden diese Zwänge aber nicht verschwinden. Aber in einer Minderheitsregierungskonstellation besteht wenigstens eine gewisse Hoffnung.

Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs

Über die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten wird stets gebetsmühlenhaft das Grundgesetz (GG) zitiert: Nach Artikel 38 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Artikel 46 GG darf kein Abgeordneter in irgendeiner Weise gerichtlich, dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden.

Die Abgeordneten sind so frei, wie sie es sein wollen - niemand kann sie zwingen, bei einer Abstimmung die Hand zu heben oder sie unten zu lassen oder eine blaue, rote oder weiße Abstimmungskarte abzugeben. Soweit die Theorie.

Die Wirklichkeit von parlamentarischen Mehrheitsregierungen sieht jedoch völlig anders aus. Unbestritten und unbestreitbar ist, dass die Fraktionen im Bundestag und in den Länderparlamenten so gut wie immer einmütig abstimmen - schon immer einmütig abgestimmt haben und auch in Zukunft einmütig abstimmen werden. So gut wie immer bedeutet: In mehr als 99 Prozent aller Fälle.

Das gilt nicht nur bei namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird. Viele Abgeordnete kommen überhaupt erst kurz vor einer Abstimmung ins Plenum und schauen, wann der Stimmführer ihrer Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält.

Manche kommen nur, weil die "Stallwache" der Fraktion im Plenum über die Rufanlage durchgeben ließ, dass die Mehrheit im Plenum gefährdet ist und die Kollegen schleunigst ins Plenum kommen mögen.

Die Freiheit des Abgeordneten ist eine Illusion

Immer mal wieder kommt es vor, dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen und Drohungen ungewiss ist, wie Abstimmungen ausgehen. Und immer wenn die Fraktionsspitzen nicht sicher sind, was passieren könnte, lassen sie es erst gar nicht auf den riskanten Versuch ankommen, wie die Mehrheit wohl ausfallen könnte. Das wäre einfach zu demokratisch-naiv gedacht. Nein, dann wird erst mal geübt, und zwar so lange, bis das Richtige herauskommt.

Probeabstimmungen dienen nicht etwa dazu, mal ein bisschen herumzuprobieren, wie die Abgeordneten sich wohl entscheiden könnten. Da wird nichts im Wortsinne "geprobt". Das wäre ja auch albern; denn die meisten Abgeordneten sitzen lange genug im Parlament, um zu wissen, wie man abstimmt. Die müssen nicht noch üben. Probeabstimmungen sind ein Instrument der Disziplinierung in der Hand der Fraktionsführungen.

Kommt dabei nicht das gewünschte Ergebnis heraus, nimmt die Fraktionsspitze sich die Wackelkandidaten in der eigenen Fraktion zur Brust und bekniet sie unter Einsatz vielfältiger Druckmittel. Wenn die dann schließlich versprechen, "richtig" abzustimmen, kommt die nächste Probeabstimmung. Und bis alle Abgeordneten zur Raison gebracht sind, können schon mal mehrere Probeabstimmungen nötig werden.

Um zu erreichen, dass Abgeordnete widerstandslos und ungeprüft den Entscheidungen der eigenen Fraktionsspitze folgen, braucht man keine kompetenten und erst recht keine unabhängigen Abgeordneten. Und schon gar nicht einen parlamentarischen Moloch mit 709 Abgeordneten, die einander alle gegenseitig im Wege stehen.

Da reicht es völlig hin, wenn man einen gehorsamen Parteisoldaten hat, der brav alles abnickt, was man ihm vorsetzt. Und das ist nun einmal die einzige Qualifikation eines Parlamentariers in Mehrheitsregierungen, die wirklich gebraucht wird: Er muss spuren. Wie weit sich doch die real existierenden Demokratien vom Ideal einer lebendigen Demokratie entfernt haben.

Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne

Wer abweicht, gilt als Verräter - auch das eine strukturbedingte Folge der Situation von Mehrheitsregierungen. Und er ist es aus parteilicher Perspektive ja auch; denn wenn eine Regierung einmal bei einer wichtigen Abstimmung keine Mehrheit bekommt, bedeutet das in aller Regel ihr Ende. Der Fehler liegt in dem System, in dem die Zukunft einer Regierung so sehr von der Geschlossenheit ihrer Abgeordneten abhängt, dass der gnadenlose Fraktionszwang schier unvermeidlich erscheint.

Fälle von Abweichung sind außerordentlich selten, ja, sie kommen so gut wie gar nicht vor. Aber wenn sie vorkommen, enden alle ähnlich: Der Abweichler wird gemobbt und isoliert und gibt entweder selbst auf oder wird abgestraft - in der Regel dadurch, dass seine Wiederwahl unmöglich gemacht wird. Wer von der Mehrheit abweicht, darf alle Hoffnungen auf eine Karriere in Partei, Fraktion oder gar Regierung fahren lassen. All diese undemokratischen Mechanismen sind unter Minderheitsregierungen zumindest stark abgeschwächt, wenn nicht gar ausgeschlossen.

Eine freie und unabhängige Meinung kann sich ein Abgeordneter, der auch noch eine Karriere machen möchte, nicht leisten - schon gar nicht in Schicksalsfragen für die eigene Partei, Fraktion oder gar Regierung. Bei anderen Themen mag das anders sein: Wenn er sich den Luxus einer eigenen Meinung zur Lage der Landwirtschaft in der südlichen Mongolei leistet, nimmt ihm das wohl niemand krumm …

"Soweit wir Mitglieder der Regierungsfraktion sind, sind wir im Grunde, was Kontrolle und Gesetzgebung anlangt, nicht mehr in der Rolle des Parlaments nach der klassischen Gewaltenteilungslehre."1 Mit anderen Worten: Das Parlament verzichtet in seiner Mehrheit freiwillig und ohne wirkliche Not auf seine vornehmste und angeblich wichtigste Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, und überlässt das lieber der Opposition. Doch die ist machtlos und kann eigentlich nur wirkungslos schimpfen. Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne, und die Opposition ist je nach Lage nur ein kleiner oder ein etwas größerer Rohrspatz. Er schimpft jedenfalls wirkungslos vor sich hin …

Fraktionsdisziplin ist kein demokratisches Instrument

Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist in jeder Legislaturperiode ausgiebig untersucht worden. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie folgen bei praktisch allen Entscheidungen der Fraktionsdisziplin. Ausnahmen gibt es so gut wie keine.

Auf jeden Fall ist die Durchsetzung von Fraktionsdisziplin kein ur- und erzdemokratischer Prozess. Die Fraktionsdisziplin allein wäre kein Problem, fügte sie sich nicht in eine Vielzahl von undemokratischen Prozeduren ein, die einander in ihrer Fülle zur Degenerierung der entwickelten Demokratie ergänzen.

Fraktionsdisziplin ist ein hierarchisches Instrument, mit dem Entscheidungen jedenfalls nicht von unten nach oben stattfinden. Die Richtung ist umgekehrt: von oben nach unten. Und wenn Entscheidungen in Parlamenten von oben nach unten stattfinden, dann ist das jedenfalls nicht gerade das Muster gelebter Demokratie.

Tatsächlich treiben die Fraktionsführungen aller Parteien erheblichen Aufwand, um Fraktionsdisziplin zu erzwingen. Es versteht sich von selbst, dass sie von ihren Abgeordneten erwarten, dass sie grundsätzlich so abstimmen, wie sie es ihren Abgeordneten vorgeben. Sie sprechen zwar meist mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass sie das "erwarten". Aber sie meinen, dass sie das "verlangen" und in Zweifelsfall auch "erzwingen".

Einen Einblick darin, wie das praktisch abläuft, hat der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler der Internetplattform abgeordnetenwatch.de gegeben. "Jeder Abgeordnete muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: Sogar das freie Gewissen muss bei der Fraktionsführung angemeldet werden.

Jede Fraktion hat ihren eigenen Stil bei der Durchsetzung des Fraktionszwangs. So gibt es bei der SPD-Fraktion einen "einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten." - Ein Beschluss der direkt im Widerspruch zu Grundgesetz steht. In der CDU werden Abweichler von der Fraktionslinie ganz unverblümt als "EDEKA-Club" bezeichnet. Edeka steht dabei für das "Ende der Karriere", also die Streichung von der Liste zur nächsten Wahl.

Die Fraktionsspitzen aller Parteien können den Fraktionszwang, den sie ausüben, so oft leugnen, wie sie mögen, sie konnten es nicht verhindern, dass "Abweichler" hinterher in den Medien ausgiebig darüber berichteten, wie sie kaltgestellt wurden.2

Im Parlament geht es für den einzelnen Abgeordneten nur noch darum, ebenso wie die Fraktionsspitze abzustimmen, ohne jede Entscheidung noch auf ihre sachliche Richtigkeit und politische Stimmigkeit zu prüfen. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus.

Die Parlamentarier degradieren sich selbst zum Stimmvieh

Ein System der Willensbildung und Entscheidungsfindung, in dem Parlamentarier sich permanent daran orientieren, wie die Fraktionsspitze oder der "Stimmführer" entscheidet, um sich ebenso zu verhalten, lädt geradezu zum Verzicht auf ein eigenes Urteil ein.

So kommen immer wieder und in wachsender Zahl Entscheidungen zu Stande, bei denen man sich einige Jahre, Monate oder gar Wochen hinterher fragt, ob die Mehrheit im Bundestag denn vom Wahnsinn geritten gewesen sei. Oder noch wesentlich häufiger: Es kommt zu ausgesprochen schlampig und im Eiltempo durchgeboxten Gesetzen, in denen die Details nicht stimmen und die vom Bundesverfassungsgericht bei der nächsten Gelegenheit wieder gekippt werden müssen. Wenn die Regierung Gesetze durch das Parlament peitscht, müssen die Abgeordneten über Dinge entscheiden, die sie nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, die aber die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnten. Das gehört auch zur Bilanz mehrerer Jahrzehnte Mehrheitsregierung.

Der Kreis der wahren Entscheidungsträger in den Fraktionen ist sehr klein. Zwar haben die Fraktionen je nach Größe Vorstände von zwischen 5 und 50 Personen. Doch die einzigen Entscheidungsträger in den Fraktionen sind der Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsgeschäftsführer.

"Sie bereiten die Sitzungen der Fraktionsvorstände der Sache und den Themen nach vor, sodass sich eine Ausweitung der Meinungsbildung dieses Kreises über den Fraktionsvorstand bis hin zu den Fraktionen ergibt. Die Fraktionsvorstände übernehmen dabei meist die Abschirmung vorbereiteter Entscheidungskonzepte in und gegenüber der Fraktion. Selbst wenn es in den Fraktionsvorständen zu differenten Auffassungen gekommen ist, erfahren die Fraktionsmitglieder davon offiziell keineswegs immer etwas."3

Der eigentliche Partner der Bundesregierung auf Seiten des Parlaments ist der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Bundestag. "Die Abgeordneten sehen sich den hierarchischen Spitzen der Regierung und eigenen Fraktion gegenüber. Sie betrachten, da sie die realen Machtverhältnisse zutreffend einschätzen lernen, ihre Fraktionsführer als ihre eigentlichen Auftraggeber innerhalb des Parlaments."4

Von der naiven Demokratietheorie - alle Macht geht vom Volk aus, das seine Repräsentanten wählt, die wiederum den Volkswillen repräsentieren, die Regierung bestimmen und sie laufend kontrollieren - ist in den real existierenden Demokratien nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Die von einer verschwindend kleinen Minderheit in den politischen Parteien erkorenen Abgeordneten wachsen in eine Oligarchie hinein, die ihnen ihre Entscheidungen vorgibt und abweichendes Verhalten bestraft.

Wollen sie politisch überleben, haben sie nur die Wahl, sich der Oligarchie zu unterwerfen. Von dem Idealbild des souveränen Parlaments mit Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen folgend verantwortungsvoll handeln und freie Entscheidungen treffen, ist die Realität meilenweit entfernt. Der Bundestag ist längst zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen. Es ist seine Aufgabe, anderswo getroffene Entscheidungen abzunicken, vor allem Regierungsentscheidungen - so wie praktisch alle Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.

Die Parlamente der Welt sind reine Abnickvereine

Doch die Konstruktion der repräsentativen Parteiendemokratie lässt überhaupt nichts anderes zu: Würde das Parlament Beschlüsse mit der Regierungsmehrheit am Ende nicht abnicken, wäre der Zusammenbruch der Mehrheitsregierung die unvermeidliche Folge. Also nicken die Fraktionen der Regierung sie ab werden weiter alles abnicken, was man ihnen vor die Füße wirft. Das wird im Prinzip ewig so bleiben, und daran wird sich nie etwas ändern. Die Struktur der parlamentarischen Parteiendemokratie macht es unvermeidlich, dass die Parlamente in ihnen als nur Abnickvereine richtig funktionieren können.

Ihre Mitglieder und die Opposition dürfen allenfalls darüber ein bisschen diskutieren - aber schon die Mitglieder der Regierungsfraktionen können das nicht gar zu kritisch tun. Schließlich könnten sie auch dadurch den bloßen Schein der klaren Regierungsmehrheit trüben. Nur die Opposition kann reden, was sie mag. Sie hat sowieso keinen Einfluss auf die Entscheidungen und darf nur meckern. So oder so ist der Deutsche Bundestag ein Abnickverein - und das schon seit sehr vielen Jahren.

Die Angst der Politiker vor demokratischen Entscheidungen mit offenem Ausgang

Das ist keine Entwicklung, die sich erst in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat. Mitunter hält sich in der Bevölkerung noch die Illusion, wenigstens in den großen Plenardebatten werde in offener Kontroverse um die beste Lösung gerungen. Doch das ist nichts als ein Trugbild. Tatsächlich findet dort ein von vorne bis hinten durchgeplantes, durchorganisiertes und durchinszeniertes Kasperltheater statt, in dessen Drehbuch bis ins letzte Detail festgelegt ist, wer wann was und wie lange darf und auch, wer die Klappe zu halten hat.

Kontroversen sind ausschließlich zwischen den Fraktionen erwünscht. Und da geht es um den Nachweis, dass die eigene Fraktion Recht und die anderen Fraktionen Unrecht haben und schon immer hatten. Sonst gar nichts. Die Parlamentarier verhalten sich wie dressierte Hunde, denen man nur zurufen muss "heb’s Pfötchen", und schon heben sie gehorsam ihre Pfoten. Eine Minderheitsregierung mit ihren institutionellen Zwängen könnte eine einmalige Chance bieten, die heruntergekommene Debattenunkultur des Deutschen Bundestages wenigstens ein wenig aufzulockern.

Im Rest der demokratischen Welt sind Minderheitsregierungen übrigens weitgehend unproblematisch. Die im Grunde genommen undemokratische Aversion gegen sie, die in Deutschland die Diskussionen auf Bundesebene beherrscht, gibt es weder im In- noch im Ausland. Dänemark, Schweden und Norwegen wie auch Kanada haben ziemlich gute Erfahrungen damit gemacht. In mehreren ostdeutschen Bundesländern, aber auch in Berlin und im Saarland, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen hat das Modell wiederholt auf Zeit recht gut funktioniert.

Das stärkste Argument für eine Minderheitsregierung ist die Aufwertung des Bundestags. Viele der entscheidenden Fragen wurden unter der Mehrheitsherrschaft in der Regierung zwischen den Spitzen von CDU und SPD ausgekungelt, ehe die Einpeitscher das dann in den Fraktionen durchgedrückt haben; mancher Abgeordnete hat nur mit Groll zugestimmt. Wenn aber die Regierung immer wieder im Parlament um Mehrheiten werben muss, schafft das eine wesentlich attraktivere Debattenkultur.

Minderheitsregierungen sind auch gar nicht so ungewöhnlich, wie ihre Gegner gern behaupten. Rund ein Drittel aller parlamentarischen Regierungen sind Minderheitsregierungen. Das ist nur für die Regierungen und ihre Oberhäupter anstrengend und mühselig, sonst für kaum jemanden. Aber weshalb sollen die sich nicht einmal etwas anstrengen müssen?

Die Zeiten der kommoden Entscheidungsfindung von oben nach unten wären dann auf jeden Fall vorbei. Und genau davor fürchten sich die hierarchisch denkenden Entscheider in den Regierungen: vor demokratischen Entscheidungswegen von unten nach oben. Das sind sie nicht gewohnt. Sie kennen das nur umgekehrt. Deshalb sind sie so strikt dagegen.

Kein Zweifel, das Regieren wird etwas undurchsichtiger und auch komplizierter. Aber um wie viel wichtiger ist der Gewinn: Es muss aus strukturellen Gründen mehr diskutiert und debattiert werden - und zwar über Inhalte und Themen und nicht darüber, wer schon immer Recht hatte. Das ist objektiv unvermeidlich. Über manche Verirrungen, die in der Vergangenheit die politische Landschaft geprägt haben, wie etwa die Pkw-Maut oder manche Projekte der Öffentlich-Privaten Partnerschaft (ÖPP), würde wahrscheinlich gar nicht erst abgestimmt werden. Aber der politische Wettbewerb käme in Schwung und mit ihm das parlamentarische Leben. Das Kanzleramt würde nicht alles vorbestimmen, weil es gar nicht erst weiß, wie die Diskussionen im Parlament ausgehen werden.

Da eine Minderheitsregierung stets Mehrheiten zusammen mit anderen im Parlament vertretenen Fraktionen oder auch nur einzelnen Abgeordneten suchen müsste, würde eine Tolerierung der Minderheitsregierung durch Fraktionen, die - im Gegensatz zum Modell einer Koalition - nicht selbst an ihr beteiligt sind, meist im Vorfeld der Regierungsbildung mit den tolerierenden Fraktionen vereinbart, um eine gewisse Stabilität sicherzustellen.

Die tolerierenden Fraktionen werden automatisch ein Hybrid zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion. Auch wenn sie personell nicht an der Regierung beteiligt sind, besteht für sie eine gewisse Notwendigkeit, politische Vorhaben mit ihnen abzusprechen, um eine Zustimmung einer Mehrheit im Parlament zu sichern. So gewinnen die tolerierenden Fraktionen einen erheblichen Einfluss auf die Regierungspolitik. Das gesamte Parlament ist in die demokratischen Entscheidungsprozesse eingebunden.