Die drastischen Corona-Verbote bringen kaum etwas
Das geht sogar aus den Zahlen des Robert-Koch-Instituts hervor. Fachleute und Eltern kleiner Kinder mahnen andere Herangehensweisen an
Die Weltgesundheitsorganisation scheint keine belastbaren Belege dafür zu haben, dass drastische Einschränkungen wie Kontaktverbote und Schließungen von Läden und Freizeiteinrichtungen etwas gegen eine Viruspandemie bewirken. Fraglich ist, inwieweit diese Erkenntnisse aus der Vor-Corona-Zeit auch für das extrem ansteckende Corona-Virus gelten. Im aktuellen deutschen Fall sind Zweifel aber auch aufgrund von Daten der Fachbehörde für Virenbekämpfung angebracht.
So veröffentlichte das Robert-Koch-Institut (RKI) am 15. April in seinem "epidemiologischen Bulletin" die Entwicklung der geschätzten R-Werte der Corona-Pandemie in Deutschland. R steht für "Reproduktionszahl", es ist der Wert, mit dem sich das Virus ausbreitet. Wenn jeder infizierte Mensch nur einen weiteren ansteckt, ist R = 1. Vorrangiges Ziel ist, R dauerhaft unter 1 zu drücken. Dann sinkt die Zahl der Neuinfizierten. Da alle Infizierten entweder genesen oder sterben, sinkt bei R kleiner als 1 langfristig auch die Zahl aller Infizierten immer weiter.
Auf der vierten Seite des erwähnten Dokuments erklärt das RKI, wie es R berechnet, besser gesagt: schätzt. Erstaunlich ist die dann folgende Grafik, die den Verlauf der Corona-Reproduktion anzeigt. Sie beginnt Anfang März mit einem R-Wert von über 2, der sich innerhalb von fünf Tagen auf den Höhepunkt von über 3 entwickelt, dann aber abfällt, und schon am 21. März unter 1 sinkt. In der Folge schwankt der Wert knapp unter 1, gelegentlich auch darüber. Im "täglichen Lagebericht" vom 20. April hält das RKI fest: "Mit Datenstand 20.04.2020 wird die Reproduktionszahl auf R = 0,9 geschätzt."
Die Grafik im epidemiologischen Bulletin enthält auch drei Markierungen an den Tagen, an denen folgende Maßnahmen ergriffen wurden (siehe letzte Seite des sechsseitigen Dokuments): "9. März: Absage großer Veranstaltungen in verschiedenen Bundesländern (bei über 1.000 Teilnehmer). 16. März: Bund-Länder-Vereinbarung zu Leitlinien gegen die Ausbreitung des Coronavirus. 23. März: Bundesweit umfangreiches Kontaktverbot." Wenn R aber seinen Höhepunkt am 11. März hatte, am 16. März schon unter 2 gesunken war, und schon vor den drastischen Einschränkungen des 23. März unter 1 fiel, und seitdem nicht mehr abgenommen hat, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die verheerenden Grundrechtseinschränkungen nicht nennenswert zum Kampf gegen die Pandemie beitragen. Vielmehr hat es den Anschein, dass die freiwilligen Vorsichtsmaßnahmen in der Bevölkerung Wirkung gezeigt haben.
Auf Anfrage von Telepolis äußerte sich das RKI am Dienstag nur indirekt zum entstandenen Eindruck. Immerhin gibt es angesichts des Sinkens des R-Werts schon Mitte März zu: "Dies könnte bereits durch Verhaltensänderungen verursacht sein (Abstand, Hygiene, Isolierung, Absage von Großveranstaltungen usw.)." Die Behörde schreibt dann aber lapidar zur Entwicklung seit Mitte März: "Die steigenden Fallzahlen sind Anlass zur Verschärfung der Maßnahmen, die R dann weiter drücken. (…) Ohne die ergriffenen Maßnahmen wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem weiteren deutlichen Anstieg der Fälle gekommen." Das sagt nicht viel aus, denn auch bei R kleiner als 1 gibt es ja einen Anstieg der Fallzahlen.
Schon im Bulletin ist zu lesen:
Ein Grund dafür, dass der Rückgang der Neuerkrankungen trotz der gravierenden Maßnahmen nur relativ langsam passiert, ist, dass sich das Virus nach dem 18. März stärker auch unter älteren Menschen ausbreitet und wir zunehmend auch Ausbrüche in Pflegeheimen und Krankenhäusern beobachten. Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass in Deutschland die Testkapazitäten deutlich erhöht worden sind und durch stärkeres Testen ein insgesamt größerer Teil der Infektionen sichtbar wird. Dieser strukturelle Effekt und der dadurch bedingte Anstieg der Meldezahlen kann dazu führen, dass der aktuelle R-Wert das reale Geschehen etwas überschätzt.
RKI
Sprich: Abgesehen von Pflege- und Flüchtlingsheimen ist R auch seit dem 23. März gesunken, so die Vermutung. Allerdings ist das eine Mutmaßung, zudem wäre die Fehleinschätzung nur gering, wie das RKI selbst sagt. Das relativiert also nicht grundsätzlich die Aussagekraft der R-Werte und somit die Kritik an den zum Teil krassen Grundrechtseinschränkungen.
Soziale Aspekte bei der Virusbekämpfung
Das RKI ist offensichtlich auf die bloße Virenbekämpfung fokussiert, ohne Rücksicht auf soziale Härten. Das ist wohl auch seine Funktion. Mit welchen Opfern im sozialen und wirtschaftlichen Leben die Bevölkerung eine Senkung von R um 0,x bezahlt, kann ihm egal sein. Der Regierung ist zumindest der wirtschaftliche Aspekt wichtiger, deshalb gibt es da nun erste Lockerungen. Doch die Stimmen, die die sozialen Härten kritisieren, mehren sich auch im bürgerlichen Lager und in der Fachwelt.
Schon am 6. April veröffentlichte "Socium", das Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, ein Thesenpapier zur Corona-Pandemie. Erstellt hat es ein illustrer Zusammenschluss von sechs Fachleuten aus vier Städten, die in verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems Erfahrung haben: zwei Professoren aus Bremen und Köln, die mal dem Sachverständigenrat des Gesundheitsministeriums angehört haben; ein weiterer Professor aus Köln, der mal den Expertenbeirat des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses von KassenärztInnenverbänden, Krankenkassen und Krankenhäusern leitete; ein Krankenkassenvorstand; ein "Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen" und eine Pflegemanagerin und ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit. Sie legen Vorschläge vor, die auch die soziale Dimension berücksichtigen und die derzeitigen Maßnahmen als einseitig kritisieren.
"Da eine Epidemie nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar", schreibt die Gruppe gleich zu Beginn. "Eindimensionale Einzelinterventionen (z.B. gesetzliche Vorschriften)" könnten alleine keinen Erfolg haben.
Nach der Kritik an der Datenbasis zur Verbreitung des Virus, die "nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen" könne, werden in dem 20-seitigen Thesenpapier zum einen alternative Präventionsmaßnahmen vorgeschlagen und zum anderen "gesellschaftliche Aspekte" angemahnt.
In Sachen Prävention lautet die These:
Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z.B. social distancing) sind theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer "zweiten Welle") und sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen Epidemien (z.B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen.
Thesenpapier zur Corona-Pandemie
Damit beziehen sich die AutorInnen auf die Erkenntnisse, dass Covid vor allem nicht nur bei Menschen in hohem Alter oder mit Vorerkrankungen besonders gefährlich ist, sondern auch Menschen in bestimmten Institutionen wie Krankenhäusern und Pflegeheimen (also auch das Personal) besonders bedroht und zudem unabhängig von diesen drei Faktoren in bestimmten Gegenden gehäuft aufgetreten ist (lokales Cluster).
Zum Thema "gesellschaftliche Aspekte" postulieren die AutorInnen:
Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie (partieller shutdown) kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden." Es ist beruhigend, dass Fachleute aus dem Gesundheitssektor auf die Verstärkung sozialer Ungleichheit hinweisen. Zudem halten sie fest: "Erneut wird die Alternativlosigkeit des exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt (z.B. Reduktion der parlamentarischen Kontrolle).
Thesenpapier zur Corona-Pandemie
Am Dienstag wollte das Team nicht auf Fragen zum Thesenpapier antworten, da es an einer zweiten Version arbeite. Die anhaltende Einschränkung von Grundrechten wird auch schon von hochrangigen Staatsrechtlern kritisiert.
Eingesperrte Kinder, uneingeschränkte Autos
Nach wie vor besonders beeinträchtigt von den herrschenden Verboten sind Kinder. 44 Wissenschaftlerinnen, fast alle davon Professorinnen, wenden sich in einer Stellungnahme gegen die Vorschläge der Akademie der Wissenschaften Leopoldina für den Bildungsbereich, weil darin die Bedürfnisse der Kinder im Alter zwischen einem und vier Jahren nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Die Frankfurter Psychologie-Professorin Mareike Kunter hielt dazu im Interview mit der Zeit fest: "Kindern werden gerade ohne Bedenken pädagogische Angebote entzogen, die wir bisher für so unerlässlich für ihre Entwicklung hielten."
Der Sozialethiker Peter Dabrock, Theologie-Professor an der Uni Erlangen-Nürnberg und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, nannte das im Deutschlandfunk Kultur "Wahnsinn" und einen "schweren Grundrechtseingriff". Die Kinder sollen nach derzeitigem Stand bis in den Sommer zu Hause bleiben. Das sei für sie "eine halbe Ewigkeit", meint Dabrock. Es geht dabei wohlgemerkt auch um Kinder, die normalerweise nicht in schwierigen Verhältnissen leben.
Zwei Berliner Eltern fordern in einer Petition alternative Betreuungskonzepte für Kinder. Eine Maßnahme, die zumindest langfristig einen positiven Effekt auf die Widerstandsfähigkeit gegen ein Virus wie Corona hätte, wäre ein weitgehendes Verbot des Ausstoßes von gesundheitsschädlichen Abgasen. Für Italien wurde bereits eine auffällige Übereinstimmung von hoher Feinstaubbelastung und hoher Corona-Infektionsrate festgestellt, in den USA ebenfalls, sogar konkret auf schwere Krankheitsverläufe bezogen.
"Luftschadstoffe gepaart mit windstillen, austauscharmen Wetterlagen, bei denen sich der Smog lange in Bodennähe hält", stehen, gerade wenn es sich um das aus dem Dieselskandal bekannte Stickstoffdioxid handelt, auch laut einem Geografen von der Uni Halle-Wittenberg in einem auffälligen Zusammenhang mit den schlimmsten europäischen Schauplätzen der Corona-Pandemie, wie der Deutschlandfunk am Dienstag berichtete. Demzufolge hat ein weiteres italienisches Forschungsteam in Sachen Corona Erkenntnisse zur Beeinträchtigung der körpereigenen Abwehr durch Feinstaub gewonnen.
Von Einschränkungen für das Verbrennen fossiler Rohstoffe ist hingegen selten die Rede, schon gar nicht auf Regierungsebene. Immerhin: Am 1. April forderten das angeblich 30 Menschen bei einer Aktion in Gießen.