Die entwickelten Demokratien der Welt stehen am Abgrund

Seite 3: Aus Politikverdrossenheit ist Volkszorn geworden

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Es gehört heute zum guten Ton, über "die Politiker" und "die Politik" zu schimpfen und beiden Versagen auf ganzer Linie vorzuwerfen. Nicht nur an Stammtischen. Übrigens keine spezifisch deutsche Form der Folklore. In den meisten entwickelten Demokratien klingt die Klage ziemlich ähnlich.

Deshalb hat es keinen Zweck, in den allgemeinen Klagegesang über Politiker und ihre Unfähigkeit einzustimmen. Das geht am Kern des Problems vorbei. Denn es fragt sich doch, welche tieferen Ursachen die verbreitete Unzufriedenheit mit einem eigentlich doch so idealen und unübertrefflichen System und seinen führenden Repräsentanten hat. Schließlich sind die Bevölkerungen der westlichen Demokratien nicht einfach nur schlecht gelaunt.

Wie konnte es nur dazu kommen, dass der Philosoph Jürgen Habermas - ein Meister der distinguierten Diktion und Verfasser von Büchern, die kaum jemand versteht - fast wie am deutschen Biertisch proletet? "Ich beschimpfe die politischen Parteien. Unsere Politiker sind längst unfähig, überhaupt etwas anderes zu wollen, als das nächste Mal gewählt zu werden, überhaupt irgendwelche Inhalte zu haben, irgendwelche Überzeugungen."

Um über das missmutige Geschimpfe auf Biertischniveau hinauszugelangen, bedarf es einer sorgfältigen Analyse: Wie konnte es dazu kommen, dass die Völker nahezu aller etablierten Demokratien mit der "Volksherrschaft" in ihren Ländern so gründlich unzufrieden sind? Welche Entwicklungen haben dazu geführt? Warum glauben am Ende die Völker der Welt nicht mehr daran, dass sie selbst es sind, die über sich herrschen? Warum fühlen sie sich von fremden Interessen beherrscht?

Vor einigen Jahren noch konnten die Politiker den Unmut der Bevölkerung mit dem Totschlagargument abbügeln, das sei "Politikverdrossenheit" und deshalb strikt abzulehnen. Doch der Begriff der Politikverdrossenheit führt in die Irre, suggeriert er doch, die Verdrossenheit der Leute sei die Quelle des Problems. "Die öffentliche Geringschätzung der Politik untergräbt die Fundamente der Demokratie", sprach 2004 die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann. Das Gegenteil ist wahr: Die Politik hat das Vertrauen der Bevölkerung untergraben und missachtet. Verdrossenheit ist keine Stimmungsschwankung der Bevölkerung. Es ist die Reaktion auf die Missachtung des allgemeinen Wohls durch die gewählten Repräsentanten und ihre Politik.

Oft halfen sich die Regierungen dann noch mit ein bisschen Propaganda gegen Politikverdrossenheit, die darauf zielte, die frohe Botschaft vom fabelhaften Funktionieren der Demokratie "‘rüberzubringen" und das Problem durch Kommunikation von oben nach unten aus der Welt zu schaffen. Auch dies ein kreuzabsurdes Paradigma: Die Herrschenden bringen das einfältige Volk mit Hilfe von Propaganda und allerlei PR-Kunststückchen wieder dazu, den Glauben an seine eigene Herrschaft zu bewahren. Geht’s noch bizarrer?

Doch heute ist selbst das nicht mehr möglich; denn die Fundamentalkrise des politischen Systems ist weiter vorangeschritten. Die Bürger würden antworten: "Wir sind politikverdrossen, weil die Politiker aller politischen Parteien uns dafür tausende von guten Gründen liefern. Nicht die Verdrossenheit ist das Problem, sondern eine Politik, die nur Verdruss bereitet."

Es ist kein Zufall, dass die demokratischen Systeme in aller Welt ein politisches Personal rekrutieren, das die Bevölkerungen dieser Länder zur Verzweiflung treibt. Tatsächlich gleichen sich die Ausdrucksformen der Politikverachtung in allen Ländern. Die Völker aller demokratischen Länder verachten ihre Politiker. Sie haben schlechte Erfahrungen mit ihnen und trauen ihnen - parteienübergreifend - nicht mehr über den Weg. Kaum noch jemand glaubt mehr daran, dass Politiker die Interessen des Volks wirklich vertreten.

Politik ohne Gemeinwohlperspektive

Die Politik hat mit dem Gemeinwohl nichts mehr zu tun. Vielmehr sind alle davon überzeugt, dass Politiker ihr eigenes Süppchen kochen. Politische Beobachter gehen heute davon aus, dass sich in den etablierten Demokratien eine vom Volk weitgehend losgelöste Kaste von Politikern gebildet hat ("die politische Klasse" ), die in einer eigenen Welt betriebsamer Geschäftigkeit und hochtrabender Herablassung lebt und die sich immer unverhüllter gegen das Volk wendet, es jedoch auf gar keinen Fall repräsentiert.

Es mag durchaus sein, dass diese Kaste sich nicht als solche empfindet. Sie hat dennoch deutliche Züge einer Kaste und sie wird vor allem von der breiten Bevölkerung und anderen politischen Beobachtern als solche wahrgenommen.

Die politische Kaste in entwickelten Demokratien unterscheidet sich markant von den Kasten im hinduistischen Indien, die ein geschlossenes System darstellen, aus dem es so gut wie kein Entrinnen gibt. Die politische Kaste der Demokratien ist nach oben und unten offen. Man wird nicht in sie hineingeboren, der Zugang ist einigermaßen offen, und man hat keine Verweilgarantie, wenn man erst einmal in sie aufgestiegen ist.

Aber die wirtschaftlichen, sozialen und natürlich auch politischen Interessen ihrer Angehörigen sind weitgehend identisch und unterscheiden sich deutlich von denen der restlichen Bevölkerung. Es hat sich eine Schicht der politischen Herrschaft herausgebildet, die in vielerlei Hinsicht wieder den herrschenden Schichten vordemokratischer Systeme ähnelt.

Waren die Demokratien in ihrer Pionierzeit noch politische Systeme der Gleichberechtigten, so hat sich im Verlauf vieler Jahrzehnte in allen repräsentativen Demokratien eine dauerhafte Herrschaft der politischen Kaste als institutionalisierte Form von Über- und Unterordnung etabliert.

Die gewissermaßen urdemokratische Gesellschaft der Gleichen und vor allem Gleichberechtigten, die miteinander in einer horizontalen Sozialbeziehung standen, mutierte im Verlauf vieler Jahrzehnte zur Gesellschaft der Ungleichen und vor allem Ungleichberechtigten, die in einer vertikalen Sozialbeziehung zueinander stehen.

Das grassierende Misstrauen großer Teile der Bevölkerung kommt nicht von ungefähr; denn diese Kaste hat sich in etablierten demokratischen Systemen komfortabel eingerichtet. Nur sind die sozialen Prozesse, durch die sie ihre politische Herrschaft errichten und verfestigen konnte, wesentlich diffiziler als die relativ grobschlächtigen Prozesse, durch die Herrschaft in vordemokratischen System entstand und bestand.

Die in praktisch allen etablierten Demokratien herrschende und sich kontinuierlich weiter ausbreitende Politikverachtung kann nur Gründe haben, die im System der etablierten Demokratien selbst ruhen. Das System "repräsentative Demokratie" selbst hat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und wenn sich die Verantwortungsträger weiter gegen die Erkenntnis wehren, dass der Niedergang der Herrschaftsform "Demokratie" bereits in vollem Gange ist, dann wird das Ende der Demokratie unvermeidlich sein und gewissermaßen über Nacht über alle hineinbrechen.

Götterdämmerung der Demokratie

Die griechischen Philosophen der Antike unterschieden zwei Erscheinungsformen der Demokratie: die Timokratie und die Ochlokratie. Einfach gesprochen war die Timokratie die Herrschaft der Guten und die Ochlokratie die Herrschaft der Schlechten. Und die Timokratie galt als die gutartige Form der Volksherrschaft, die Ochlokratie als ihre Entartung. Aber es war dennoch auch eine Form der Demokratie, eben die Demokratie des Niedergangs.

Hinter der Unterscheidung stand ein zirkuläres Verständnis der Weltläufe: Jede Gesellschaftsform und jede Organisationsform hat eine Zeit der Blüte und eine Zeit des Niedergangs. Der Blütezeit folgt die Zeit des Niedergangs und des Verfalls. Das ist nicht die Vorstellung: Mal läuft alles gut, mal läuft es nicht so gut. Vielmehr die Erkenntnis, dass den Zeiten der Hochblüte zwangsläufig und unvermeidlich die Zeit des Niedergangs folgt.

Das Unterscheidungsmerkmal war die Orientierung des Systems am Gemeinwohl. Dahinter stand und steht die Vorstellung, dass die Demokratie anfangs reibungslos und zum Nutzen aller funktioniert und sich im Verlauf vieler Jahre die Strukturen so sehr verfestigen und verhärten, dass am Ende eine kleine Gruppe von Herrschenden sich nur noch um die eigenen Interessen kümmert und das Gemeinwohl vernachlässigt.

So sah der griechische Historiker Polybios (200-120 vor Christus) die Demokratie als höchste Form der Herrschaft und die Ochlokratie als ihre Zerfallsform an, in der Eigennutz und Habsucht der schlechten Herrscher an die Stelle der Sorge um das Gemeinwohl getreten sind. Er bezeichnete als "Ochlokratie" - Pöbelherrschaft - die negative Variante der Volksherrschaft und als positive Variante die "Demokratie". In der antiken Staatsphilosophie drückte sich in dem Begriff allerdings eine hochmütige Herablassung der Besitzenden über die untersten und besitzlosen Klassen aus.

Grundsätzlich herrschte in der antiken Staatstheorie die Vorstellung, dass jede am Gemeinwohl orientierte Herrschaftsform ein entartetes, nur an den Interessen der Herrschenden orientiertes Gegenstück habe: Diese Analogie gilt heute mehr denn je. Und wir sind Zeitzeugen einer Entartung der modernen Demokratie, die sich immer stärker an den Interessen der politisch Herrschenden und immer weniger an den Interessen des beherrschten - und angeblich ja herrschenden - Volks orientiert.

Der Wandel von der am Gemeinwohl orientierten zur vorwiegend an Herrschaftsinteressen orientierten Politik ist ein schleichender Prozess, der für alle demokratischen Systeme charakteristisch ist und seinen Höhepunkt noch längst nicht erreicht hat. Er wird sich in künftigen Jahren noch weiter verschärfen. Das ist der Grund, weshalb große Teile der Bevölkerung aus allen Schichten sich zunehmend von der Politik abwenden: Sie empfinden deutlich, dass die herrschenden Politiker und die herrschende Politik nicht länger Diener des Gemeinwohls sind.

Vorerst ist dies noch ein sehr diffuser Unmut, der sich auf "die Politiker" und "die Politik" fokussiert. Doch das sind nur Metaphern für den tiefer gehenden Niedergang der Demokratie, den zu erkennen der alte Kinderglaube an die unendlich vielen Vorzüge der Demokratie einstweilen noch verhindert. Dass die Demokratie in eine Phase eingetreten ist, in der sich ochlokratische Oligarchien bilden, die andere Interessen als die der allgemeinen Bevölkerung vertreten, mögen sich viele noch nicht eingestehen. Es würde die Grundlagen unseres politischen Systems erschüttern; denn es liefe auf die Bankrotterklärung für das demokratische System hinaus.

Dabei ist die grassierende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Politikern ja eigentlich viel absurder. Als ob urplötzlich - wie aus dem Nichts - sich in einem eigentlich ja hervorragend funktionierenden, idealen Gemeinwesen lauter politische Taugenichtse breit machen.

Natürlich hat es mit dem System zu tun, wenn aus ihm ein politisches Personal hervorgeht, das bei der breiten Bevölkerung nichts als Unzufriedenheit, Unmut, nackten Zorn und kaum noch zähmbare Wut auslöst. Und weil das eine bittere Konsequenz des Systems ist, ist es auch weltfremd anzunehmen, man brauche nur die eine oder andere Wahl abzuwarten, und schon werde wieder eine neue Generation von Politikern das Heft in die Hand nehmen. Genau dies hoffen viele Leute schon seit Jahrzehnten vergebens. Doch das Elend hat kein Ende.

Es kommt auch nicht mehr auf die "richtige" Partei an. Die Parteien gleichen einander und vertreten ihre eigenen Interessen, die sich deutlich von denen der Allgemeinheit unterscheiden und im Wesentlichen darin bestehen, ihre eigene Herrschaft und die Versorgung ihres politischen Personals dauerhaft zu garantieren.

Die heutigen Ochlokratien sind der vorläufige Endstand von Verfestigungs- und Verkrustungsprozessen, die aus der besonderen Form der Rekrutierung des politischen Personals in modernen Demokratien resultieren. Für Soziologen sind solche Verkrustungen gar nicht so rätselhaft. Für sie ist auch klar, dass solche Prozesse nur schwer oder auch gar nicht umzukehren sind. Man wird sich darauf einrichten müssen, dass die Verhältnisse in den ochlokratischen Demokratien nicht besser werden können. Der Niedergang hat seine eigene Dynamik - und die kennt nur eine Richtung: abwärts. Es besteht also wenig Hoffnung auf bessere Zeiten.

Teil 2: Die Demokratie frisst ihre Kinder.

Teil 2 wird sich mit dem Niedergang der repräsentativen Demokratie beschäftigen und beschreiben, dass sich die Repräsentanten in den entwickelten demokratischen Systemen immer weiter von denen entfernt haben, sie repräsentieren sollten und vielleicht sogar einmal repräsentiert haben.