Die hohe Kunst der Bilanzfälschung

Seite 3: "Wir glauben, dass jeder gesetzgebende Ansatz Unsicherheit schafft"

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Der Brief, den das damalige Verwaltungsratsmitglied der New York Times, das Verwaltungsratsmitglied von Chevron und der Chairman der Financial Accounting Foundation, Robert E. Denham, dem amerikanischen Präsidenten schrieb, liegt als Faksimile vor. Er ist eines der wenigen Dokumente, die dem Außenstehenden zumindest ein bisschen verdeutlichen können, auf welchem Wege und mit welcher politischen Bedeutung die scheinbar nebensächliche Frage der zulässigen Rechnungslegung behandelt wird.

Sollten sich nämlich deren Standards ändern – und dies könnten auf dem G20-Gipfel einige Staaten fordern – wäre der American Way der Bilanzkosmetik ein Weg in die Pleite für einen Großteil der Unternehmen, die ihren Börsenwert nur deshalb halten und verbessern können, weil ihre eigene Hausagentur, das FASB, deren Briefkopf das Schreiben trägt, an den alten Berechnungsmethoden festhält. Auch die Ausgabe von überbewerteten Anleihen würde ins Stocken geraten, wenn nach der Finanzkrise Regierungen auf die Idee kämen, internationale Bilanzierungsvorschriften zu verabschieden, die es erschweren, nicht vorhandene Werte und Gewinne auszuweisen. Und hier ist das Wunderwerk:

Sehr geehrter Herr Präsident,

im Namen der Financial Accounting Foundation (FAF), der unabhängigen und vom Privatsektor finanzierten Organisation, die die Aufsicht über das US Financial Accounting Standards Board (FASB) verantwortet, schreibe ich [Anm. des Autors: Robert E. Denham!] an Sie in Ihrer Funktion als Gastgeber der Regierungschefs der G20-Staaten am 15. November (Anm.: 2008) in Washington. Wir ersuchen das Sekretariat höflich, dieses Schreiben an alle Teilnehmer weiterzuleiten.

Wir haben erfahren, dass im Rahmen einer verständlichen Analyse der globalen Finanzkrise auch aktuelle Fragen der internationalen Standards zur Bilanzierung auf dem Treffen zur Sprache kommen. Die FAF glaubt, dass die komplexe Aufgabe des Setzens von Standards für die Bilanzerstellung am besten von jenen Experten durchgeführt wird, die auch das FASB und das International Accounting Standards Board (IASB) miteinbeziehen.

Wir glauben, dass die Integrität und Unabhängigkeit des Prozesses der Standardisierung von Bilanzen von entscheidender Bedeutung für Investoren weltweit ist. Wir unterstützen die gemeinsame Verpflichtung des FASB und des IASB, gemeinsam eine fundierte Antwort auf die die Bilanzierung betreffenden Sachverhalte zu finden, insofern diese durch die gegenwärtige Finanzkrise berührt sind. Hohe Standards der Bilanzierung werden am besten bewahrt, wenn der standardsetzende Prozess unabhängig und frei von politischer Einflussnahme abläuft. Wir sind sehr besorgt über jüngste Bemühungen in den Vereinigten Staaten und anderswo, auf erkannte Mängel in manchen Bilanzierungsstandards mit politischen Lösungen zu liebäugeln.

Wir glauben, dass jeder gesetzgebende Ansatz, der es erlauben würde, Bilanzierungsstandards politischen Prozessen zu unterwerfen, Unsicherheit schafft, das Vertrauen der Investoren unterminiert und auf gefährliche Art die Vertrauenswürdigkeit des Finanzberichtswesens zu einem Zeitpunkt in Frage stellt, wo die Kapitalmärkte unter großem Druck stehen und mehr Transparenz benötigen.

Auf das IASB wurde politischer Druck ausgeübt, dringend seine Standards zu überprüfen und zu überarbeiten, speziell im Bezug auf die Standards der "mark-to-market" (fair value)-Betrachtung. Die IASB ist deshalb bereits von ihren normalen Pflichten abgewichen, um auf diesen Druck hin so eine Revision durchzuführen und wurde von der Europäischen Kommission aufgefordert, weiter die Standards für verschiedene Finanzinstrumente zu überprüfen und ihre Überlegungen dazu rechtzeitig vor den Finanzberichten zum Jahresende abzuschließen.

Wir ermutigen die G-20, einen unabhängigen und soliden Standard, frei von politischer Einflussnahme zu unterstützen. Diese Unterstützung wird mehr zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Finanzmärkte beitragen als gesetzliche Bilanzierungsvorschriften, die die Verlässlichkeit und Konsistenz der für Investoren verfügbaren Informationen verringern. Wenn Sonderinteressen dazu in der Lage sind, die Urteile von Bilanzspezialisten zu übergehen, die aus einem offenen und transparenten Prüfprozess entstanden, werden Investoren verständlicherweise besorgt über die verminderte Qualität und Verlässlichkeit der ihnen verfügbaren Finanzinformation sein.

Wir von der FAF sehen uns in der vollen Verpflichtung, alle Bestrebungen zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Finanzmärkte zu unterstützen. Indem wir die besonderen finanztechnischen Herausforderungen frontal angehen, ermahnen wir die G-20-Nationen, auch weiterhin einen unabhängigen Prozess mit offenen Rechtsstandards für US- und internationale Bilanzierung zu unterstützen.

Sincerely
Robert E. Denham
Chairman, Financial Accounting Foundation

Nicht nur dem Fachmann offenbaren sich in diesem Brief doch völlig ungewohnte Machtverhältnisse: Bereits im dritten Satz weist Denham das Sekretariat des Präsidenten an, diesen Brief an die G-20-Teilnehmer weiter zu leiten. Würde Bush dies verweigern, hieße das, dass der Brief von der FAF selbst versandt würde – eine unverschämte Vorgehensweise. Und eine massive Drohung. Gleichzeitig wurde mit diesem Brief Bush jede Möglichkeit genommen, auf diesem Gipfel irgendwelche übernationalen Antworten auf die Finanzkrise zu finden.

Dass Bernanke weiterregieren würde, war bereits vor Obamas Wahl sicher

Der Brief von Denham degradiert Bush bei seinem letzten Gipfeltreffen zum Hampelmann seiner Finanziers, ja, seines eigenen Finanzministers Paulson und seines Notenbankchefs Ben Bernanke. Dass Letzterer auch unter Barack Obama weiterregieren würde, war offensichtlich am 13. November 2009 bereits bekannt. Paulsons Abschiedsgeschenk an die Freunde von der FAF bestand in Finanzhilfen für die US-Finanzindustrie in Höhe von 700 Milliarden Dollar.

Mit einem Privatvermögen von geschätzten 700 Millionen Dollar, das er u. a. auch als Vorstandsvorsitzender von Goldman Sachs aufbauen konnte, spielt er in der gleichen Liga wie Robert E. Denham und John J. Brennan. Alle drei gehören dem intimsten Insiderzirkel der US- Finanzindustrie an. Eines verbindet sie auch noch: Sie haben alle drei ihr Studium in Harvard absolviert. Wie George W. Bush. Auch Ben Bernanke, der Zentralbankchef studierte vier Jahre in Harvard. 1991 promovierte an der Harvard Law School auch noch ein Mann, dessen neuer Job offenbar bereits am 13. November 2008 feststand: Barack Obama.

Die Intervention auf dem G-20-Gipfel verlief äußerst erfolgreich. Die lame duck, die Marionette George W. Bush, veröffentlichte am 15. November 2008 im Namen der G-20-Nationen eine nichtssagende Erklärung. Als "mittelfristiges" Ziel wird darin auf Seite 4 vermerkt: "Die wichtigsten internationalen Körperschaften für Bilanzstandards sollen intensiv an dem Ziel arbeiten, einen einzigen, hochwertigen und globalen Standard zu schaffen."

Diese "wichtigsten Körperschaften" brauchte Bush nicht beim Namen zu nennen. Neben dem FASB gibt es noch das IASB, das die international anerkannten IAS-Bilanzstandards vorgibt. Das FASB und das IASB haben keine Pendants dieser Größenordnung in Deutschland, Japan oder Frankreich. Auch das in London ansässige IASB wird – wie sein Vorbild FASB – von einer Stiftung getragen, der IASCF. Diese wurde am 6. Februar 2001 ausgerechnet im US-Steuerparadies Delaware gegründet.

Dies ist insofern überraschend, weil sich die Stiftung selbst als not-for-profit cooperation bezeichnet, sie also durch den Sitz in Delaware scheinbar keinen ökonomischen Vorteil hat. Dieser Sitz könnte aber einen rein praktischen Grund haben, nämlich Kundennähe. Delaware, das sich selbst als First State bezeichnet, da es 1787 als erster Staat die Verfassung der USA ratifizierte, weist einige statistische Besonderheiten auf.

Die 853.476 Einwohner, die sich hauptsächlich in Geflügelzucht und Fischerei betätigen, beherbergen nach eigenen Angaben "mehr als 850.000 Geschäftseinheiten". Diese, so erklärt die Delaware-Agentur, hätten sich nach sorgfältiger Erwägung dafür entschieden, in Delaware ihre "rechtliche Heimat" zu wählen. Man könnte auch sagen: Delaware ist innerhalb der USA ein Ort, wo sich jene niederlassen, denen die USA insofern zu unfrei und zu kommunistisch sind, als der Staat Steuern fordert.

Sie müssen sich aber gar nicht niederlassen: Für die Ansiedlung reicht laut dem Delaware General Cooperation Law ein Postkasten. Man möchte meinen, ein Postfach sei für große US-Unternehmen etwas wenig, aber die Unternehmensabteilung der Regierung von Delaware verkündet, dass trotzdem mehr als 50 Prozent aller publizitätspflichtigen US-Gesellschaften und gar 63 Prozent aller Fortune-500-Unternehmen ihren Sitz in Delaware hätten. Beispiele? General Motors, Coca-Cola, Walt Disney, McDonald's, Google. Reicht das? Man spricht deshalb auch von einem Delaware-Effekt, wenn es um die Bilanzierung von großen internationalen Gesellschaften geht.

Die IASCF, die aus "Spenden" getragene Stiftung mit der Postanschrift 1209 Orange Street, Wilmington, New Castle County, Delaware 19801, USA, die das IASB finanziert – und damit die internationalen IAS-Bilanzstandards setzt – hatte 2008, zum Zeitpunkt des Briefes an Bush, weder Telefon noch Fax noch E-Mail.

Um zu verstehen, was an Delaware so unglaublich attraktiv ist, kann man einfach auf der Website von Delaware unter "Services" die Option Pay Taxes wählen. Zu deren Berechnung reicht es, einen "Annual Report" bis zum 1. März des Folgejahres online einzureichen. Für diesen gilt keiner der aufwendigen IAS- oder SOA-Standards, auch kein US-GAAP. Der Annual Report kann eine einfache Überschussrechnung sein. Die voraussichtliche Steuerschuld erfordert weder prophetische Fähigkeiten noch Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Anwälte. Die Steuer richtet sich nämlich gar nicht nach den Kennzahlen des Unternehmens, etwa seinen Gewinnen oder Verlusten, sondern nur nach der Anzahl der ausgegebenen Aktien. Eine Gesellschaft, die unter 5.000 Aktien im Umlauf hat, bezahlt den Mindeststeuersatz von 75 Dollar – jährlich! Zum Vergleich: In Österreich beträgt der Mindestsatz eines Unternehmens für Körperschaftssteuer 1.800 Euro im Jahr.

Steuerhöchstsatz für Milliardenkonzerne: 180.000 Dollar im Jahr

Nun ist für Coca-Cola oder Warren Buffetts Lieblingsfirma McDonald's nicht der Mindeststeuersatz in Delaware so interessant, sondern doch mehr der Höchstsatz: Er beträgt exakt 180 000 Dollar. Dafür sollte man schon ein paar Aktien im Umlauf haben, denn in der Beispielrechnung der Delaware Agency aus dem Jahre 2009 kann man einfach je 1 Million Aktien mit 350 Dollar multiplizieren und kommt dann auch auf den Steuersatz. Wenn man also gerne den Höchstsatz bezahlen möchte, sollte man darauf achten, mindestens 514.285.714 Aktien unters Volk zu bringen, also bei einem Kurs von 10 Dollar je Aktie einen Börsenwert von 5 Milliarden Dollar zu haben. In Österreich zahlen 100 Kleinunternehmen mit einem Umsatz von je 100.000 Euro pro Jahr die gleiche Menge an Körperschaftssteuer.

Die Ansiedelung der Stiftung für Internationale Bilanzstandards in Delaware könnte ein Hinweis darauf sein, warum Delaware in der Liste der Steueroasen, die von der OECD verbreitet wird, bis heute nicht enthalten ist: Delaware ist keine Oase in einer Wüste, sondern buchstäblich ein Regenwald am Südpol.

Wie ist die IASCF-Stiftung, die die internationalen Bilanzierungsstandards liefert, organisiert, und wer waren 2009 ihre Vertreter? Ein Board of Trustees stellt – wie bei der FAF – die Finanzierung durch "Spenden" und "Erträge aus Veröffentlichungen" sicher. Neben einigen in Ehren emeritierten Granden sitzen im Board of Trustees der Stiftung eben die Chefs jener Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die fast ausschließlich von den US-GAAP-Vorschriften und dem Wahnsinnsaufwand durch den SOA am Leben gehalten werden:

  • Philip A. Laskawy, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender von Ernst & Young
  • Samuel DiPiazza, Vorstandsvorsitzender von PricewaterhouseCoopers
  • Marvin Cheung, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender von KPMG Hong Kong

Auf der Website wirbt gleich ganz oben ein Großspender: Deloitte, ein weiterer der Top Ten der internationalen Wirtschaftsprüfer. Deloitte unterhält der Einfachheit halber auch gleich die Website.

Dazu kamen 2009 der ehemalige Vorstandsvorsitzende der US-Finanzproduktüberwachung NASD, Robert Glauber, und der Vorstandsvorsitzende des Asset Management Anbieters TIAA-Creff, David Sidwell, vormals CFO von Morgan Stanley. Weiterhin im Board of Trustees: Antonio Vegezzi, Schweiz, Präsident einer Firma mit dem aussagekräftigen Namen Capital International SA. Eine Firma dieses Namens ist aber in der Schweiz auch nach Recherchen nicht mehr auffindbar. In einem Dokument von 2008 wird sie als Teil der The Capital Group Companies in wirren Verschachtelungen erwähnt. Die Spur von Antonio Vegezzi führt ins Tessin, wo er seit einigen Semestern als einfacher Dozent der University of Lugano geführt wird. Sein Fach: Analisi di bilancio.

Fast alle Trustees wurden im Jahre 2005 ernannt. Ihre Amtszeit reichte bis 2011/2012. Nicht ein Einziger wurde in Zusammenhang mit der Weltfinanzkrise gebracht. Zusammen mit den ehemaligen Vorständen von Salomon und Goldman Sachs und dem Anwalt von Warren Buffett sind diese Persönlichkeiten nun jene, die bei dem G20-Treffen mit der Hausaufgabe betraut wurden, weltweit einheitliche Bilanzierungsregeln zu erarbeiten und vorzulegen.

Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, wenn man nach dem Blick auf das FASB und das IASB feststellt: Es ist völlig ausgeschlossen, dass deren Vertreter ein anderes Interesse verfolgen, als John J. Brennan, der Chairman der FAF und Vorstandsvorsitzende von Vanguard, als oberstes Credo für seine Kunden verkündete: "Unsere Mission ist es, die finanziellen Ziele unserer Kunden dadurch zu erreichen, dass wir weltweit der hochwertigste Anbieter von Investmentprodukten und -Diensten sind." Man kann dann einfach statt Investmentprodukte "Bilanzierungsstandards" einsetzen – und dabei bitte die "Dienste" nicht vergessen!