Die in die Pleite getriebenen Kreativen

Seite 2: Niemand braucht Kunst, alle brauchen Kunst

"Nach einem Jahr Corona geht es mir beschissen," sagt die Schriftstellerin und Drehbuchautorin Tina S.:

"Das Schlimmste ist, dass die Pandemie meine kreative Basis zersetzt hat. Ich habe mich mit dem Anti-Kreativitäts-Virus infiziert. Ich zwang mich an den Schreibtisch, zwang mich dazu, irgendwie produktiv zu sein, aber es kam kaum etwas Brauchbares dabei raus. Statt Lust am Erfinden und neuen Ideen schlich sich die Angst in mich ein, die Angst vor Corona, die Angst um die Gesundheit meiner Familie, die Angst, mich selbst zu infizieren, und zunehmend dann auch die Angst um meine berufliche Existenz. Ich hatte das Gefühl, in einem dunklen Hohlraum geraten zu sein, und es verschlug mir die Sprache."

Die Medien quollen schon im letzten Frühjahr über mit Tipps, wie man die Lockdown-Zeit konstruktiv und kreativ nutzen könne. Stolz präsentierten mehr oder weniger künstlerisch begabte Zeitgenossen öffentlich ihre Corona-Tagebücher oder Shutdown-Fotos.

Dass diese kreativen Übungen und Verschönerungen des Homeoffice-Arbeitsplatzes nichts mit Kunst als Beruf zu tun haben, übersahen sehr viele Mitmenschen in ihrem Selbstverwirklichungs-Eifer, und sie wurden nicht müde, den Profis zu empfehlen, sie sollten doch die viele freie Zeit ganz für sich nutzen, um sich jetzt ungehemmt zu entfalten und neue Werke ganz ohne Kompromisse zu schaffen.

Manchen ist es trotz aller Depression sogar gelungen. Unter anderen haben Streetart-Künstler weltweit großartige neue Arbeiten während der Pandemie an die Wände gesprayt (vgl. Street Art in Zeiten von Corona. 50 Statements von Graffitti-Künstlern, Midas Collection 2021).

Den meisten ging es im erzwungenen Homeoffice aber eher wie dem Comiczeichner Nicolas Mahler, der seine Gedanken für den digitalen Comic-Salon Erlangen festhielt.: "Liebes Corona-Tagebuch, die Geschäfte sperren schon wieder auf und ich habe dich noch gar nicht angefangen... Vielleicht beim nächsten Mal."

Mehr beeindruckende Statements von Comiczeichnerinnen und -zeichnern auf der Site des Internationalen Comic-Salon: Zeichnen aus dem Homeoffice - Die zweite Welle.

Tina S. hat mehrere Romane veröffentlicht und schreibt regelmäßig Drehbücher für Fernsehfilme:

Vor Corona lief es richtig gut, aber schlagartig stand ich vor einem immensen Einnahmeneinbruch. Für Drehbücher gab es Vorgespräche mit Produzenten und laufende Pitches, aber dann kam die laute anhaltende Stille - bis heute. Die noch stattfindenden Filmdrehs wurden durch die Hygieneauflagen und Reisebeschränkungen aufwendiger und teurer, wegen der Risiken viele Produktionen vertagt.

Ein neues Buch von mir erschien während des ersten Lockdowns, die Präsentation entfiel genauso wie die geplante Lesereise und Auftritte bei Literaturfestivals. Damit gibt es auch kaum Promotion für das Buch, es ging als Neuerscheinung weitgehend unter. Ich habe dann einige Streaming-Lesungen gemacht, da gab es ein bisschen Honorar, aber vor einer Webcam zu lesen ist in jeder Hinsicht ein echt blasser Ersatz.

Die Lesungen bringen neben Presseberichten in ganz Deutschland ja auch direkte Werbung durch die Buchhandlungen und Literaturinstitutionen - und nicht zuletzt viele wichtige und anregende Begegnungen mit anderen Menschen, Inspiration und Motivation. Aber noch mehr runter gezogen hat mich die schreckliche Diskussion um die "Systemrelevanz" der Kunst, das massive Absacken der Wertigkeit und von öffentlicher Anerkennung. Alle um mich herum konsumierten massenhaft Kunst in Form von Musik, Online-Live-Events, Büchern, Filmen und Serien, und dennoch stand gleichzeitig in großen Lettern im Raum: KUNST IST NICHT WICHTIG!

Tina S.

Die Diskussion um die Systemrelevanz hat die Kreativen aufgebracht und entzweit, denn während die einen gerne als relevant gekennzeichnet werden wollten, lehnten die anderen die Zuschreibung von Systemrelevanz gänzlich ab, denn Kunst und Kultur sind keine Frage eines Systems, sondern von grundsätzlicher Relevanz. Es gibt schlicht keine menschliche Gesellschaft ohne Kultur.

Leider fand auch diese Debatte fern der öffentlichen Wahrnehmung statt, die sich eher um die Vorstellungen von spielenden statt arbeitenden Schauspielerinnen, fleißigen Ameisen und zirpenden Grillen drehte, von denen Kabarett-Altmeister Gerhard Polt in seinem wunderbaren Statement zum Thema berichtet: Kultur und Systemrelevanz. Von ihm stammt auch der schöne Satz:

"Bestimmte Leute kriegen in diesen schweren Zeiten ihr Geld und andere - vor allem Künstler - schauen mit dem Ofenrohr ins Gebirge"

Fehlende Empathie und Existenzkrise

Die manifeste öffentliche und politische Missachtung der Kultur offenbarte sich unter anderem im bayerischen Lockdown-Beschluss von Oktober 2020, wo sich Museen, Theater, Kinos, Opern und Konzerthäuser unter "geschlossen werden Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind" wiederfanden, gelistet zwischen Spielbanken, Wettannahmestellen, Prostitutionsstätten und Spaßbädern. Dabei hat die Kultur in Bayern sogar explizit Verfassungsrang (vgl. Art. 3: Bayern ist ein Kulturstaat).

Der Grafiker und Kulturjournalist Henry F. steht nach einem Jahr Corona vor den Scherben seiner Existenz:

Mir geht es Scheiße. Mein Lebensmodell als Freiberufler mit genug Aufträgen um bequem leben zu können, hat 25 Jahre lang gut funktioniert, sich aber in diesem Jahr in Luft aufgelöst. Die Politik hat mir mit ihren Maßnahmen mein gewohntes, eingespieltes Leben zertrümmert. Ich empfinde es als Déjà-vu, als wäre ich wieder in der Zeit direkt nach dem Mauerfall und ich junger Grafiker bei einem DDR-Verlag, der damals ratzfatz abgewickelt wurde - und ich stand auf der Straße. Bevor ich mich noch umschauen konnte, gab es mein ganzes DDR-Leben nicht mehr.

Als Freier bin ich in all den Jahren sehr gut durchgekommen, Grafik für verschiedene Agenturen und Verlage war der eigentliche Brotjob, dazu kamen Artikel über Kultur, mit denen seit Jahren eh kaum noch etwas zu verdienen ist, aber sie sind mir sehr wichtig und immerhin ein finanzielles Zubrot. Bereits ab dem ersten Lockdown ging alles steil bergab; freie Grafiker wurden zunehmend nicht mehr gebraucht, die Auftragslage reicht gerade noch für die Festangestellten, und Kultur durfte ja praktisch gar nicht mehr stattfinden, also gab es auch nichts mehr zu berichten. Im Lauf des Jahres hatte ich immer weniger Aufträge und am Ende gar keine mehr. Es macht mich richtig wütend, die Arbeiter müssen in die Fleischfabriken, aber ich darf mein Leben nicht mehr leben, werde völlig aus dem Tritt gebracht.

Aber fast noch schlimmer ist das völlige Fehlen von Empathie oder auch nur Verständnis in dieser Angestellten-Gesellschaft. Sascha Lobo hat es in seiner Kolumne Der deutsche Staat verachtet Selbstständige und Kreative auf den Punkt gebracht.

Wer es in dieser Krise nicht schafft, der ist selbst schuld - so denken die meisten Leute. Selbst bei den persönlichen Kontakten spüre ich ständig diese Verachtung für Kunst und Kultur: Euch braucht keiner! Das ist zutiefst erschütternd.

Henry F.

Dabei beteuerte die Politik in den letzten Jahren immer wieder sehr laut, wie wichtig Kunst und Kultur für die Bildung, für gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, den kritischen Diskurs und nicht zuletzt "als entscheidender Standortfaktor" sei. Die Bundesregierung betonte ausdrücklich ihren Wert für die Wirtschaft:

Die schöpferischen und gestaltenden Menschen sind die Basis der Kultur- und Kreativwirtschaft: (...) schaffen künstlerische Qualität, kulturelle Vielfalt, kreative Erneuerung und stehen zugleich für die wirtschaftliche Dynamik einer auf Wissen und Innovation basierenden Ökonomie.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

Achterbahn und Zoom

Die bildende Künstlerin Daniela J. berichtet:

Das Corona-Jahr war für mich wie eine Achterbahnfahrt, heftig und intensiv, rauf und runter. Es gab ganze Wochen, da bin ich kaum aus dem Bett gekrochen, dann habe ich mich wieder aufgerafft und mit aller Kraft versucht, diese Krise als Chance zu sehen und zu nutzen.

Wir erleben alle gerade eine grässliche Zeit. Ich habe Corona sofort sehr ernst genommen, in meiner alten Heimat hat die Krankheit schon früh gewütet, ich habe mehrere Familienangehörige verloren. Die Angst war mein Begleiter. Es hat mich richtig wütend gemacht zu sehen, wie viele Menschen die Gefahr nicht sehen wollten und mit ihrem Verhalten die zweite Welle angetrieben haben.

Als nicht-kommerzielle Künstlerin habe ich mein Leben so eingerichtet, dass ich mit verhältnismäßig wenig Geld gut jongliere, Upcycling ist mein Lebensstil. Dafür muss ich nicht immer mit einem Auge auf den Kunstmarkt schielen und irgendwelche gut verkäuflichen Hypes bedienen.

Die Pandemie hat mich dazu gezwungen, mich endlich mit Stipendien, Kunst-Projektförderungen und Ausschreibungen zu beschäftigen, und ich habe mich wie wild überall beworben. Jetzt finanziert mich gerade eine Förderung der Kunstfonds. Zum Glück, es gab ja zehn Mal so viele Bewerbungen wie Plätze. Dazu kommt mein Mini-Job, der ich seit Jahren habe.

Soforthilfe hatte ich nicht beantragt, obwohl diese Zeit richtig schwer war, aber ich habe nie um irgendwelche Hilfe gebeten, und als Nichtdeutsche war ich zudem extrem vorsichtig, denn nach meiner Erfahrung mit der Ausländerbehörde hält der Staat uns Künstler sowieso für schräge Vögel, die am besten ganz schnell wieder abfliegen sollten. War wohl auch besser, denn ich habe von verschiedenen Bekannten gehört, dass nun Geld von ihnen zurückgefordert wird, eine Freundin von mir soll 3.000 der 5.000 Euro zurückzahlen, jetzt ist sie in heller Panik, denn nach diesem Jahr hat sie natürlich gar nichts mehr auf dem Konto.

2020 lief eine Einzelausstellung, die leider nicht viele Leute besuchen konnten, aber die Institution hat sich viel Mühe gegeben, meine Arbeiten virtuell zugänglich zu machen, zudem ein Statement mit mir gedreht und ins Netz gestellt, dafür auch ein kleines Honorar bezahlt. Virtuelle Ausstellungen sind der neue Trend, das wird sicher auch künftig eine Erweiterung der Realität bleiben.

Zwei Projekte wurden völlig ausgebremst, aber ehrlich gesagt wäre ich nicht gereist und hätte auch nicht unterrichtet. Alles verschoben worden, mal sehen, ob und wie es weitergeht. Flexibel zu sein gehört zu meinem Lebenskonzept, aber ich schaue jetzt ganz anders auf Zukunftsplanung, ist viel wichtiger geworden.

Meine kleine Wohnung war mir Zufluchtsort, aber gleichzeitig auch Käfig, in dem ich mich oft gefangen fühlte. Mein introvertiertes Ich mochte den totalen Rückzug, mein extrovertiertes Ich vermisste die echten Begegnungen schmerzlich. Der Laptop war das Tor zur Welt, Zoom und Signal ermöglichten mir mein Netzwerk zunehmend virtuell zu pflegen, tatsächlich mag ich inzwischen Zoom-Cocktailstunden oder -Partys - sollten wir weiter pflegen.

Daniela J.
Sehnsucht nach dem Gemeinschaftserlebnis, Streetart von Fotokünstler Andreas Bohnenstengel, München, Foto: A. Naica-Loebell

Virtualität war der große Kulturtrend des Jahres. Ausstellungen zeigten sich im Internet, Kuratoren führten virtuell durch die Räume, Musiker, Orchester und Theater streamten ihre Auftritte online, Autorinnen lasen vor Webcams, Tänzer übten alleine gemeinsam vor Bildschirmen...

Immer mehr Künstler bezweifelten jedoch zunehmend den Sinn der Gratis-Vorführungen vor imaginiertem Publikum. Sie begriffen diese Auftritte als Tünche über ihrer realen Not und einen Totalausverkauf, zudem wollten sie nicht mehr um Spenden-Almosen bitten).

Dass es ohne Kulturveranstaltungen tatsächlich still wird, verdeutlichte die Initiative #SangUndKlanglos im November.

Schriftstellerin Tina S. hat genug von Online-Konferenzen und Streaming-Auftritten:

"Die Pandemie hat uns sprachlos gemacht, da halfen auch die vielen Streamings nicht. Eine reale Lesung, das gemeinsame Live-Erlebnis im Raum, das ist etwas ganz anderes. Dazu kommen ja die vielen Begegnungen, die mit dranhängen, der Austausch, die vielen kleinen Gespräche am Rande, die Inspiration. Die Lesereisen und Auftritte versorgen mich mit Energie. Ich brauche das Unterwegsein, die Diskussionen, die Anstöße, bin eine Beobachterin, eine Aufsaugerin von Bruchstücken der Welt, ein Seismograph von Gesellschaft. Ohne Begegnungen trockne ich ein. Die ganzen Online-Schalten ersetzen doch nicht wirklich eine Runde von Menschen um einen Tisch, wo man sich riecht und spürt, Ideen austauscht und gemeinsam die Raumzeit dehnt."