Die konsumierte Revolution

Seite 2: Dériville wird Vietnam

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Bertolt Brecht zerstörte, heißt es im ersten Heft der Zeitschrift der SI von 1957, das Spektakel mit den Mitteln des Spektakels. Brechts Verfremdungseffekt holt gleichsam das Spiel von der Bühne und gibt den Blick frei auf den Realraum. Diesen geöffneten Raum wollten die Situationisten für die "Konstruktion von Situationen" nutzen. Sie nahmen den Verfremdungseffekt mit in den realen Raum und machten spielerisch Experimente auf die Gesellschaft. Deren Fortgang soll durch Provokationen, Happenings und Performances unterbrochen und verändert werden.

Fritz Teufel (li) und Rainer Langhans vor Gericht. Bild: Ludwig Binder / Haus der Geschichte / CC-BY-SA-2.0

Verschiedene Ereignisse und günstigere soziale Bedingungen werden durchgespielt etwa im Hinblick auf die Möglichkeit, die Arbeitsteilung aufzuheben und die Freizeit auszuweiten. Der frühe Marx hat mit seiner eigenen Kritik am Kapitalismus dieses Spiel mit der Realität vorweggenommen: "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt." Vortanzen ginge auch.

Da der Gang der Gesellschaft für die Situationisten auf die eine Revolution und den Ausschluss aller anderen Möglichkeiten hinausläuft, haben sie jedoch sich und der Gesellschaft die Spielräume verbaut. Um so mehr, als sie die Künstler aus ihren Reihen verbannten. Bietet nicht gerade die Kunst die größten und sei es unbewussten Spielräume auch zur Veränderung der Gesellschaft? Wenn auch nicht sofort.

Aus dem Verfremdungseffekt wird im engeren Sinn Zweckentfremdung (Détournement). Diese Variante des Spiels mit Ereignissen und Situationen verspricht mehr Erfolg. Das Vorgefundene des städtischen Raumes wird zu Bruchstücken dekonstruiert und zu neuen Stadtplänen zusammengesetzt. Dieses Verschieben macht vor dem Eigentumsbegriff nicht halt. Den Versatzstücken werden neue Rollen im städtischen Gefüge zugewiesen. Die neuen Formationen sind offen für verschiedene Nutzungen.

An dieser Stelle kommt die situationistische Spielart des "Urbanismus" ins Spiel. Für Planer ergibt sich ganz konkret die Aufgabe, Häuser, Infrastrukturen und Freiräume so zu entwerfen, dass die Autonomie des Gebrauchs, das heißt auch die Mitwirkung der Nutzer ermöglicht wird. Nur dann ist die gebaute soziale Realität der Städte nachhaltig.

In diesem beweglichen Raum des Spiels und der freigewählten Varianten der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes, ohne die Wiedereinführung einer neuen ausschließlichen Bindung an den Boden, wiedergefunden werden.
Guy Debord

Das Urbane wird in der situationistischen Perspektive nicht als gegebenes Konstrukt, sondern als fließender Raum gesehen, der im Gebrauch entsteht. Wer durch die Stadt zieht, an dem zieht sie vorüber und ist offen für seine Interpretationen, wie sie gewesen ist und wie sie werden könnte. Die Stadt wird Bewegungsform. Die adäquate Haltung, die das spielerische Subjekt oder der Stadtreisende einnimmt, ist die des Sich-treiben-Lassens (Dérive). Das geht bei Debord schneller vonstatten als das Flanieren oder Promenieren, ist aber ähnlich ziellos und dennoch emotionsgeladen.

Der Maler und Bildhauer Constant, der 1948 zusammen mit Asger Jorn die Gruppe CoBrA ins Leben gerufen hatte und 1957 zur SI stieß, hob gleich die ganze Stadt vom Erdboden ab, damit sie so wuchern kann wie ihre Einwohner sich treiben lassen. In seinem Modell eines "New Babylon" können die Bewohner die beweglichen Innenelemente kollektiv gestalten. Sie sind die Raumproduzenten. Sie erproben experimentell eine futuristische Modernisierung der Stadt, die ihre Kreativität freisetzt. Fremdbestimmte Lohnarbeit wird obsolet. New Babylon ist der sich ständig verändernde Lebensraum von im Unübersichtlichen, im Labyrinthischen herumstreunenden Menschen. Aus den traditionellen Städten sind Wanderlagerplätze für Zivilisationsnomaden geworden. New Babylon ist Dériville.

Das Experimentieren der SI im öffentlichen Raum war ähnlich spontan wie die Aktionskunst jener Zeit, die aus den Galerien auf die Straße ging und kurze Verfallszeiten hatte. Einige Kunstformen, zu denen auch Graffiti gehören, haben sich jedoch gehalten wie auch etliche kritische Diagnosen zur Zeit, etwa zum Automobilverkehr.

Schon Ende der 50er Jahre hieß es in der Zeitung der SI: Der Individualverkehr ist die Materialisierung eines Konzepts von Glück, das der Kapitalismus über die gesamte Gesellschaft verbreitet. Das individuelle Automobil ist in erster Linie ein idiotisches Spiel und in zweiter Linie ein Transportmittel. Letzteres verbürgt aber auch nicht die Rationalität des Automobils, denn zeitgleich mit seinem massenhaften Aufkommen verlängerten sich die Transportwege. Das Auto ist das höchste Gut des entfremdeten Lebens.

Die literarische und künstlerische Produktion der deutschen Zweige der SI fiel geringer aus als in Frankreich, aber die Entwicklung verlief parallel. 1958 hatte sich die avantgardistische Künstlergruppe SPUR konstituiert. Sie stand formauflösenden Stilrichtungen wie Dada, Tachismus und dem Informel nahe. 19622 ging aus ihr die "Subversive Aktion" hervor. Ähnlich wie in Frankreich setzte mit dieser Gruppe eine Politisierung ein. Der Schwerpunkt verlagerte sich nach Westberlin. Dieter Kunzelmann, der an der Münchener Gruppe beteiligt gewesen war, wurde 1967 neben Langhans und Teufel zur bekanntesten Figur der Kommune I. Andere bildeten den antiautoritären Flügel des SDS.

Die Kunst war auch in Berlin auf der Straße angelangt. Das bürgerliche Establishment wurde vorgeführt, indem ihm die Kommune-Mitglieder die nackten Hintern zeigten. Schockartige Provokationen, Happenings und an den Universitäten Go-ins waren die Aktionsformen. Der Spaß verging mit dem "Pudding-Attentat" auf den zu Besuch weilenden amerikanischen Vizepräsidenten vom April 1967, das keines war. Die Beteiligten wurden vorher gefasst, darunter Kunzelmann, Langhans und Teufel, und die Sprengkraft von Pudding ist disputabel.

Die Exekutive und die Springer-Presse nahmen die Satire und die Attrappe für die Wirklichkeit. Man hatte es mit kriminellen Attentätern zu tun, die die staatliche Autorität nicht ernst nahmen. Auf der anderen Seite verstand die Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin die satirische Aufforderung zur Kaufhaus-Brandstiftung nach Brüsseler Vorbild wörtlich. Sie machten sich die Kriminalisierung durch die Gegenseite zu eigen. Das wurde ihr Brandmal. Ein Rücktritt wäre Verrat.

Im April 1968 brannten zwei Kaufhäuser in Frankfurt tatsächlich, wenn auch erst nach Ladenschluss. Gewalt und Gegengewalt schaukelten sich hoch. Die Spirale des Terrorismus drehte sich. Deutschland versank im Herbst. Die Angst, wie sicher unser Land ist, wurde beruhigt, als die Lichter des Konsums heller denn je angingen. Die einst aufmüpfigen Studenten wurden, wenn sie nicht gestorben sind, eingegliedert.

Das brennende Warenhaus hat sich als der ultimative Erlebniskonsum herausgestellt.