Die perfekte grüne Welle
Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
während die Parteien mit Blick auf die Bundestagswahl im September ihre Kandidat:innen aufstellen, zeichnet sich immer deutlicher die heiße Phase des Wahlkampfes und damit das nahende Ende der Ära Merkel ab. Wenn auch vieles unklar ist, kann eines als gesichert gelten: Deutschland wird nach dieser Bundestagswahl grüner sein. Bündnis 90/Die Grünen liegen mit ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in den Umfragen stabil bei einem Viertel der Stimmen.
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Unwirklich wirkt das nicht nur, wenn man an die Ursprünge der Ökopartei zurückdenkt, die frühen Parteitage, die Turnschuh-Vereidigung von Umweltminister Joseph "Joschka" Fischer Mitte Dezember 1985 im hessischen Landtag.
Oder auch nur an die letzte Bundestagswahl 2017, bei der die Doppelnamen-Partei noch bei knapp neun Prozent der Stimmen lag. "In jedem Fall sind die Grünen viermal so stark wie nach der Wahl 1998. Das macht sich in jeder Koalition bemerkbar", sagte das Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele bei Telepolis im Interview, um – wenig anfechtbar – von einem "Erfolgsmodell" zu sprechen.
Unsere Redakteurin Claudia Wangerin ärgerte sich indes, die ihr auch wegen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik nicht sympathische Grünen-Kandidatin Baerbock gegen bieder-sexistische Kampagnen verteidigen zu müssen. Auch das ist ein Ausdruck der politischen Kultur in Deutschland 2021.
Unser Autor Nick Reimer schrieb über einen der Gründe für den Erfolg der Grünen. Die Umweltbewusstseinsstudie 2020 habe gezeigt, dass die Wahrnehmung von Umweltbelastungen und Klimawandel zunehmend wichtig wird. Noch wichtiger als Klima- und Umweltschutz finden die Deutschen nur die Themen Bildung (78 Prozent), Gesundheitssystem (73) und soziale Gerechtigkeit (66).
Sicherlich ist - wie so oft im bürgerlichen Parlamentarismus - der Erfolg der einen Partei Ausdruck der Krise der anderen. Bei Telepolis werden wir uns mit der nahenden Bundestagswahl 2021 daher verstärkt auch den Prognosen und Hintergründen widmen. Der Frage etwa, warum "grün" nicht automatisch "ökologisch" heißt, von der Friedensfrage mal ganz zu schweigen.
In der vergangenen Woche etwa haben wir die Frage beleuchtet, weshalb es der SPD gelungen ist, den (laut UN und SPD) rassistischen Thilo Sarrazin aus der Partei zu werfen, während der rechtskonservative Ex-Agentenführer Hans-Georg Maaßen für die CDU mit über 80 Prozent nominiert wurde – wenn auch nur in Thüringen.
Corona-Maßnahmen vergleichen, diskutieren, ändern
Und damit sind wir wieder bei der Corona-Pandemie. Unsere Autorin Andrea Seliger beleuchtete den auch hierzulande viel beachteten "Sonderweg" Schwedens. Die Inzidenz dort zählt zu den höchsten in Europa, die Zahlen der täglichen Corona-Toten aber liegen auch im Verhältnis unter denen von Deutschland, so Seliger in ihrem Bericht.
Konkret heißt das: In Schweden wurde die Marke von einer Million offiziell registrierten Corona-Fällen durchbrochen. "Rein rechnerisch hat sich damit bald jeder Zehnte infiziert in dem 10,3-Millionen-Einwohner-Land, und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen", schrieb unsere Autorin. Warum dennoch weniger Menschen sterben und was die Rückschlüsse für andere Länder sind, können Sie hier noch einmal nachlesen.
Und, ja, das muss man diskutieren können. Und, nein, damit schmälert man nicht das Leid der Menschen, die hierzulande auf den Corona-Intensivstationen sterben.
Weshalb das zu betonen wichtig ist, beschrieb Sebastian Seidler bei Telepolis: "Unter den Kritikern der Corona-Politik gibt es eine Gruppe, die man vereinfachend als Verteidiger der Freiheit bezeichnen kann. Die Argumente der Akteure, die von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer über Philosoph Julian Nida-Rümelin bis zur Journalistin Franziska Augstein reichen."
Seidler ist sich sicher: "Das Mantra ‚Aber es sterben doch Menschen‘ verdecke all die anderen Probleme (Existenzängste, Depressionen), die im Zuge der Pandemie auftauchen." Diese Erkenntnis, in der Tat, tritt nicht erst seit der Künstleraktion #allesdichtmachen in den Vordergrund der Debatte und wird auch bei Telepolis weiterhin eine zentrale Rolle spielen.
Dass ein kritischer Blick auf die Pandemie-Politik, wie ihn Telepolis von Beginn an eingenommen und gegen jede Kritik beibehalten hat, wichtig ist, zeigt der Blick der Neuen Zürcher Zeitung, der zufolge Modellrechnungen zum Verlauf der Pandemie "oft fehlerhaft" sind. Trotzdem hätten Politiker und Journalisten damit Stimmung gemacht, heißt es in dem Blatt. Auch die Berliner Zeitung hinterfragte in der vergangenen Woche die Arbeit des lange gelobten SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach und dessen jüngste gesundheitspolitische Fehleinschätzungen.