Die russische Gesellschaft wird plötzlich aus ihrem Schlaf erwachen

Der russische Sozialist und Soziologe Boris Kagarlitzki über die Linke in Russland, Putin als Nationalsymbol, die russische Politik in Syrien und seine schillernden Ansichten über Europa

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Boris, in den 80ern hast du dich mit den Autoritäten angelegt. In den 90ern wurdest du in den Moskauer Sowjet gewählt und hast die Sozialistische Partei mitgegründet. Du hattest auch Kontakte zur KP der Russischen Föderation und diversen Gewerkschaften. Damals passierte in Russland auf linker Seite noch einiges. Nun bist du der Direktor des "Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen" in Moskau. Wie sieht es heute mit der russischen Linken aus, wenn man so allgemein fragen darf? Oder konkreter: Gibt es gegenwärtig in Russland bemerkenswerte linke Organisationen oder Bewegungen, die Potenzial haben?
Boris Kagarlitzki: Die Lage der Linken in Russland kann man als widersprüchlich charakterisieren. Einerseits ist die Popularität linker Ideen augenfällig - sie sind sogar zur Mode geworden. In dieser Hinsicht ist die Situation überhaupt nicht die, wie sie beispielsweise noch Mitte der 1990er war. Nur spiegelt sich das auf keine Weise im politischen Prozess wider. Und das liegt nicht an den linken Organisationen selbst, sondern am Zustand der Gesellschaft.
Ernsthafte linke Politik ist nur gestützt auf eine Massenbewegung möglich. Zudem muss es eine Graswurzelbewegung sein, eine Bewegung der Werktätigen. Wenn es so etwas nicht gibt, können sich allenfalls Sekten oder Intellektuellenclubs entwickeln. Genau das ist die heutige Situation. Die Soziologin Anna Otschkina spricht von einer "schlafenden Gesellschaft" in Russland. Die Gesellschaft schläft und träumt - davon, Großmacht zu sein, von Putin, von liberalen Werten, vom freien Markt, von der Größe der ehemaligen UdSSR und so weiter.
Das alles sind nicht einmal ideologische Klischees, sondern Träume oder Alpträume, die mit der Wirklichkeit, die auf der Tagesordnung steht, nichts gemein haben. Nichts dergleichen gibt es in Wirklichkeit. Nicht einmal Putin gibt es. Zwar gibt es einen Menschen mit diesem Namen, der regelmäßig den Vorsitz bei eher unerheblichen Sitzungen gelangweilter Bürokraten im Kreml übernimmt, aber mit dem Bild Putins als "Diktator" oder umgekehrt als "Erlöser" hat dieser Mensch überhaupt nichts zu tun - er ist bloß ein hochrangiger Funktionär, genauso wie andere Funktionäre, nur dass er ein größeres Gehalt bekommt.
In solch einer Situation ist die Mode linker Ideen nicht bloß nicht allzu wohltuend, sondern wird sogar absolut zwecklos. Es entsteht ein widersprüchliches Milieu von "Glamour-Linken", die - emotional, sozial, kulturell - vollkommen zum liberalen Establishment gehören, welches sich an den Geschmäckern und Vorstellungen dieses Milieus orientiert, aber die eigene Lage in diesem Milieu mittels der Beherrschung des "linken Diskurses" verbessert. Ehrlich gesagt ist dieses Milieu international.
Die akademische und mediale "Linke" in Frankreich weist genau diese Symptome seit mindestens einem Jahrzehnt auf. Jetzt ist diese Strömung aber auch in Russland angekommen. Die Glamour-Linken reihen sich ganz wunderbar sowohl in das russische liberale Milieu als auch in das Milieu der westlichen Intellektuellen ein. Das einzige Problem ist - sie haben nichts zu tun mit den Interessen der Massen, den Anforderungen und Problemen der russischen Gesellschaft und sind sogar noch entfremdeter von der Bevölkerung als die Regierung. Deswegen ist ihr einziger Zufluchtsort die liberale Opposition in der Hauptstadt, die sich ihrer bedient.
Ein ernsthaftes Gegengewicht zu den "Glamour-Linken" gibt es angesichts der unterschiedlichen stalinistischen und trotzkistischen Sekten ebenfalls nicht. Die Aufgabe besteht darin, ohne sich groß um diese Grüppchen zu kümmern, an einer Politisierung der spontan linksgerichteten Mehrheit zu arbeiten. Menschen, die sich als Aktivisten verstehen, erweisen sich unter den Bedingungen des wirklichen Kampfes und der offenen Krise mehrheitlich als Hemmnisse.
Aber damit eine neue aktivistische Masse entsteht, reicht kein Abwarten - man muss sich mit politischer Aufklärung beschäftigen, an ihr arbeiten, sich nicht an Zirkeln und Sekten oder dem glamourösen liberalen Publikum orientieren, sondern sich vor allem an der Provinz, an der Stimmung der Massen in der Gesellschaft orientieren. Und man muss verstehen, dass ein ernsthafter und für das System gefährlicher Protest nicht aus dem oppositionellen Milieu geboren wird, sondern ausgerechnet und ausschließlich aus dem Milieu jener, die in den Jahren 2011 und 2012 die Wiederwahl Putins unterstützten. Haben sie ihn nicht aus Sympathie zu seiner Politik, sondern angesichts der liberalen Opposition aus der Bemühung heraus, einem noch größeren Übel zu entgehen, unterstützt? Diese Menschenmasse hat die Regierung anschließend verraten, wofür sie früher oder später bezahlen wird.
Solange die Gesellschaft nicht erwacht ist, ist linke Politik nicht möglich, aber die Gesellschaft wird plötzlich erwachen, so wie es im Osten der Ukraine 2014 geschehen ist. Sind die Linken darauf vorbereitet? In ihrer Mehrheit nicht. Aber es gibt keinen Grund, die Situation als hoffnungslos abzustempeln.
Boris Kagarlitzki 2013. Bild: www.facebook.com/kagarlitsky
Welche Rolle spielt die Kommunistische Partei im gegenwärtigen System?
Boris Kagarlitzki: Die KPRF ist ein Element des Systems. Ihre Führung ist am Erhalt des Status Quo interessiert. Aber es gibt lokale Gruppen, die ernsthaft darum bemüht sind, den Status der Systempartei dazu auszunutzen, das dieses oder jenes soziale Recht zu verteidigen. Sobald sie das zu eifrig tun, kommt es zum Konflikt mit der Zentralregierung. Daher die ständig sich wiederholenden Spaltungen der Partei und die massenhaften Parteiausschlüsse.
Aber ihr müsst bedenken: Keiner der Ausgeschlossenen konnte eine ernstzunehmende Organisation gründen, die eine Alternative zur KPRF darstellt. Sie bemühen sich, eine "verbesserte Kopie" der KP zu gründen, was von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.
Gibt es unabhängig von den explizit linken Organisationen und Intellektuellen plebejische Trends, proletarische Aktivitäten oder sonstige Massenbewegungen, die für Linke interessant sein könnten?
Boris Kagarlitzki: Man kann von einer wachsenden "plebejischen" Opposition sprechen. Der Ökonom Wassilij Koltaschow spricht von einem "dritten Stand". Eine entsprechende Tendenz macht Ruslan Dsarassow in seinem kürzlich erschienenen Buch "За лучшую долю!" (ungefähre Übers. "Für einen größeren Anteil am Kuchen!") aus. Mit anderen Worten gibt es ein klares Anwachsen des Unbehagens in der Gesellschaft und sogar Orte des Widerstands - das äußert sich in Aktionen für den Erhalt kostenloser Medizin und Behausungen, in Bewegungen rund um Bildungsfragen und im Aufkommen unabhängiger Gewerkschaften. Ein neueres Beispiel war der Streik der Langstrecken-LKW-Fahrer.
Aber ich wiederhole, dass all diese Bewegungen im Prinzip unpolitisch sind. Und sie sind nicht völlig proletarisch, selbst wenn sie sich im Wesentlichen auf Lohnarbeiter stützen. In diesem Sinne wäre es genauer, sie als Graswurzelproteste "des Volkes" zu bestimmen, insofern sie eine Art klassenübergreifende Graswurzel-Solidarität darstellen.

"Die patriotische Propaganda der Machthaber ist eine Lüge, das Land wird von einer kosmopolitischen Elite beherrscht"

Wie schätzt du die Proteste vom Vorjahr in Petersburg ein, die sich offenbar für eine andere Ukraine-Politik und gegen die russische Regierung richteten?
Boris Kagarlitzki: Die Ukraine-Politik Russlands genießt die Unterstützung der Massen. Auf der Seite des Regimes von Petro Poroschenko befindet sich nur ein kleiner Teil der Liberalen und jene Linken, die faktisch bloß der linke Flügel der neoliberalen Elite sind.
Aber gerade in der Unterstützung der Politik des Kremls in Bezug auf die Ukraine durch die Massen besteht das Hauptproblem für den Kreml, insoweit die russischen Eliten selbst zu dieser Politik gezwungen wurden, die nicht das geringste Bedürfnis danach verspürt hatten, mit dem Westen in Konflikt zu geraten. Sie wurden durch die Handlungen des Westens provoziert und dessen engste Verbündete in Kiew wurden ebenso zu einer Reaktion gezwungen, um ihre Interessen zu verteidigen. Sie bemühen sich, bei nächster Gelegenheit dieser Politik ein Ende zu setzen, um mit dem Westen Frieden zu schließen.
Aber die russische Gesellschaft, die sich auf eine Verschärfung des Konfliktes mit Kiew und Washington eingestellt hat und kategorisch gegen Zugeständnisse, Kompromisse und Versöhnung ist, lehnt dies rundweg ab. Woher kommt diese Aggressivität? Sie ist völlig rational.
Erstens begreifen die Leute den organischen Zusammenhang zwischen der neoliberalen, antisozialen Politik und der gemeinsamen Agenda, die sowohl von der Europäischen Union, wie auch von ihren Verbündeten in Moskau und im Kreml durchgeführt wird.
Zweitens gibt es ein völlig berechtigtes Verständnis dessen, dass eine weitere Runde von Zugeständnissen an den Westen einen Zerfall des Staates und Chaos bedeuten dürfte, so wie es sich bereits auf dem Balkan und in einigen Ländern des Nahen Ostens zugetragen hat. Mit anderen Worten ist die entsprechende Stimmung in der Gesellschaft keineswegs das Resultat patriotischer Propaganda. Ganz im Gegenteil fängt der Kreml damit an, die Karte des Patriotismus auszuspielen, insofern er sich an die in der Gesellschaft vorherrschende Stimmung anpassen muss.
Aber die ganze patriotische Propaganda der Machthaber ist eine einzige Lüge. Das Land wird von einer kosmopolitischen Elite beherrscht. Deren Gelder, deren Besitztümer und deren Kinder - alles das befindet sich im Ausland. Und die Versöhnung mit den USA ist das strategische Hauptziel des Kremls. Ein Problem sind allerdings die amerikanischen herrschenden Kreise selbst, die den Friedensschluss im selben Maße nicht wollen, in dem sie ihn nicht durchführen können.
Hier geschieht das Gleiche wie in Griechenland. Alexis Tsipras und sein Umfeld haben nicht verstanden, dass die Aggressivität der EU gegen ihr Land nicht die Folge irgendwelcher Fehler ist, die man aufdecken und ausbessern kann. Die systemische Krise der neoliberalen EU gebiert diese Politik, die nur auf Kosten der neuen kolonialen Expansion überwunden werden kann. Wir und die Griechen - wir sind an der Reihe. Und fast so als suchten die Eliten nach keiner Aussprache, wird es auch keine Lösung geben. Tatsächlich kann es eine Lösung nur auf Kosten einer Kapitulation unserer Eliten gegenüber dem "griechischen Szenario" geben.
Ist Putin gegenwärtig wirklich so populär, wie es diverse Umfragewerte und Wahlergebnisse nahelegen? Und sind solche Zahlen ein echter Indikator für die Stimmung im Volk?
Boris Kagarlitzki: Putin ist zweifellos populär, aber seine Popularität ist nicht politischer Natur. Putin - das ist eine Art Nationalsymbol. Man nimmt ihn nicht als realen Menschen wahr und noch weniger als Politiker. Er ist wie eine Fahne, ein Wappen, eine Nationalhymne. Im besten Fall wie die Königin Victoria im England des 19. Jahrhunderts. Er spielt keine ernstzunehmende politische Rolle in Russland.
Wirkliche Macht hat er nicht, was immer dann zu Tage tritt, sobald er eine Initiative ergreift, die von der Regierung oder von der Führung der Großkonzerne nicht genehmigt wurde (wie eine einmalige Steuer zur Kompensation der Endergebnisse einer Privatisierung oder wie der Appell zur Beendigung der Massenentlassungen von Ärzten in Moskau). In solchen Fällen halten diejenigen, an die er sich wendet, es nicht einmal für angebracht, ihm zu antworten. Sie ignorieren ihn schlicht.

Statt einer ernstzunehmenden militärischen Operation wurde in Syrien eine PR-Aktion unternommen

Der Moskauer Sozialist Ilja Budraitskis äußerte sich zuletzt in einem Interview für das Magazin marx21 zur russischen Intervention in Syrien. Budraitskis sagte damals: "Der russische Präsident Wladimir Putin schickte seine Kriegsflugzeuge, als Assads Armee von ihren Feinden immer weiter zurückgedrängt wurde. Dadurch bestand für Putin die Gefahr, dass sein Verbündeter Assad jede Chance verliert, künftig an der Macht in Syrien beteiligt zu werden. Die russische Regierung schickt aber schon seit Beginn des Kriegs 2011 in großem Umfang Waffen und Militärberater zu Assads Armee." Sind Russlands Interessen in diesem Konflikt von Linken ebenso wie amerikanische Bomben abzulehnen oder gibt es da doch einen Unterschied?
Boris Kagarlitzki: Leider wiederholt Budraitskis hier bloß die Klischees der westlichen Propaganda. Die Luftangriffe gegen die syrischen Islamisten waren in der Hauptsache der Versuch, die Reste des Assad-Regimes in Syrien zu retten, aber das ist tatsächlich zugleich der Versuch, die Reste der modernen Zivilisation im Nahen Osten zu retten, den Zusammenbruch eines säkularen Staates zu verhüten, nationale Minderheiten zu beschützen etc.
Das Problem liegt allerdings darin, dass Moskau das alles nicht ernsthaft zu tun bereit ist. Die Luftangriffe, die die russischen Streitkräfte gegen die Islamisten in Syrien flogen, waren verhältnismäßig effektiv, da die Ziele mit Teilen der zu Lande agierenden syrischen Armee und Milizen (Christen, Kurden etc.) abgestimmt wurden. Aber 50 Flugzeuge und Hubschrauber, die im Kampfgebiet agieren, können die Verhältnisse im Land nicht radikal umwälzen - und das werden sie auch nicht durch eine Salve Cruise Missiles. Um die Situation zu wenden, müssen schon täglich Dutzende Salven abgefeuert werden. Solch eine Anzahl an Raketen hat Russland schlicht nicht zur Verfügung, fürchte ich. Und die Flugzeuge müsste man mindestens drei Mal so oft losschicken. Dazu haben sie sich auch nicht entscheiden können.
Um es anders auszudrücken: Statt einer ernstzunehmenden militärischen Operation wurde eine PR-Aktion unternommen. Möglicherweise dachten sie in Moskau, dass es reichen würde, auf alle Teilnehmer des Prozesses einfach Eindruck zu machen, wonach sie sich gemeinsam zu Gesprächen an den Tisch setzen würden (Amerikaner, Europäer, Assad, die "gemäßigten" Oppositionellen, die Kurden, die Türkei und überhaupt alle, alle) und dass ISIS sich erschrecken und davonmachen würde. Die Kreml-Chefs urteilen selbst, aber über Andere. Sie selbst sind ziemlich feige und neigen dazu, sämtliche Probleme durch Zugeständnisse und Kompromisse zu lösen. Aber so läuft es nicht im Nahen Osten.
Die Resultate sind mitleiderregend - es gibt keinerlei Wende, dafür aber die Antwort von ISIS in Form des in die Luft gejagten Flugzeugs. Es ist klar, dass es notwendig ist, entweder ernsthaft Krieg zu führen oder die Show einer "Rückkehr Russlands" abzublasen. Ich denke, dass Russland früher oder später im Nahen Osten Krieg führen muss. Und es muss ernsthaft Krieg führen, weil der Brandherd des Krieges dort nicht ausgehen wird und es unausweichlich ist, die säkulare Zivilisation zu verteidigen. Aber das, was Putins Aufgebot gebracht hat, war kontraproduktiv.
Und man muss verstehen, dass die konservativen und neoliberalen Regimes den Islamismus nicht bezwingen können. Die einzige Alternative sind radikale Sozialreformen, die vollauf antibürgerlich sind. Ohne ein alternatives Sozialprogramm kann man den Vormarsch des Fundamentalismus nicht in den Griff bekommen. Er selbst ist das Resultat der Niederlage der Linken und Nationalisten im Nahen Osten. Und bis sich diese Kräfte nicht wieder erholt haben und nicht wieder aufleben, wird die Region weiter im Chaos versinken.
Seitens der Kurden und arabischen Syrer gibt es Menschen, die die russische Intervention willkommen heißen. Sind das etwa Agenten des russischen Imperialismus oder hilft Russland den Kurden tatsächlich?
Boris Kagarlitzki: Die Kurden sind jetzt zur Mode geworden. Aber man muss verstehen: Sobald die syrische Armee vernichtet ist, werden die Kurden ebenfalls vernichtet werden. Alle, ohne Ausnahme. Es ist ja ganz nett zu sagen: "Wir verteidigen die progressiven Kurden, aber wollen uns nicht mit dem Verbrecher Assad verbrüdern." Das ist, als würde man sagen: "Wir verteidigen die Juden vor Hitler, aber werden uns nicht mit dem Verbrecher Stalin verbrüdern und seiner Armee helfen, die Nazis vor Stalingrad zu bekriegen." Die Situation in Syrien ist genau die gleiche.
Welches Ziel verfolgt die russische Regierung mit der Intervention in Syrien? Soll bloß Assad gestützt werden, soll der IS zerschlagen werden oder sollen bloß die "gemäßigten Rebellen", die dem Westen nahestehen, besiegt werden? Oder will Putin etwa die Kurden in Rojava retten?
Boris Kagarlitzki: Putin hat kein Programm und keinen Plan. Das war sehr schön zu sehen als Außenminister Lawrow auf dem Diskussionsklub "Waldai" in Sotschi aufgetreten ist. Das ganze Programm besteht darin, die Amerikaner dazu zu verleiten, sich mit uns zu verbrüdern und die Dinge mit Hilfe von Kompromissen zu lösen (um das Offensichtliche mit anderen Worten zu erklären - wenn das Assad-Regime durch Islamisten ersetzt wird, wird es, um es nett auszudrücken, nicht gerade eine Sternstunde für die Demokratie sein).
Es ist völlig klar, dass es nach einem Abgang Assads nicht besser, sondern schlechter werden wird. Die prodemokratischen Grüppchen in Syrien sind entweder vernichtet worden oder zur syrischen Regierungsarmee übergelaufen, welche sie als das kleinere Übel begreifen. Die einzige Alternative sind die Islamisten. Und unter den Islamisten ist ISIS die dominierende Kraft. In Washington versteht man das nicht weniger als in Moskau, aber es kümmert Washington schlicht weniger. Daher stellen sich die russischen Worte als zwecklos heraus.

Multikulturalismus und der Erfolg des Front National

Welche Bedeutung haben die Anschläge in Paris für die Weltpolitik?
Boris Kagarlitzki: Ich denke, dass das bloß eine von vielen tragischen Episoden ist, mit denen die Zerstörung der neoliberalen Weltordnung einhergehen wird. Aber radikale oder katastrophale Auswirkungen werden sie nicht haben. Auf der Oberfläche wird alles beim Alten bleiben. Die verborgenen Widersprüche werden sich anhäufen und Umschwünge werden heranreifen, allerdings werden sie zu einem anderen Zeitpunkt und bei anderer Gelegenheit geschehen.
Bisher kann man bloß die permanente ideologische Erosion des "progressiven Liberalismus", der Ideologie des Multikulturalismus und des gesamten Projektes beobachten, das von der Administration von Francois Hollande und von den französischen Intellektuellen verkörpert wird. Die Popularität des Front National wird anwachsen und zwar vor allem unter Immigranten, Arabern, Afrikanern und den unteren Volksschichten Frankreichs, da gerade diese Bevölkerungsgruppen an der Politik des Multikulturalismus leiden, die ihre Integration in die Gesellschaft blockiert und ihre vertikale Mobilität vermindert.
Und die Linken werden nach wie vor all jene des Rassismus beschuldigen, die den Multikulturalismus kritisieren, obgleich er in der Hauptsache eine zeitgenössische und ausgeklügelte Form der Apartheid ist (man erinnere sich daran, dass die Apartheid der Südafrikanischen Republik sich ebenfalls mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Bewahrung der kulturellen Eigenheiten aller "Rassen" und vor allem der Schwarzen rechtfertigte).
Wie kann der Konflikt in und um Syrien ein halbwegs friedliches und demokratisches Ende nehmen? Und welche Rolle spielen Putin und Assad dabei?
Boris Kagarlitzki: Ich denke, dass weder Putin noch Assad noch die Kontrolle haben. Der syrische Präsident selbst wäre schon längst aus dem Land entflohen, aber man entlässt ihn nicht so einfach. Seine Flucht würde der Anfang vom Ende für alle nationalen und religiösen Minderheiten in Syrien und für die Gruppen bedeuten, die irgendwie mit dem bestehenden Regime verbunden sind. Sie sind daran interessiert, dass Assad sich weiterhin hält.
Aber sobald Washington Moskau anbietet, Syrien gegen die Krim einzutauschen oder gegen etwas Vergleichbares, wird der Kreml Assad verraten. So wie man bereits das Donbass verraten hat und wie man früher oder später auch Russland selbst verraten wird.
Kann es zu einem heißen Krieg zwischen Russland und dem Westen oder einem Dritten Weltkrieg kommen, wenn die Situation im Nahen Osten weiter eskaliert?
Boris Kagarlitzki: Der Krieg ist bereits da. Aber bislang ist es ein Krieg aller gegen alle. Die historische Aufgabe besteht darin, den Charakter dieses Krieges zu verändern, ihm den Stempel des Klassenkampfes aufzudrücken. Bislang zeichnet sich diese Perspektive nur sehr schwach ab. Aber auch die Handlungen der Kurden in Syrien und das Auftreten der Milizen des Donbass, die Verstaatlichungen und Sozialreformen fordern, zeigen, dass der untere Rand Potenzial hat.
Was könnte der russische Staat besser machen, was die Außenpolitik angeht?
Boris Kagarlitzki: In Russland muss die politische Ordnung ausgetauscht werden. Aber solange das nicht geschieht, wird alles beim Alten bleiben. Man muss verstehen: Die liberale Opposition ist nicht besser, sondern sogar schlimmer als das Umfeld Putins. Sie ist prinzipiell, bewusst und folgerichtig gegen das Volk eingestellt, fasst die Bevölkerung des eigenen Landes ganz offen als "Biomasse" auf und verteidigt aus voller Überzeugung ein autoritär-elitäres Modell des Regierens.
Aber das ist kein Grund, um das Umfeld Putins zu unterstützen, insofern dieses ein Zugeständnis nach dem anderen eingeht, das Land nicht ernsthaft vor dem Druck des Westens verteidigen wird, noch die Überreste des Sozialstaates vor der Demontage, welche die russischen Liberalen anstreben.
Im Übrigen ist Folgendes sehr wichtig: Die Ökonomen, die das Programm der Regierung und der Opposition ausarbeiten, sind physisch ein und dieselben Leute. Die Opposition und die Regierung in Russland kämpfen nicht gegeneinander - sie schlagen denselben Kurs ein und gehen nur in der Frage des Maßes seines Radikalismus auseinander.
Gibt es eine Verbindung zwischen der Eskalation in der Ukraine und im Nahen Osten?
Boris Kagarlitzki: Zweifellos sind das zwei Ausdrucksformen ein und derselben Krise. Genau wie die Krise in Griechenland. Der äußerliche Faktor ist die Aggressivität des Westens, der innere Faktor die Krise der einheimischen Eliten und ihrer Machtstrukturen.
Welche Rolle spielen die BRICS-Staaten, vor allem auch China, in den gegenwärtigen Konflikten? Gibt es das Potenzial für ein gegenhegemoniales Bündnis? Kann eine Annäherung der BRICS-Staaten etwas Progressives für die Welt bedeuten oder wäre der Aufstieg dieser Länder nur der Aufstieg weiterer Imperialisten?
Boris Kagarlitzki: Die BRICS-Staaten können zur Alternative werden, aber dafür müssen sich alle oder die meisten dieser Staaten von innen verändern. Ohne radikale Veränderungen im Inneren der BRICS-Staaten und ohne einen Aufschwung einer progressiven Agenda können sie keine progressive Rolle in der Weltpolitik spielen. Selbst wenn sie sich bemühen sollten, werden jegliche Initiativen dieser Art von den Widersprüchen zwischen der progressiven, antiimperialistischen Stoßrichtung in der Außenpolitik und dem reaktionären Charakter ihrer Innenpolitik zerrissen werden. In solch einem Fall werden die BRICS-Staaten nicht zum neuen antiimperialistischen Zentrum, sondern werden - diesen Widersprüchen ausgesetzt - zusammenbrechen, noch bevor irgendetwas in dieser Richtung passieren kann.
Wie kann die internationale Linke agieren, um die imperialistische Eskalation für sich zu nutzen?
Boris Kagarlitzki: Man muss den Kampf um Sozialreformen anführen und einen breiten Block mobilisieren, eine Art neue "Volksfront" für den Kampf gegen den Neoliberalismus. Aber es ist völlig klar, dass es kein Bündnis mit Kräften geben darf, die sich an einer Vertiefung neoliberaler Reformen und sozialer Demontage orientieren, selbst wenn sie das unter dem Deckmantel der "Demokratie" tun.
Welchen Eindruck hast Du von der deutschen Linken, welchen von der europäischen Linken allgemein?
Boris Kagarlitzki: Das Hauptproblem der europäischen und deutschen Linken liegt darin, dass sogar nach den Ereignissen in Griechenland viele von ihnen sich weigern einzusehen, dass die allererste strategische Aufgabe der Kampf gegen die EU ist, welche die institutionalisierte Verkörperung des Neoliberalismus ist. Es kann keinerlei Reform der EU geben, da das Maastricht-System gerade zur Verhinderung jeglicher sozialer Reformen gegründet wurde.
Ohne den Sieg über die EU wird kein Land in Europa eine linke Agenda haben können (einschließlich der Ukraine, Russlands und der Türkei). Das ist das grundlegende Problem, das wir alle gemeinsam lösen müssen. Und die Haltung zu den Ereignissen in Griechenland, im Nahen Osten, in der Ukraine oder in Russland muss ebenfalls im Rahmen dieser strategischen Realität entwickelt werden.
Daraus folgt im Übrigen das zweite Problem - der Unwillen eines bedeutenden Teils der Linken zu verstehen, dass die Frage der Bewahrung der Demokratie nicht getrennt ist von der Frage der Bewahrung und Reformierung des Staates und der Wiedergewinnung seiner Souveränität, da dies die einzige Ebene ist, auf der heute noch demokratische Prozesse und Überreste des Sozialstaates bewahrt werden können.
Daher gibt es keinen Grund, sich dem neuen "Nationalismus der kleinen Völker" hinzugeben, der in der Hauptsache ein Separatismus der Reichen, ein Egoismus lokaler Eliten ist, die ihre Ressourcen nicht für eine Umverteilung an ärmere Regionen "opfern" mögen. Aus genau diesem Grund sollte man sich nicht vor dem Gespenst des rechten Nationalismus erschrecken, sondern eine progressive, linke Agenda auf Grundlage von Souveränität, Demokratie und Sozialstaatlichkeit formulieren.
Der Erfolg des Front National in Frankreich lässt sich zu aller erst damit erklären, dass die Linken ihre Wählerschaft und ihre Ideen verraten haben, während die Interessen der Massen, die sie früher verteidigt hatten, das Entscheidende sind. Und wenn der gemeine Wähler (einschließlich der Masse an Franzosen arabischer und afrikanischer Herkunft) sieht, dass diese Interessen heute einzig von Marine Le Pen zumindest irgendwie anerkannt werden, dann ist das eine noch nie dagewesene Schande für die Linken.
Rezipieren wir die russische Linke zu wenig? Und wie gut rezipiert die russische Linke die nicht-russische Linke?
Boris Kagarlitzki: Das Problem liegt nicht darin, dass man im Westen die russischen Linken schlecht versteht. Das Problem liegt darin, dass sie dort die russische Gesellschaft nicht sehen. Die städtische Intelligenzija in Moskau und Petersburg hat sich damit versündigt. Was die Übersetzung und die Lektüre modischer Büchlein aus dem Westen und das Verfolgen der Nachrichten aus Westeuropa angeht, so ist bei uns alles in Ordnung.
Was wünschst du dir für das nächste Jahr?
Boris Kagarlitzki: Versuchen wir, zu überleben und stärker zu werden.
Wer ist der größere Trunkenbold: Jelzin in den 90ern oder der leibhaftige Poroschenko?
Boris Kagarlitzki: Jelzin war blau, Poroschenko dagegen Grauen erregend.