Die tägliche Dosis Desinformation

Von Medienseuchen und Medienkampagnen: Wie Journalisten Aufregung verordnen

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Hätten wir je von BSE erfahren, wenn die Seuche just am 12. September auf den Tisch gekommen wäre? Mit der Ausnahme von Vegetariern hätte sich in diesem Fall wohl kaum ein Mensch Gedanken um verseuchten Rinderbraten gemacht, sagt Wolf Schneider. "Allein das Konzert der vereinigten Journalisten hat das Thema BSE an die Spitze der Berichterstattung gesetzt." Für den altgedienten Medienmacher war die Rinderseuche eine reine Medienseuche und ein Paradebeispiel für die "nackte Not der Journalisten, Ereignisse aufzublasen und Trends zu erfinden." Ein Zeichen für die Macht der Medien, unsere Aufmerksamkeit zu binden, oder für die Ohnmacht des von vermeintlichen Leitmagazinen und Presseagenturen getriebenen Nachrichtenkarussels?

Wolf Schneider ist ein nach außen konvertierter Insider der Branche. Jahrelang war der braungebrannte Sunnyboy mit dem schlohweißen Haar und seinen sprachkritischen Anwandlungen als Verlagsleiter des "Stern", als Chefredakteur der "Welt" oder als Moderator der "NDR-Talkshow" selbst damit beschäftigt, pro Ausgabe oder Sendung mindestens einen Trend oder einen Skandal zu produzieren. Heute sitzt er auf seiner Finca in Mallorca, erinnert sich an seine Zeiten als Leiter der Hamburger Journalistenschule zurück und darf seine alte Zunft kritisieren, ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Wenn die "Welt" in diesen Tagen schreibt, dass Schröder nach der Wahl in Sachsen-Anhalt "kneift", so darf er darin den "Verfall der klassischen angelsächsischen Sitte" sehen, "über Freund und Feind unparteiisch zu berichten" oder "mit Liebe Standpunkte vorzutragen". Und die nutzlosen Medienkampagnen geißeln, mit denen die Blatt- und TV-Macher unsere Zeit verschwenden.

Seine aktiven Kollegen bereitet der zum Schaf gewandelte Wolf mit seiner Schelte zwar nicht gerade schlaflose Nächte. Aber ein wenig Rechtfertigungsdruck generieren seine Vorwürfe in Punkto Desinformation und Machtmissbrauch doch, wie auf einem Symposium zur "Macht der Medien" Anfang der Woche in Berlin deutlich wurde. Eine Absprache oder gar eine Verschwörung unter den Medien, BSE in aller Breite aufzugreifen, habe es zwar nicht gegeben, waren sich die Nachrichtenchefs von TV-Sendern und Presseagenturen sowie Medienforscher einig. Von einer gewissen "Hysterie" nicht nur im Fall BSE will Claus Larass, Vorstand Information und Nachrichten der ProSieben Sat1 Media AG, "die Medien aber nicht freisprechen." Nicht zu berichten kann die Alternative für den langjährigen Chefredakteur der Bild-Zeitung jedoch nicht heißen. "Das würde doch bedeuten, Problemfälle in der Bevölkerung nicht aufzugreifen."

Echte inhaltliche Medienkampagnen mit einer politischen Zielsetzung gehören in Deutschland bislang nicht zur Tagesordnung, glaubt Larass. Aber das kann sich ja ändern, wenn sich Rupert Murdoch stärker in Deutschland engagiert, bei dem sich schon Tony Blair seines Rückhalts versicherte. Bei Bild habe man Kampagnen zu seiner Zeit zumindest "selten oder gar nicht" betrieben, so Larass. Eine solche Strategie gehe nicht auf, weil die Leser oder Zuschauer sonst ausblieben. Beim Benzinpreis oder ähnlichen Themen hätte Bild zwar schon mal eingreifen müssen. Aber persönliche Kampagnen für oder gegen Politiker und Prominente? "Da gehören immer zwei dazu", weiß Larass. "Die Mehrzahl in Politik und Wirtschaft lebt vernünftig, sie wird nicht betroffen." Die Form der Medienerscheinung hänge davon ab, "wie man sich selber verhält." Wer ein "normales Leben" führe, habe nichts zu befürchten.

Oft seien es "falsche journalistische Routine oder Dummheit", aber kein Machtmissbrauch, die zu Stürmen in der Medienglaskugel führen, ergänzt Bernd Ziesemer. Der Chefredakteur des Handelsblatts will die Existenz eines gewissen Kampagnenjournalismus zwar nicht verleugnen. Dahinter sieht er aber in der Regel keine verlegerische Agenda. "Oft steckt der Ehrgeiz einzelner Journalisten dahinter", sagt der Blattmacher. Es gebe viele Kollegen, "die davon träumen, mal einen Minister zu stürzen." Das sei jedoch ein falsches Berufsbild und bringe die Branche in den Verruf, mit von oben angeordneten Kampagnen zu arbeiten.

Gibt es den Willen zur Macht bei den Nachrichtenchefs und Verlegern also gar nicht? "Reine Koketterie", versuchte Klaus Kocks, ehemaliger Kommunikationschef der Öffentlichkeitsarbeit der Volkswagen AG, seine Gegenüber in Berlin aus der Reserve zu locken. "Wir wollen Macht haben", stellte Larass denn auch klar. "Das gehört doch in der Demokratie zum Spiel dazu."