Die unglaubliche Reise eines verrückten Supertankers

Seite 2: Die Fahrt der Grace 1 war nicht völkerrechtswidrig, ihre Kaperung schon

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Doch von Beginn an gab es Zweifel an dieser Geschichte: Wie kann ein iranisches Schiff gegen Sanktionen verstoßen, die dem Wesen nach das Verhältnis zwischen EU-Staaten und Syrien bestimmen sollen? Warum sollte die Grace 1 eigenständig ihre in internationalen Gewässern liegenden Fahrrinne verlassen haben und abseits ihres eigentlichen Kurses die Küste Gibraltars angesteuert haben?

Wieso hatte Gibraltar noch einen Tag vor der Kaperung der Grace 1 eine Verordnung geändert, die die Beschlagnahmung des Tankers nach nationalem Recht erst ermöglichte? Und wieso hatte es in den sieben Jahren, in denen das EU-Öl-Embargo bereits bestand, keinen einzigen Versuch gegeben, einen der Dutzenden iranischen Tanker mit Kurs auf Syrien festzusetzen?

Dass die Geschichte von der völkerrechtlich legitimierten Schiffskaperung nicht so ganz stimmen kann, erklärten nicht nur iranische Politiker umgehend. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam kürzlich zu diesem Ergebnis.

In einem Gutachten erklärten die Wissenschaftler: Nicht die Fahrt der Grace 1, sondern ihre Festsetzung war völkerrechtswidrig. Selbst für den Fall, dass sich der Tanker eigenständig in britische Wässer begab - wie es die britische Regierung behauptet, die Iraner aber abstreiten -, untersage das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen eine Behinderung der freien Fahrt des Tankers.

Auch die Anwendbarkeit der EU-Sanktionen dementieren die Gutachter. Ihrer Einschätzung zufolge habe Iran aufgrund der Festsetzung sogar das Recht, den UN-Sicherheitsrat anzurufen oder Schadenersatzansprüche gegenüber dem Vereinigten Königreich geltend zu machen.

Das Unglaubliche an der Reise begann schon lange vor dem 4. August

Es ist unwahrscheinlich, dass die Behörden Gibraltars, die täglich mit der Durchfahrt von Hunderten Frachtschiffen zu tun haben, die eindeutigen Festlegungen des Seerechts nicht gekannt haben, als sie am 4. August die Festsetzung der Grace 1 anordneten. Und vieles deutet daraufhin, dass das Unglaubliche an der Reise des Tankers nicht an diesem Tag, sondern schon Monate vorher begann.

Die echte Geschichte von der Kaperung der Grace 1 beginnt wahrscheinlich nicht im August 2019 vor der Küste Gibraltars, sondern im Oktober 2018 im Oval Office des Weißen Hauses. Als Teil seiner Kampagne des "Maximalen Drucks" gab US-Präsident Donald Trump damals bekannt, die Sanktionen gegen Iran erneut ausweiten zu wollen. Von den amerikanischen Strafmaßnahmen betroffen waren von nun an auch sämtliche iranische Industriegüter, inklusive Frachtschiffe.

Die Folgen bekommen iranische Schiffe überall auf den Weltmeeren zu spüren. Versicherungsunternehmen weigern sich von nun an, Policen an iranische Tanker zu verkaufen. Werften verweigern ihnen die Reparatur, ausländische Häfen verweigern das Auftanken. Andere Frachtschiffe landeten gleich ganz auf der Terrorliste der USA: Elf iranische Tanker und ihre Besatzungen hat die US-Regierung bis heute mit eigenen Sanktionen belegt.

Schon lange bevor es die Grace 1 in internationale Schlagzeilen schafft, bekommt auch sie die Folgen dieser Politik zu spüren. Bereits am 29. Mai hatte Panama, unter dessen Flagge die Grace 1 seit 2013 fuhr, dem Schiff seine Flagge entzogen. Die Behörden des Landes erklärten, das Schiff stünde im Zusammenhang mit der Finanzierung terroristischer Gruppen.

Woher sie diese Information hatten, erklärten Panamas Behörden zwar nicht. Doch zuvor war bekannt geworden, dass die USA Panama Strafen angedroht hatten, sollte es den 59 iranischen Schiffen, die unter der Flagge des Landes fuhren, diese nicht entziehen.

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