Digitale Chartastimmung

Seite 3: Wer wird den Job des Wahrheitsministeriums übernehmen?

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Verhindern nämlich, hochgeschätzte Chartologinnen und Chartologen, geht nur mit Zensur. Genauer: technischer Zensurinfrastruktur. Also dem Dingens, das laut (1) nicht stattfinden soll. Und es wäre technisch relativ einfach, auf der Kontrollebene allerdings nur mit einem aufgeblähten Beamtenapparat zu realisieren. Nennen wir ihn ruhig "Wahrheitsministerium".

Ein Blick auf die Türkei, manch osteuropäisches Land oder vielleicht eine USA, in der nach dem Willen des obersten Pussygrabbers das Verbrennen der Flagge mit einem Jahr Gefängnis geahndet werden soll, müsste eigentlich Erkenntnisprozesse auslösen. Oder ein Blick in die deutschen Geschichtsbücher, in denen unter den Augen und Ohren von Gestapo wie Stasi Gedankenverbrechen nicht artikuliert werden durften.

Unterstellt, der Staat installierte wirklich einen Tugendwächterrat: Was, liebe Chartologen, passiert denn wohl, wenn man im Netz die Meinungsfreiheit einschränkt? Richtig: Die Leute äußern ihre Meinung anonym - und sie werden Wege finden, das zu tun. Und wer sich erst einmal hinter der Maske der Anonymität verbirgt, lässt ungehemmt die Sau raus. Das war schon bei den Göttern in der griechische Mythologie so, die unsichtbar über die Erde der Menschen wandelten. Es sei denn, man möchte Anonymität im Netz verhindern. Nähere Auskünfte hierzu erteilt Zensursula von der Leyen, die nunmehr auch eine Cyber-Streitmacht kommandiert.

Besonders weltfremd ist die Anmaßung der Zeit-Geister, sogar eine Regulierung des gesamten europäischen Rechtsraums zu formulieren. Denn sowohl Befindlichkeiten wie auch Rechtstradition sind national unterschiedlich ausgestaltet. Das Libel Law der brexierenden Briten, bei denen selbst der Bericht über ein Verbot verboten wird, oder etwa religiös geprägte Verbote, erscheinen verzichtbar.

Solcherlei Erkenntnisleistung hätte man bei so manchem Namen, der sich auf der Liste von Deutschlands Super-Intellektuellen findet, eigentlich als Selbstverständlichkeit erwarten dürfen. Weiß eigentlich der Verfassungsschutz schon Bescheid, dass hier jemand Art. 5 GG kaputt machen möchte? Oops, Interessenkonflikt: Das wäre dann nämlich wohl die Behörde, die den Job des Wahrheitsministeriums bekommt. "Dienstleister der Demokratie" nennen die sich.

Nachhilfe gibt es in ersten Kommentaren hier:

Medienanwälte machten sich überwiegend auf Twitter Luft: Art. 5 Digitalcharta schützt nicht die Meinungsfreiheit, sondern zerstört sie - Ein Frontalangriff aufs Grundgesetz, Gruselig unjuristische "Verfassung" verbreiten und in FAQs vernichtende Kritik von Juristen als "Mäkelei" kleinreden - Passt., Rechtlich von unsystematisch bis gefährlich unbestimmt / folgenblind, Heiße Luft, Ich glaube (und hoffe sehr!) viele Unterstützer der #digitalcharta verstehen gar nicht worauf diese abzielt.

Tldr: Textbasierte Kommunikation im Internet ist kein Ponyhof. Für komplizierte juristische Fragen bieten nur Knalltüten einfachen Antworten. Verhindern statt Sanktionieren ist Zensur. Wer sich vor den lackierten Karren der Zensur spannen lässt, ist doof.

Disclosure: Der Autor ist Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht und vertritt sowohl meinungsfreudige Zeitgenossen als auch Menschen, die sich gegen Hass und Rufschädigung im Internet wehren.

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