Dinosauriermaschinen und die Lust am Hacken

Seite 2: Die Analytische Maschine

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Obgleich sich Babbage sehr über die Beschränkungen der Technik zur Herstellung von Zahnrädern beklagte, gab es in Wirklichkeit kein praktisches Hindernis, eine funktionierende Differenzmaschine zu bauen. Angeregt von Babbage stellte der schwedische Publizist und Erfinder Georg Scheutz schließlich zwei funktionierende Differenzmaschine fertig, die fünfzehn Ziffern und vier Reihen von Differenzen bewältigen konnten. Der großherzige Babbage war nicht neidisch, unterstützte Scheutz und half ihm dabei, seine erste Maschine an ein astronomisches Observatorium in Albany, New York, zu verkaufen.

Analytische Maschine

Der amerikanische Astronom Benjamin A. Gould berichtete 1859 von der ersten wirklichen Berechnung, die von der ersten Differenzmaschine ausgeführt wurde und die erste längere Berechnung durch eine Maschine war:

"Die rein algebraischen Probleme bei der Eingabe in die Maschine waren genauso große Probleme hinsichtlich der Zeit, der Überlegung und der Hartnäckigkeit wie das Problem, ihre mechanische Ausführung zu steuern. Doch bald war alles funktionsfähig ... und die wirkliche Anomalie des Mars wurde berechnet und in Abschnitten von einem zehntel Tag während der Kreisbahn stereotypiert (auf Papiermaché ausgedruckt); und es wurde eine hinreichend Zahl der Platten elektrisch ausgedruckt, wodurch ich davon überzeugt wurde, daß alle Schwierigkeiten überwunden worden sind. Seit dieser Zeit wurden die ekzentrische Anomalie des Mars und der Logarithmus seines Radiusvektors berechnet ... woraus eine Reihe von Tabellen entstand, durch die das Ansehen der Maschine ohne weiteres begründet werden kann."

Das klingt wahrhaft nach reiner ehrenwerter Wissenschaft. Die ekzentrische Anomalie des Mars! Wunderbar! Die zweite Differenzmaschine von Scheutz wurde, wie ich anfangs erwähnte, eingesetzt, um etwas Kommerzielleres zu berechnen: die "Englischen Lebenserwartungstabellen" von William Farr, ein Buch, das Daten von 6,5 Millionen Toten verwendete, um jährliche Renten, getrennt nach alleinstehenden und verheirateten Menschen und ihrem jeweiligen Alter, darzustellen.

Der Vorschlag von Babbbage für eine Analytische Maschine, deren Leistung die der Differenzmaschine übertrifft, war bemerkenswert. Die Beschreibung der Analytischen Maschine ist tatsächlich der allererste Entwurf für einen programmierbaren Computer, für eine Maschine also, die prinzipiell jede überhaupt mögliche Berechnung ausführen konnte. Sie sollte über ein "Rechenwerk" (mill) verfügen, das aufeinanderfolgende Additionen wie die Differenzmaschine ausführte und auch einen "Speicher" besaß, der als eine Art Schmierpapier diente: als Kurzzeitgedächtnis für temporäre Variablen, die bei der Berechnung gebraucht werden. Neu an der Idee war, daß die Operationen des Rechenwerks von einem benutzerdefinierten Programm gesteuert werden sollten. Und wie hatte Babbage vor, die Programme in die Analytische Maschine einzugeben? Mittels Lochkarten!

Auch wenn wir Lochkarten mit IBM und Großrechnern verbinden, so wurden sie zuerst bei französischen Webstühlen benutzt. Erfunden wurden sie von Joseph Marie Jacquard im Jahr 1801. Indem man ein Webmuster als eine Serie von Karten codierte, konnte ein "Jacquard-Webstuhl" dasselbe Muster immer wieder weben, ohne daß ein Mensch das Muster lesen und die Fäden auf dem Webstuhl einfädeln mußte. Babbage selbst besaß ein gewebtes Portrait von Jacquard, das von einem Webstuhl unter Verwendung von 24000 Lochkarten hergestellt wurde.

Eine der weitsichtigsten Unterstützerinnen der Analytischen Maschine von Babbage war die junge Ada Byron , die Tochter des berühmten Dichters, die sie auf bemerkenswerte Weise beschrieb.

"Die herausragende Eigenschaft der Analytischen Maschine, die es ermöglichte, einen Mechanismus erfolgreich mit solch großen Fähigkeiten auszustatten, daß diese Maschine zur ausführenden rechten Hand der abstrakten Algebra wird, ist die Einführung des Prinzips, das Jacquard mit Hilfe von Lochkarten für das Weben der kompliziertesten Mustern bei der Herstellung von Brokatstoffen entwickelt hat. ... Wir können völlig zutreffend sagen, daß die Analytische Maschine auf dieselbe Weise algebraische Muster webt, wie der Jacquard-Webstuhl Blumen und Blätter webt."

In Wirklichkeit wurde die Analytische Maschine niemals gebaut, doch die Idee war ein Meilenstein. 1991 veröffentlichten die SF-Autoren William Gibson und Bruce Sterling eine faszinierende Erzählung mit dem Titel "The Difference Machine", in der sie sich vorstellen, wie das viktorianische England gewesen sein könnte, wenn Babbage Erfolg gehabt hätte. (Das Buch geht in Wirklichkeit über Analytische Maschinen und nicht über Differenzmaschinen.) Ebenso wie unsere Computer von Computerhackern gebraucht werden, werden die Analytischen Maschinen von Gibson und Sterling von "Clackers" bedient. Es folgt die Beschreibung eines Besuchs des zentralen statistischen Amts in dem London, wie es dann hätte gewesen sein können.

"Hinter dem Glas zeichnete sich eine riesige Halle von turmhohen Maschinen ab, von so vielen, daß Mallory zuerst dachte, die Wände müssten wie ein Saal für einen Maskenball mit Spiegeln versehen sein. Es war wie ein Blendwerk auf einem Volksfest, das das Auge täuschen sollte - die riesigen gleichförmigen Maschinen, uhrenähnliche Gebilde mit kompliziert verbundenen Messingstangen, die an einem Ende so groß wie Eisenbahnwaggons waren und alle auf ihren fußdick gepolsterten Blöcken standen. Die weiß gestrichene Decke, die sich 10 Meter darüber wölbte, wurde von sich drehenden Flaschenzugseilen belebt, und das weiter unten befindliche Getriebe bezog seine Energie von gewaltig lärmenden Schwungrädern, die an eisernen Säulen befestigt waren. Weißgekleidete Clacker, die vor den Maschinen winzig erschienen, schritten durch die makellos sauberen Gänge. Ihr Haar war von weißen Wickelhauben bedeckt, ihre Münder und Nasen waren hinter weißen Gazequadraten verborgen."

In der Welt des Buches "Die Differenzmaschine" kann man eine Lochkarte eingeben, die mit der Beschreibung eines Menschen codiert ist, und die Maschinen des zentralen statistischen Amts geben eine "Zusammenstellung von punktförmig gedruckten Maschinenportraits" der möglicherweise Verdächtigten aus.

Hermann Hollerith und IBM

In unserer Welt begann niemand vor dem Ende des 18. Jahrhunderts Lochkarten für einen anderen Zweck als zur Steuerung von Jacquard-Webstühlen zu verwenden. Erst Herman Hollerith kam auf die Idee, Lochkarten zur Organisierung der Daten für die amerikanische Volkszählung einzusetzen. Er entwarf Maschinen für die tabellarische Darstellung von Daten auf Lochkarten und eine Reihe verschiedenartiger Mittel, um die Daten zu verarbeiten. 1890 erhielt er den Vertrag für die Volkszählung und wurden seine Maschinen in dem Gebäude für die Volkszählung in Washington, D. C., aufgebaut. Angestellte übertrugen die geschriebenen Zählungsdaten auf Lochkarten und gaben diese in die Tabulatoren ein. Diese arbeiteten so, daß sie Nadeln auf die Karten fallen ließen. Wo eine Nadel durchgehen konnte, traf sie auf eine kleines Schälchen mit Quecksilber, wodurch ein Stromkreis geschlossen und ein Zahnrad eines uhrenähnlichen Zählmechanismus in Bewegung gesetzt wurde, der dem der Pascaline ähnlich war.

Die Arbeit war ziemlich monoton, und einer der Angestellten erinnerte sich später:

"Die Mechaniker kamen oft ..., um die empfindlichen Maschinen wieder funktionsfähig zu machen. Die Störung wurde normalerweise dadurch verursacht, daß jemand das Quecksilber aus einer der kleinen Schälchen mit einer Pipette ausgesaugt und in einen Spucknapf gespritzt hatte, um eine zusätzliche Ruhepause zu erhalten."

Holleriths Firma kam später unter die Führung von Thomas J. Watson, eines scharf kalkulierenden Geschäftsmannes, der mit Registrierkassen handelte und ein paar Jahre später den Firmennamen der Computing-Tabulating-Recording Company zu International Business Machines, abgekürzt IBM, veränderte.

Auch wenn die Lochartenleser funktionierten, erforderte der Bau von Maschinen wie der Analytischen Maschine noch eine Technik für das, was Babbage als den "Speicher" bezeichnete, also ein leicht zugängliches Kurzzeitgedächtnis, das die Maschine als Schmierpapier auf die Weise verwenden kann, wie wir Zwischenergebnisse niederschreiben, wenn wir mit der Hand eine Multiplikation oder eine lange Division ausführen. Heute sind wir natürlich mit der Idee vertraut, Daten auf integrierten Chips - unserem RAM - abzuspeichern und uns darum nicht kümmern zu müssen. Doch wie schufen die ersten Computerbauer einen schnell zugänglichen Speicher?