Disney-Militär-Komplex: Europas Identitätskrise made in USA

Zahnräder EU USA Flaggen

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EU muss zwischen US-Militarismus und Sozialvertrag wählen. Ist Entspannungspolitik mit Russland noch möglich? Ein Kampf um Europas Seele. Gastbeitrag.

Es ist nun schon viele Jahre her, dass die Franzosen, ihnen gebührt dafür großer Dank, aufbegehrten, als Disneyland Paris in der Nähe des bis dahin unbesiedelten Dorfes Marne-la-Vallée-Chessy entstand.

Import amerikanischer "Kultur"

Bald darauf entstanden das Disney Hôtel New York, das Disney Hôtel Santa Fe, das Disney Hôtel Cheyenne, der Disney Newport Club, die Disney Sequoia Lodge, Disney Village, Parc Disneyland, Parc Walt Disney Studios. Unter diesen Monumenten der Amerikanisierung Europas darf Star Wars Hypersonic Mountain nicht fehlen.

Patrick Lawrence ist Auslandskorrespondent u.a. der International Herald Tribune und Buchautor.

Den Import amerikanischer "Kultur" zu blockieren – und man sollte das in Anführungszeichen setzen – ist angesichts der Misserfolge eines der edelmütigsten Unterfangen der Welt. Aber den Kampf gegen die Infantilisierung des europäischen Empfindungsvermögens zu verlieren, scheint im Moment die geringste Sorge des Kontinents zu sein.

Die irrationale Russophobie, der Stellvertreterkrieg in der Ukraine, die Störung der natürlichen Stellung des Kontinents als Westflanke Eurasiens, die aus dem Nichts heraufbeschworene "Bedrohung" durch russischen Expansionismus, die Unterstützung der israelischen Belagerung des Gazastreifens: Auch das sind Importe aus den USA, und Europa befindet sich dadurch in einer Krise.

Europa fragt sich: Wer sind wir?

Wer sind wir, fragen sich die Europäer nun auf die eine oder andere Weise. Was haben wir aus uns gemacht? Sind wir wirklich nicht mehr als die gehorsamen Untergebenen der USA, die jeden Befehl annehmen und keinen verweigern? Was ist aus uns im 21. Jahrhundert geworden?

Die europäische Sozialdemokratie in ihren verschiedenen Formen ist seit vielen Jahren den Angriffen der Marktfundamentalisten und neokonservativen Ideologen ausgesetzt. Jetzt beginnen die Apostel des "wilden Kapitalismus", wie seine lateinamerikanischen Opfer ihn nennen, und ihre kriegstreibenden Geschwister, diesmal im Namen eines Zweiten Kalten Krieges, einen Angriff zu starten, der ihr letzter sein könnte.

Seit der Mitte des Kalten Krieges schwankt Europa zwischen zwei widersprüchlichen Impulsen – dem Bestehen auf Souveränität und dem Nachgeben in würdeloser Abhängigkeit von der US-Macht. Charles de Gaulle war der letzte europäische Führer, der mit Überzeugung für die Unabhängigkeit und Autonomie des Kontinents eintrat.

Aber der Gaullismus ist heute nicht mehr als ein schwaches und fernes Licht in Europa. Ich komme nur widerstrebend zu dem Schluss, dass der Kontinent in der Stunde der Wahrheit eine unkluge Entscheidung treffen wird, eine Art Selbstverurteilung, die noch Jahrzehnte wirken könnte.

Die Kluft wird größer

Eine seit Langem offensichtliche Kluft zwischen den Europäern und denen, die vorgeben, sie zu führen, vergrößert sich nun. Erstere verteidigen das, was von dem sozial fortschrittlichen Staat übrig geblieben ist, der in den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten überall auf dem Kontinent errichtet wurde.

Letztere sind bereit, ihn einzureißen, um eine Version des militärisch-industriellen Komplexes der USA zu importieren, so wie der Walt Disney Company das Dornröschenschloss an den Stadtrand der französischen Hauptstadt pflanzte.

"Europas Staats- und Regierungschefs sind aufgewacht", lautet die Überschrift eines Kommentars, den Janan Ganesh, ein Kolumnist der Financial Times, letzte Woche zu diesem Thema veröffentlichte. "Um so viel zu militarisieren, wie es nötig ist", schrieb er, "muss Europa seinen Bürgern höhere Steuern oder einen kleineren Sozialstaat zumuten."

Das ist bitterböse formuliert. Europas führende Politiker und die Medien, die ihnen dienen, sind dabei, die "Notwendigkeit" zu normalisieren, Europa in eine Ansammlung kriegerischer Staaten nach amerikanischem Vorbild zu verwandeln – durchdrungen von Feindseligkeit und Paranoia, bedrängt von "Bedrohungen", nie zur Ruhe kommend, während das soziale Gefüge zerfällt.

Identitätskrise

Eine akute Identitätskrise – und das ist der Kern der gegenwärtigen Unordnung in Europa – rollt wie eine große, schwarze Bowlingkugel über den Kontinent, seit, so meine Einschätzung, die USA zu erkennen begannen, dass Wladimir Putin als russischer Präsident anders agiert als sein fügsamer Vorgänger. Das ist in letzter Zeit immer offensichtlicher geworden, wie ich schon vor einem Jahr feststellte.

"Haubitzen statt Krankenhäuser", so formulierte die New York Times damals den Fall. Auch hier ist die Aussage erschreckend zutreffend.

Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass die Entscheidung, vor der Europa steht, seitdem noch gravierender geworden ist.

Erstens ist der Krieg in der Ukraine verloren und Amerikas Begeisterung für die Kiewer Führung hat eindeutig nachgelassen. Damit wird Europa der Schlamassel überlassen, den es vor seiner Haustür nun in den Griff bekommen muss, während die USA, wie es ihre Gewohnheit ist, weiterziehen.