Disney-Militär-Komplex: Europas Identitätskrise made in USA

Seite 2: Eine künstliche Debatte

Aus diesem Grund hat sich die Europäische Union vor zwei Monaten verpflichtet, der Ukraine in den nächsten vier Jahren 50 Milliarden Euro an "zuverlässiger und planbarer finanzieller Unterstützung" zukommen zu lassen.

Zweitens hat Donald Trump die Diskussion über eine Nordatlantikpakt-Organisation ohne die USA oder den Zerfall der Nato neu entfacht. Ersteres ist eine logische Unmöglichkeit: Ist die Nato mehr als ein Instrument Washingtons zur Machtprojektion über den Atlantik?

Und die positive Aussicht auf ein Leben ohne die Nato ist bedauerlicherweise nicht einmal mittelfristig denkbar. Die Diskussion über das Wohin der Nato hat die europäischen Staats- und Regierungschefs dennoch zum Nachdenken veranlasst – es scheint zumindest so.

Emmanuel Macron rückt nicht von seiner im letzten Monat gemachten Aussage ab, Europa müsse bereit sein, Bodentruppen an die ukrainische Front zu schicken – und das trotz heftiger Einwände gegen die Position des französischen Präsidenten.

Paradoxie europäischer Realpolitik

Macron, der einen de Gaulle-Komplex pflegt, gibt vor, für ein unabhängigeres Europa einzutreten, wenn er solche Dinge sagt, und es gibt Leute, die ihm das abkaufen. "Wenn wir Friedenswächter in der Welt sein wollen", sagte Antonio Tajani, Italiens Außenminister, vor einigen Monaten in einem Interview mit La Stampa, "brauchen wir ein europäisches Militär".

Ich halte diese Art für oberflächlich. Josep Borrell, Chef der EU-Außenpolitik mit dem Hang zu klaren Worten, kam direkt zur Sache, als er vor zwei Monaten in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz "die vier Hauptaufgaben auf der geopolitischen Agenda der EU" skizzierte.

Die Zweite davon war, ja, die "Stärkung unserer Verteidigung und Sicherheit". Die Vierte war "diese Bemühungen in Zusammenarbeit mit wichtigen Partnern, insbesondere den USA, fortzusetzen".

Ich hielt Borrells Thesen, als ich seine Bemerkungen erstmals in External Action, einer Online-Publikation der EU, las, für unauflösbar paradox. Wenn ich darüber nachdenke, scheint er einfach ein Mann mit einer unverblümten Realpolitik zu sein: Europa kann sich bewaffnen, soviel es will. Die derzeitigen politischen Entscheidungsträger werden den Kontinent als abhängiges Anhängsel des US-Imperiums bewahren.

Wachsende Unzufriedenheit der Europäer

Es ist nicht schwer, die Unzufriedenheit der Europäer über die Richtung, die die Entscheider in den europäischen Hauptstädten und in Brüssel festlegen, wahrzunehmen. Die einfachen Bürger haben den grundsätzlichen Wunsch, alle Feindseligkeiten des Kalten Krieges abzulegen und einfach und unkompliziert als Europäer zu leben.

Umfragen zeigen, dass ein großer Teil der Befragten den USA nicht vertraut. Diese Umfragen zeigen auch ein ähnliches Misstrauen gegenüber "Putin".

Aber diese Haltung spiegelt den Einfluss der Meinungsmache in den großen europäischen Medien wider, die den russischen Präsidenten unaufhörlich dämonisieren. Man versteht sich in Europa dabei als westliche Flanke der eurasischen Landmasse, was verbunden ist mit einer wechselseitigen Abhängigkeit mit Russland.

Die deutschsprachige Zeitschrift Zeit-Fragen (in französischer und englischer Sprache als Horizons et débats und Current Concerns) zitierte kürzlich Egon Bahr, einen ehemaligen deutschen Minister und eine Schlüsselfigur bei der Gestaltung der Ostpolitik der Bundesrepublik, zu diesem Thema.

Was Egon Bahr zu sagen hatte

"Unsere Selbstbestimmung steht neben und nicht gegen Amerika", sagte Bahr. "[Aber] wir können Russland nicht aufgeben, weil es Amerika nicht gefällt."

Bahr sprach vor sechs Jahren auf dem Deutsch-Russischen Forum in Berlin. Die Zeit-Fragen-Redaktion macht deutlich, dass die Rede immer noch nachhallt, weil die Mehrheit der Deutschen – und ein beträchtlicher Teil der anderen Europäer – eine Rückkehr zu der Annäherung an Russland befürworten, die die USA den Europäern mehr oder weniger aufgezwungen haben, aufzugeben.

"Wer glaubt, dass die Wähler der Wiederaufrüstung Vorrang einräumen werden?", fragte Janan Ganesh letzte Woche in seiner FT-Kolumne.

Es deutet wenig darauf hin, dass die Wähler bereit sind, einen Bruch des Sozialvertrags zu akzeptieren, um aufzurüsten.

Historische Bedeutung der Gegenwart

Ich hoffe, dass Ganesh mit dieser Beobachtung richtig liegt. Während die Europäer versuchen, wiederzuentdecken, wer sie sind, kann die historische Bedeutung dieses Moments kaum überschätzt werden.

Das Beste, worauf man jetzt hoffen kann, ist eine mitreißende Konfrontation zwischen den Verteidigern eines Europas für Europäer und denen, die eine Version des militarisierten Monsters vorantreiben, das vor langer Zeit Amerika überrollte.

Barrikaden, blockierte Autobahnen, gelbe Westen, besetzte Ministerien: Wie wir in den 1960er-Jahren zu sagen pflegten: "Let it happen, Cap'n", "Packen wir es an". Es wird ein Kampf sein, der es wert ist, um die Seele des Kontinents geführt zu werden.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem Magazin Brave New Europe. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Patrick Lawrence ist langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die International Herald Tribune, Medienkritiker, Essayist, Autor und Dozent. Sein jüngstes Buch heißt "Time No Longer: Americans After the American Century".