Dominatrix von Wien

Seite 2: Die kriminelle Karriere der Frau Kadivec

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Frau Cadvé hatte auch schon Ärger wegen Urkundenfälschung und Manipulationen am Meldezettel gehabt. Sie gab sich gern als Tochter eines Engländers und einer Französin aus sowie als verwitwete Baronin (den Baron hatte es gegeben, aber sie konnte keine Heiratsurkunde vorweisen). Tatsächlich war ihr Vater Bahnbeamter gewesen, und sie war 1879 im slowenischen Teil von Istrien zur Welt gekommen. In Wirklichkeit hieß sie Kadivec (sprich: Kadiwets). In ihren autobiographischen Schriften behauptet sie, dass es richtig „Cadivec“ heißen müsse und dass der Name auf bretonische Vorfahren zurückgehe, weshalb er Kadivek ausgesprochen werde. Das hat sie wohl erfunden.

Von 1894 bis 1898 besuchte Edith Kadivec in Graz die Lehrerbildungsanstalt der Ursulinen. Danach war sie ein Jahr lang als Privatlehrerin in einer Wiener Familie tätig, um anschließend im Lycée de filles von Nôtre Dame zu arbeiten. Neben ihren Aufgaben an dieser katholischen Mädchenschule – es gab da Peitschen und ein „Bestrafungszimmer“ - fand sie (nach eigenen Angaben) noch Zeit, Philosophie-Vorlesungen an der Universität von Paris zu hören. In Wien ließ sie sich wegen eines Nervenleidens behandeln. Dabei lernte sie den masochistisch veranlagten Grafen Franz Schlick kennen, mit dem sie einen Sommer im Forsthaus seines Landguts verbrachte. Danach war sie schwanger. Das uneheliche Kind, Edith, wurde 1910 in Brüssel geboren. Nach einem Aufenthalt in Paris kehrte Edith Kadivec mit ihrer Tochter Ende 1915 nach Wien zurück. Dort ging sie als irgendwie französische „Baronin“ durch, weil sie gebildet war und ein als „vornehm“ (= herrisch) empfundenes Wesen hatte.

In der Inneren Stadt von Wien (Biberstraße 9) mietete Frau Cadvé mit Hilfe reicher Gönner eine große Atelierwohnung. Dort eröffnete sie am 1. Februar 1916 eine „Privatschule für moderne Sprachen“. Auch in Wien spürte man inzwischen die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs. Schlechter hätten die Zeiten für eine solche Schulgründung kaum sein können. Trotzdem erfreute sich das Etablissement bald eines regen Zulaufs. Die Baronin unterrichtete nicht nur Kinder. Bei ihr gingen auch viele zahlungskräftige Herren (und mindestens eine Dame) der Wiener Gesellschaft ein und aus. In den Tageszeitungen erschienen regelmäßig Inserate der Frau Cadvé, die als „strenge Sprachlehrerin“ Kurse anbot. Das war ein Code, den die Masochisten von Wien bestens verstanden. Einige Sadisten waren wohl auch dabei.

Masturbierende Masochisten: Wiener Therapieangebote

Es ist nicht immer leicht, den Masochismus vom Sadismus zu trennen (identifiziert sich jemand, der gern beim Prügeln zusieht, mit dem Täter oder mit dem Opfer?). Das stellte auch Sigmund Freud fest, der zur selben Zeit versuchte, das Problem analytisch in den Griff zu kriegen. „Die Phantasievorstellung: ‚ein Kind wird geschlagen’, notiert Freud am Anfang seiner wichtigsten Schrift zum Masochismus „Ein Kind wird geschlagen“, erstmals im Sommer 1919 erschienen, „wird mit überraschender Häufigkeit von Personen eingestanden, die wegen einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die analytische Behandlung aufgesucht haben. … Auf der Höhe der vorgestellten Situation setzt sich fast regelmäßig eine onanistische Befriedigung (an den Genitalien also) durch …“. Freud geht davon aus, dass das, was er in seiner Praxis erlebt, nur die Spitze des Eisbergs ist, dass sich nur wenige wegen ihrer Phantasievorstellung in ärztliche Behandlung begeben: „Es ist recht wahrscheinlich, daß sie noch öfter bei anderen vorkommt, die nicht durch manifeste Erkrankung zu diesem Entschluß genötigt worden sind.“ Eine andere Form der „Therapie“ bot Madame de Cadvé an. Ihre Herangehensweise, bei der die Phantasievorstellungen in die Tat umgesetzt wurden, zog offenbar deutlich mehr Klienten an als jene des Dr. Freud.

Es sei daran erinnert, dass der erotische Flagellantismus einmal – als Mittel gegen Impotenz und zur Steigerung des sexuellen Begehrens - in hohem Ansehen gestanden hat. Man kann das nachlesen in den Schriften von Ärzten wie Johann Heinrich Meibom (Die Nützlichkeit der Geißelhiebe in den Vergnügungen der Ehe, 1639) oder François Amédée Doppet (Das Geißeln und seine Einwirkung auf den Geschlechtstrieb, oder das äußerliche Aphrodisiacum, 1788). Durch die von der Kirche ausgesprochene Verdammung des Körpers verkam diese einst lustbetonte Beigabe des Liebesaktes zur Strafaktion. Je mehr man aber glaubte, das Triebleben durch ein ausgeklügeltes System von Schlägen niederkämpfen zu können, desto weniger wollte man die Schläge missen. So brach sich der Trieb, nun pervertiert, wieder Bahn. Die Flagellation ersetzte die nicht erlaubte Sexualität (siehe dazu die von Michael Farin herausgegebene Textsammlung Lust am Schmerz, München 1991, in der auch die Schriften von Meibom und Doppet enthalten sind).

Gegen die Vergnügungen im Salon der Edith Kadivec wäre nichts zu sagen, wenn es sich dabei um eine tabuisierte Variante der Sexualität gehandelt hätte, die von Erwachsenen in gegenseitigem Einverständnis praktiziert wird. Aber die Baronin hatte sich auf das „Züchtigen“ von Kindern spezialisiert. Es war sogar noch schlimmer: Der Großteil der Schülerinnen und Schüler stammte aus armen Familien. Die Kadivec und ihre Gönner konnten sich so als Wohltäter gerieren und wählten doch nur Opfer aus, von denen sie (zurecht) glaubten, dass sie sich an ihnen am leichtesten vergehen konnten. Und ihr Mündel Gretl Pilz hatte sie mit Hilfe eines Augenarztes namens Bachstez (alias Stieglitz) für geistig zurückgeblieben erklären lassen. Dadurch konnte sie das Mädchen zuhause „unterrichten“, statt sie auf eine öffentliche Schule zu schicken.

Razzia im Sprachinstitut

Am 3. Januar 1924 durchsuchte die Polizei die „Sprachschule“ in der Biberstraße. Dabei wurde eine Sammlung mit Schlagutensilien und anderen sexuellen Hilfsmitteln gefunden (darunter eine Lederpeitsche mit Silbergriff, in den das Wort „Dominatrix“ eingraviert war). Vor einigen Jahren übrigens hat sich Graz, damals „europäische Kulturhauptstadt“, dazu durchgerungen, Leopold von Sacher-Masoch (er hat in Graz studiert, gelehrt und lange Zeit gewohnt) mit einer großen Ausstellung zu ehren: „Phantom der Lust“. Dadurch wurde anerkannt, dass der nach dem Autor der Venus im Pelz benannte Masochismus ein Teil unserer Kultur ist. In einer Vitrine waren allerlei sexuelle (und inzwischen reichlich verschrumpelte) Hilfsmittel zu sehen, die sich einmal im Besitz der Edith Kadivec befunden haben. Diese Dame wurde immerhin in Graz zur Lehrerin ausgebildet (der Fall ist, wie gesagt, voller Symbolik). Aber das nur nebenbei.

Die Polizei entdeckte außerdem ein Tagebuch; Briefe mit sadistischen und/oder masochistischen Inhalten; und ein Kassenbuch, in dem die Kadivec ihre Einnahmen verzeichnet hatte. Man konnte nun eine Kundenliste erstellen. Die Klienten waren honorige Persönlichkeiten der Wiener Gesellschaft: der Sohn eines ehemaligen Finanzministers, ein ehemaliger Staatssekretär, ein Großgrundbesitzer, ein populärer Burgschauspieler, einige Industrielle oder deren Söhne, ein Universitätsprofessor usw.

Jeder von uns hat wahrscheinlich irgendwann gesagt bekommen, dass es sich bei der Sexualität um etwas Schmutziges handelt. Nicht alle erholen sich von den Folgen solcher Fehlinformationen. Vielleicht führt das zu jener Badezimmererotik (die Reinigung ist da schon mit dabei), die, so scheint es, in den 1920ern besonders beliebt gewesen ist. Als Hitler wegen Hochverrats vor Gericht stand, waren viele Zuschauerinnen von seinem mannhaften Auftreten so beeindruckt, dass sie sich ihm gern unterwerfen wollten. Einige baten, ihm dadurch huldigen zu dürfen, dass sie in seiner Badewanne ein Bad nahmen (das berühmte Photo mit Lee Miller, die sich nach dem Einmarsch der US-Truppen in München zum Einseifen in die Hitlersche Badewanne setzte, wirkt da wie ein Exorzismus).

Lee Miller in Hitlers Badewanne, 30. April 1945

Auch Edith Kadivec war eine Anhängerin der Badewannenerotik. Allerdings brauchte sie für ihre Reinigungsspiele ein Kind. Sie badete mit ihrer inzwischen 13-jährigen Tochter, die nach intensiver (und bestimmt wenig feinfühliger) Befragung zugab, dass es dabei zu Küssen im Intimbereich gekommen sei. Im Polizeibericht heißt es außerdem: „In den Wohnräumen der Lehrerin Kadivec sind die Wände mit Bildern geschmückt, welche die Mutter mit einem nackten Mädchen – angeblich ihre Tochter – in den verschiedensten Stellungen, wo bei dem Kinde immer der Geschlechtsteil zu sehen ist, darstellen!“ In diesem Ambiente also trafen sich die Honoratioren von Wien. Von der Justiz wurden sie später als im Grunde harmlose Masochisten eingestuft, weshalb sie alle sehr glimpflich davonkamen.

„Sexuell nicht normal“

„Ich bin (masochistisch) sadistisch veranlagt …“, steht in einem von „Edith Cadve“ unterzeichneten Vernehmungsprotokoll; „ich fühle sexuell nicht normal.“ Nur: Welcher Vergehen sollte man sie anklagen? Bereits die Voruntersuchung löste einen regelrechten Pressekrieg aus. Von der totalen Vorverurteilung bis zur Verteidigung einer „neuen sexuellen Freiheit“ war alles zu finden. Populisten reagierten so, wie wir das aus unseren Tagen kennen: sie lokalisierten das Böse irgendwo im Ausland. Dafür plädierte auch die Polizei. In ihrem Bericht hieß es: „Die … Ausschreitungen sadistischer Art können mit Recht als eine aus dem Westen eingeschleppte Seuche bezeichnet werden, die in letzter Konsequenz zum Lustmord führen muß, sowie als Degenerationserscheinungen einer durch die Nachkriegszeit zusammengebrochenen Moral.“

Der „Westen“ – das war der Kriegsgegner Frankreich, gegen den man dummerweise verloren hatte. Nun war Madame Cadvé keine Französin, vielmehr machte man ihr zum Vorwurf, dass sie sich als solche ausgegeben hatte, aber wenigstens hatte sie mal in Paris gelebt und Französischunterricht gegeben. Sie war auch keine – sagen wir – Türkin, aber doch immerhin in einem Ort in Istrien zur Welt gekommen, der nicht mehr zu Österreich gehörte. Die Behörden hätten sie liebend gern dorthin abgeschoben, mussten aber zugeben, dass sie eindeutig die österreichische Staatsbürgerschaft besaß. Die Angeklagte gehörte zur selben Denkschule. Gretl Pilz, die wichtigste Belastungszeugin, stammte aus Böhmen. Madame Cadvé trat dafür ein, sie dorthin zurückzubringen und die ganze Sache dadurch aus der Welt zu schaffen.

Der „Sadistenprozess“ im Wiener Landesgericht begann damit, dass die Öffentlichkeit noch vor der Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen wurde. Umso erregter wurde in den Zeitungen darüber spekuliert, was im „Prügeltheater in der Biberstraße“ genau geschehen sei. Die dadurch angestoßene Phantasietätigkeit der Publizisten sagt mehr über den Zeitgeist als so manche wissenschaftliche Studie. Der Darstellung der Frau Cadvé nach (so nannte sie sich weiterhin) war nichts passiert, was über das gesetzlich garantierte Züchtigungsrecht hinausging: sie habe die Kinder nur bestraft, wenn sie ihre Vokabeln nicht richtig gelernt hatten; die dabei zuschauenden (und jetzt gegen sie aussagenden) Herren seien bezahlte Agenten einer vom Vater ihres Kindes gegen sie angezettelten Verschwörung. Der Richter brachte sie jedoch zu der Aussage, dass sie „nur dann erotisch empfinden könne, wenn Kinder in ihrer Gegenwart bestraft würden“. Als nicht strafmildernd bewertete das Gericht ihre Versicherung, dass sie immer erst im Anschluss an die Züchtigung zum Orgasmus gelangt sei und nie im Beisein der Zöglinge.